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Jens Kirsten
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
»Ich bin immer hier und nie ganz da gewesen«
Zum Tod des Lyriker Andreas Koziol
Ein Nachruf von Jens Kirsten
Sein letzter Gedichtband ist noch unveröffentlicht. Am 16. Mai starb der Dichter Andreas Koziol in Berlin. Gemeinsam mit Lutz Seiler, dem Koziol das Manuskript anvertraut hatte, versuchte ich im vergangenen Herbst dessen Veröffentlichung auf den Weg zu bringen, da mich die Gedichte Koziols berührten. Weil hier einer über Dinge wie Entfremdung, Nähe, Liebe, Sehnsucht, Verlorensein sprach und die Zerrissenheit gesellschaftlicher Verhältnisse überzeugend in poetische Sprache übersetzte.
Andreas Koziol war mir zum ersten Mal 1991 in einem der von Gerhard Wolf im Aufbau-Verlag herausgegebenen »Außer der Reihe«-Bände aufgefallen. »Mehr über Rauten und Türme« erschien als einer der letzten Gedichtbände in dieser Reihe. Was hier von Gerhard Wolf begonnen worden war, hatte auf dem wiedervereinigten Buchmarkt keine Chance. Koziols Band, der heute antiquarisch nicht mehr zu bekommen ist, fiel bei seinem Erscheinen unmittelbar in die Ramschkisten, da der Platz in den Buchhandlungen für die Titel von den Bestsellerlisten gebraucht wurde.
Andreas Koziol wurde 1957 in Suhl geboren, lebte später in Zella-Mehlis. Wie so viele, die studieren wollten, nahm er es auf sich, den verhassten Armeedienst abzuleisten, um so zum Studium zugelassen zu werden. Andreas Koziol studierte Theologie in Naumburg und Berlin. Da er sich nicht zum Priesteramt berufen fühlte, arbeitete er dann als Briefträger, Totengräber und Heizer. Die Arbeit in diesen Berufen waren Ausweis seiner Nonkonformität und ein Empfehlungsschreiben für den Kreis der Poeten und Künstler, die sich im heruntergelumperten Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg suchten und fanden.
Der von Uwe Warnke und Ingeborg Quaas 2009 herausgegebene Band »Die Addition der Differenzen« über die Literatur- und Künstlerszene am Prenzlauer Berg traf mit seinem Titel, der einem Gedicht von Andreas Koziol entnommen ist, ins Schwarze. All jenen, die sich in dieser Szene versammelten, ging es darum, sich von der erdrückenden Bevormundung im totalitären Staat zu befreien – nach innen und außen – und ihre eigene Stimme zu finden. Für Koziol, dessen Vater Offizier beim Ministerium für Staatssicherheit war, ein doppelter Befreiungsschritt, den er mit Weggefährten und Freunden wie Jan Faktor, Uwe Kolbe, Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring, Ulrich Zieger und vielen mehr ging. Zwischen 1985 und 1987 legte Koziol drei Gedichtbände vor, die als Künstlerbücher mit Michael Voges, Raja Lubinetzki und Thomas Ranft erschienen. 1990, als es möglich wurde, nicht nur in Kleinauflagen von bis zu 99 Exemplaren in Samisdat-Künstlerzeitschriften und ‑büchern zu publizieren, gründete er mit Sascha Anderson, Rainer Schedlinski, Henryk Gericke, Egmont Hessen, Klaus Michael und Joerg Wagner das Druckhaus Galrev.
1991 erschien hier sein Gedichtband »Bestiarium literaricum« mit Übermalungen der Künstlerin Cornelia Schleime und 1996 der Gedichtband »Sammlung. Gedichte, Legenden, Travestien«. In den folgenden Jahren legte er weitere Bände vor, die jedoch immer in kleineren und kleinsten Verlagen erschienen. Daneben schrieb er viel für die Literatur- und Kunstzeitschrift »Herzattacke«. Zahlreiche seiner Gedichte der letzten zwanzig Jahre blieben unveröffentlicht.
Die maßlose Enttäuschung über den Verrat von Anderson und Schedlinski, die die Szene im Auftrag der Staatssicherheit ausspionierten, ihre vorgespielten Ideale und ihre Freunde verrieten, trieb Koziol nach dem Fall der Mauer in eine neuerliche innere Emigration. Gebrannt von dem einen System, lehnte er es vehement ab, sich dem neuen anzudienen. Die Paradoxie steckt in der Art der gewonnenen Freiheit: dass sie mit neuen Zwängen einherging. Diese Haltung ist nicht ohne die Wunden zu begreifen, die das alte System schlug.
Dem Namen Andreas Koziol begegnete ich wieder, als ich 2009 einen Text zum 40. Todestag des Dichters Uwe Greßmann schrieb. Den Band »Schilda-Komplex«, ein lyrisches Fragment über die Grotesken des DDR-Alltags in den sechziger Jahren, mit Faksimile-Drucken von Greßmanns Manuskripten und Zeichnungen von Christine Schlegel, gab Andreas Koziol 1998 bei Galrev heraus. Die darin abgebildeten Handschriften Greßmanns lassen erahnen, welch mühsames Unterfangen die Entzifferung seiner Schrift für Koziol war.
Mit Andreas Koziol verlieren wir einen Dichter, der sich nicht an die Mechanismen des Marktes anpassen wollte. Mit ihm verlieren wir eine unverwechselbare, ganz eigene lyrische Stimme. Wir verlieren einen, der bis zuletzt gegen den literarischen Strom standhielt, indem er schrieb und nicht verstummte. Andreas Koziols letzter Gedichtband, der den Titel »Menschenkunde« trägt, wartet auf seine Veröffentlichung.
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