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Ulf Annel
Die Rechte liegen beim Autor / Erstdruck in Thüringer Allgemeine / Thüringische Landeszeitung vom 24.4.2020.
Es handelt sich hier weder um den Hamburger Otto-Versand (eine Nachkriegsgründung, 1949) noch um Otto Waalkes, auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass der mindestens schon 150 Jahre im Lachgeschäft tätig ist. Zwei Generationen vor dem lustigen Springteufel Otto W. gab es nämlich schon einen Komiker gleichen Vornamens, wie Waalkes ein deutscher Superstar, als der Begriff noch nicht gebräuchlich war. Der Mann nannte sich Otto Reutter, ein Kleinkünstler, der große Häuser füllte, der zeitweilig Honorare einstrich wie kein zweiter Varieté- oder Cabaret-Künstler seiner Zeit.
Dieser Otto Reutter wurde am 24. April 1870 in Gardelegen geboren und zwar in der so genannten »Kernstadt« der heute drittgrößten Stadt Deutschlands (diese verrückte Information muss man mal googeln). Zu Reutters Geburt ein verschlafenes Ackerbürgerörtchen, stinknormal im schlimmsten zu riechenden Sinn. Nur die dort stationierten Soldaten brachten etwas Geld und Leben nach Gardelegen, darunter der aus Breitenbach im Thüringer Eichsfeld stammende Andreas Pfützenreuter. Der brachte es auch noch zur Heirat mit der Wirtstochter Emilie Fischer und zu mehreren Kindern, sonst zu so gut wie nichts.
Der Erstgeborene war der später berühmte Otto. Aus den sehr ärmlichen Gardelegener Familienverhältnissen wollte dieser Friedrich Otto August Pfützenreuter schon früh ausbrechen. Aber sein Vater zwang ihn noch zu einer Kaufmannslehre, allerdings ließ sich Otto auch nicht von Lehrherren in Worbis und Leinefelde ans Heringsfass ketten. Verbürgt ist eine sehr kurze Lehrzeit beim Kolonialwarenhändler Friedrich Heine, die ihr Ende fand, als Otto mit Sektflaschen jonglierte und dabei einer Kundin zwei Schneidezähne ausschlug.
Er, der schon als kleiner Bub seine manisch-depressive Mutter mit selbst ausgedachten Geschichten und gereimten Lustigkeiten aufzumuntern versuchte, er wollte unbedingt ans Theater, aber er landete ziemlich schnell als Unterhaltungskünstler in Wein- und Bierlokalen. Er sah fesch aus, konnte gut singen und er schrieb die Texte für seine Soloauftritte selbst. In Zeitungsannoncen versprach er jedem Geld, der nachweise, dass er nicht selbstverfasste Sachen bringe. Eher war es umgekehrt: Viele Kleinkünstler konnten nicht nachweisen, dass das, was sie vortrugen, nicht von ihm gestohlen war. Reutter hat wohl mehr als einen hinter die Bühne gezerrt und seine rechtmäßige Tantieme verlangt.
Komiker hatten um 1900 clownesk angezogen zu sein, waren bunt geschminkt und zogen übertriebene Grimassen. Der Salonkomiker Otto Reutter stellte sich in smarter Abendgarderobe einfach mittig an die Bühnenkante, verließ sich auf seinen treuherzigen, leicht dümmlichen Blick und den Pointenreichtum seiner Couplets. Von diesen Mehrstrophenliedern mit der wiederkehrenden Schlusszeile dürfte Reutter bis zu seinem Tod fast tausend geschrieben haben. Tagesaktuell entstanden dauernd neue Strophen. Bis heute bekannt und immer wieder gesungen werden u. a. »In 50 Jahren ist alles vorbei«, »Gräme dich nicht«, »Der gewissenhafte Maurer« und natürlich das großartige Lied »Der Überzieher«.
Rund 400 Couplets sind auf Schellackplatte erhalten geblieben oder als Text-Noten-Drucke. Die oft mit aufwendigen Titelbildern gestalteten Drucke erschienen größtenteils im Danner-Verlag Mühlhausen/Thüringen.
Der Künstler Otto Reutter ließ allerdings den wahren Otto Pfützenreuter verschwinden. Nicht durch Verschweigen biografischer Details, sondern mittels Flutung der Öffentlichkeit mit erlogenen Geschichten, Schnurren und vermeintlichen Anekdoten. Und Reutter verbarg möglichst seine Frauen, seine Geliebten, seine Privatreisen nach Paris. Er, der selbsternannte König des Varietés, zog über Kollegen her, wollte aber selbst kein Spottthema sein. Lustig auf der Bühne, privat oft ein ziemlicher Widerling. Die verleugnete Thüringer Verwandt- und Bekanntschaft zeigte ihm deswegen bei Besuchen die kalte Schulter.
Reutter schaffte es, viele gut bezahlte Privatauftritte zu verheimlichen, darunter mehrere kaiserliche Termine, die er überängstlich und untertänigst, aber voller Stolz absolvierte. Ein deutscher Michel, ein Hurra-Schreier als der 1.Weltkrieg begann, leiser erst, als sein einziger Sohn Opfer dieses Krieges wurde. Aber selbst als die Todesnachricht kam, ging Reutter auf die Bühne. Er verlor in der nachfolgenden Inflation ein Millionenvermögen, aber nie seinen Optimismus. Statt widerwillig geplantem Ruhestand also wieder Bühne, neue Couplets, Engagements in ganz Deutschland bis zum Todeskampf in Düsseldorf. Reutter wollte nicht abtreten.
Der kleine, zuletzt recht fette, Kerl hat versucht, auf seinen Künstlerpostkarten dünner und faltenfreier auszusehen. Er ließ sein Abbild ordentlich retuschieren. Mit dem Denkmal, das ihm seine Heimatstadt Gardelegen gespendet hat, wäre er sicher einverstanden gewesen: recht groß, relativ schlank, ein gutsituierter Lebemann mit Melone, Spazierstock, im Mund einen dicken Zigarrenstummel und natürlich mit – Überzieher.
Abb.: Aufnahme eines unbekannten Fotografen, Autogrammpostkarte um 1910-1925 / Provenienz: Bundesarchiv Berlin, Bild 183-S70565.
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