Person
Thema
Peter Neumann / Jens Kirsten
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 03.02.2017.
da sitzen wir beide nun also
und warten, ein bus kommt, sitzen
wir beide, im bus, da sitzen
wir beide, während der andere schon
weg ist zum zug: halle, schkopau,
leuna, hier zieht das ganze deutsche mittelalter
wieder auf, pforten, von fackeln
umleuchtet, die feuertürme einer alten
stadt, ich mach dir ein leichentuch
aus dem bettlaken dort auf der leine,
bevor die wilde jagd durch die wäsche
fährt und sie zerreißt, die toten
tage: von hier an gibt es kein zurück,
der blick dringt unaufhaltsam vor
bis zu den dingen, da sind die berge, die talgründe,
die saale, ein licht, das unbeweglich
durch die felder geht, und die häuser ansteckt,
kerze für kerze, siehst du da drüben
die gärten, diese schönen deutschen gärten,
die äpfel, die ich schäle, sind uns
noch immer vorausgelaufen, wie schwer
wiegen die arme der pappeln
(Erstdruck)
Bereits im Titel von Peter Neumanns Gedicht »earthporn« schwingt mit, dass seine poetische Landschaft eine von zahlreichen Bedeutungen überlagerte ist. Earthporn steht jugendsprachlich für »schöne Landschaft«. Der ursprüngliche Naturzustand lässt sich in der von Menschenhand oft bis zur Unkenntlichkeit bearbeiteten Welt nur noch als historisches Flimmern erahnen. Weithin leuchten stattdessen die »Feuertürme einer alten Stadt«. Ironisch paraphrasiert der Dichter so die Abgasschlote der Fabrikanlagen,
die gleich Kastellen in der zersiedelten Landschaft thronen.
Der Blick auf das wieder aufgezogene Mittelalter nimmt en passant Bezug auf die Stadt Halle als einstigen mittelalterlichen Handelsplatz an der Salzstraße. Die Nennung von Schkopau und Leuna evoziert das Bild der geschichtsbefrachteten Region, die im 20. Jahrhundert stark von Industriekomplexen geprägt wurde, die für Zwangsarbeit im Nationalsozialismus steht und die weit über ein halbes Jahrhundert erfolgte Umweltzerstörung. Nicht zuletzt steht das Land auch für die Hoffnungslosigkeit der alten und jungen Generationen nach dem Scheitern der sozialistischen Utopie.
Auf die von der Gesellschaft Zurückgelassenen nehmen »die toten Tage« der Gegenwart Bezug. Die Tristesse des Alltags wird aber nicht zum Stagnationspunkt, sondern der Dichter öffnet den Blick, in dem er ihn auf die Berge, die Talgründe und die Saale lenkt.
Die Perspektive, die er damit eröffnet, richtet sich auf die inzwischen nachgewachsene Generation. Junge Menschen, die sich mit der Vereinnahmung der Landschaft, die pars pro toto für Klima, Globalisierung, Politik und Gesellschaft steht, nicht länger abfinden, sondern eine neue Vermessung ihrer Welt vornehmen. Damit erteilt er unausgesprochen all jenen eine Absage, die aus der Resignation Ressentiments und falschen Patriotismus wachsen lassen. Die Freude, die sich beim Lesen dieses Gedichts einstellt, hat vor allem damit zu tun, dass Peter Neumann seine Lesern Spielraum lässt, das Gedicht zur Reflexion über all diese Dinge zu nutzen.
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