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Wilhelm von Humboldt / Johann Michael Möller
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 14.11.2015.
Im kleinen Raum von Erfurts reichen Auen
bis, wo aus Schwarzburgs engem Fichtentale,
sich lieblich windend, rauschend strömt die Saale,
vermocht ich wohl mein keimend Glück zu schauen.
Ich sah den Morgen dort des Lebens grauen,
wenn Morgen heißet, wenn zum ersten Male
hernieder aus der Liebe goldner Schale
dem Geist des tiefen Sinnes Perlen tauen.
Denn die der Kranz des Dichterpreises schmückte,
die beiden strahlverwandten Zwillingssterne,
die spät noch glänzen in der Zukunft Ferne,‹
in Freundesnähe mir das Schicksal rückte,
da Bande, die die Liebe süß gewoben,
empor mich, wie auf lichter Wolke, hoben.
aus: W. v. H. Werke, Bd. 9, hg. Albert Leitzmann, Berlin 1912.
Glückliche Jahre waren es, die Wilhelm von Humboldt mit Erfurt verband. Dort hatte er in Caroline von Dacheröden die Frau fürs Leben gefunden; dort verbrachte er auf den Landgütern des Schwiegervaters unbeschwerte Jahre eines jungen Privatgelehrten; dort lebte er im Strahlkreis der großen Weimarer; und von dort war er dem Brieffreund Schiller schließlich nach Jena gefolgt im gemeinsamen Ringen um einen Begriff des sentimentalen, des modernen Dichters.
Vier Jahrzehnte später und nach dem Tod seiner geliebten Frau Caroline, den er nicht verwindet, sitzt Wilhelm von Humboldt alt und krank im Tegeler Schloss der Familie im nördlichen Berlin und denkt an die Stadt mit den vielen hohen Türmen zurück, die ihm einst, wann immer er sich ihr näherte »ein Gegenstand des Entzückens« war.
In der Erinnerung erscheinen ihm die Erfurter Jahre als der »Morgen des Glückes«, und er diktiert – vermutlich im November 1832 – das vorliegende Sonett seinem vertrauten Sekretär, wie er dies allabendlich bis zu seinem Tod zu tun pflegte: nicht anhaltend, in einem Fluss und fast ohne jede Änderung. Es trägt die Nummer 678 von insgesamt 1183 dieser sogenannten Alterssonette, die zu einem endlosen Selbstgespräch (Ernst Osterkamp) werden und nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren.
»Morgen des Glückes« ist Humboldts Rückblick auf eine frühe Phase seines Lebens, wo sich im überschaubaren Raum der Thüringer Landschaft alles auf das Glücklichste zu fügen schien: Jugend und Natur, Liebe und Freundschaft, Anfang und Vollendung – ein Morgen, der eigentlich schon vollkommen war und den ganzen Lebensentwurf bereits in sich barg. Humboldt blickt ohne Alterswehmut auf ihn zurück, empfindet weder eigene noch historische Vergänglichkeit. Dieser Morgen bleibt ihm gegenwärtiges Glück. Wie anders, wie wehmütig erinnert sich wenige Jahre später der romantische Eichendorff an seine Studentenjahre in Halle an der Saale, wo ihm der Giebichenstein zum Sinnbild verflossener Jugend und vergangener Zeiten wird. Denn nimmer, so schreibt er, sah ich »die Welt so schön«.
Humboldts Morgenglück erscheint dagegen ein letztes Mal als idealer, als zeitloser Bildungsentwurf. Mit dem Tod des »bedeutendsten Juniorpartners der deutschen Klassik« (Ernst Osterkamp) endet diese Epoche. Danach wird alles Geschichte.
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