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Jens-F. Dwars
Thüringer Literaturrat e.V.
Jens‑F. Dwars
Das Vergangene ist nie tot
Erinnerung an den Jenaer Autor Stefan Schoblocher
Arbeit an der Erinnerung ist der Beruf des Schriftstellers. Stefan Schoblocher, der unter dem Namen Raile mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben hat, nahm diesen Beruf als Berufung, als einen Auftrag: „Das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen.“ Diesen Satz von William Faulkner stellte er als Motto seinem Erzählband „Dachträume“ voran, seinem ersten Versuch von 1996, sich den Erinnerungen an seine Vertreibung aus dem Dorf Vaskút, am Rande der Puszta, zu stellen. Man kann nur ahnen, was es bedeutet, wenn ein Kind mit zehn Jahren erlebt, wie seine Familie ihr Haus verlassen muss und nur mitnehmen kann, was es in einer einzigen Stunde in einen Koffer zu packen vermag. Stefan Schoblocher hat diesen Schock in seinen Romanen verabeitet. Aus der Perspektive des Kindes berichtet er, wie die Deutschen, die 200 Jahre zuvor von Maria Theresia aus Schwaben nach Ungarn gerufen worden waren, nach 1945 den Telepes weichen mussten, Siedlern ungarischer Herkunft, die ihrerseits aus der Slowakei vertrieben wurden. Was sie verloren, war ein Kosmos lebendiger Beziehungen: die Dinge des Alltags, die Dorfbewohner mit ihren Geschichten, ihre ganz eigene Sprache – all das begann in seinen Erinnerungen zu leuchten.
Unvergessen bleibt mir eine Wanderung, die wir vor 14 Jahren unternahmen. Wir fanden es absurd, die Schlacht von Jena uns Auerstedt mit Feiern zu begehen, und gingen stattdessen zu Fuß über die Felder nach Apolda, auf uralten Flurwegen vorbei an verkrüppelten Bäumen, und es schien uns, als erzähle der Wind von denen, die einst die Erde mit ihrem Blut tränkten.
Ein Echo dieser Stimmen trat in seinem letzten Roman zutage: selbst schon von Krankheit gezeichnet, nahm er sich des Schicksals von Johanna Bleschke an, einer Autorin, die 1894 in Jena geboren wurde und unter dem Namen Rahel Sanzara zu Weltruhm gelangte, doch schon mit 41 Jahren an Krebs verstarb. Stefan Schoblocher unternahm das Wagnis, die Geschichte dieser lebenshungrigen Frau von ihrem Ende her zu erzählen, als fiktive Autobiografie der Erzählerin, die unter Schmerzen, doch ohne Selbstmitleid Bilanz zieht. 2016 erschien der Roman unter dem Titel „Alles oder Nichts“, dem Lebensmotto Rahel Sanzaras, die alles mit Leidenschaft tat. Etwas von dieser Leidenschaft loderte auch in dem Autor, doch gebremst, gezügelt durch den Schock des frühen Herausgerissenwerdens, der Verpflanzung an Orte, an denen er nie wirklich Wurzeln fassen konnte. Vielleicht zog es ihn deshalb in die Literatur, die sich eine Welt aus Worten erbaut. Stefan Schoblocher starb, mit 82 Jahren, am 1. März. Seine Bücher bleiben.
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