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Maik Lippert / Roland Bärwinkel
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 26.11.2016.
meine geheimen geburtstage
beim einsteigen fiebere ich
dem plärrgesang der schaffnerin entgegen
preise durch verlesen von ankunftzeiten & anschlüssen
meine uniformierte liebe
halb cello halb zerfahrene fanfare
verstimmtes kurorchester
mit eingeschränktem liedrepertoire
vom unvorhergesehenen zwischenhalt
am bahnhof großheringen
wie sie uns in den gehörgang fährt
die kunstkopfgesellschaft in den abteilen
aus der starre unter kopfhörern weckt
blazer monaden schmollmünder setzt
katastrophe
sturz ins bermudadreieck provinz
zetern sie hinter glas
während ich heimkehre
für zwanzig minuten unter fachwerkgiebeln
im metropolis der mauersegler
aus: im rauchglas des himmels über dem gewerbegebiet, Edition Thaleia, St. Ingbert 2006.
Im Gedichtband des 1966 geborenen Autors finden sich etliche Variationen auf das Reisen mit dem Zug. Eine Art der Bewegung, in der sich der Fahrende in eine Abhängigkeit von Mensch und Maschine begibt, in der zugleich jede eigene Verantwortung für die Fortbewegung entfällt. Temporär verfügbare Zeit, vielfältig zu verbringen, zu überbrücken. Hinzu gesellt sich auch eine Herausforderung durch den großen Feind Langeweile. Man ist ein Stück ausgeliefert und abgeschnitten, wie erst an einem so sensiblen Tag der Fahrplanumstellung. Doch man hat ein Ziel vor den Augen. Auf einem Raum ist Zeit abzusitzen, der jede Distanzzone aufhebt. Meistens mit Fremden, nicht freiwillig gewählten Nachbarn. Eine Art künstlicher Schutzraum kann es werden vor den Zumutungen des Lebens. Nicht jeder wird gerne dort ankommen, wohin ihn die Reise führt. Manchem wird die Zeit zu lang, mancher wird es als Erleichterung ansehen, fortgefahren zu sein. Ein Terrain für Dämonen, Tagträume, Ängste, auch Vorfreude und Euphorie. Vor 20 Jahren, aus dieser Zeit stammt das Gedicht, hieß das weibliche Zugbegleitpersonal Schaffnerin. Gleich zu Beginn des Gedichtes verkehrte Welt: Der Fahrgast übernimmt ungefragt einen Teil der Aufgabe und Funktion der Uniformierten, hebelt Hierarchien aus, unterläuft anarchisch Erwartungshaltungen. Dies geschieht, so behauptet das lyrische Ich, einzig um seiner Liebe passend zum Plärrgesang der Schaffnerin Ausdruck zu verleihen. Feiert es sich nicht auch selbst? In die abgeschottete Hörwelt Vereinzelter bricht plötzlich ein unvorhergesehener Zwischenhalt herein. Das Unerwartete gebiert Schrecken und Verwirrung, man sieht sie vor sich, die aus der Erregung wachsende zeitlich limitierte Verbrüderung. Großheringen mit seinem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt, ein Niemandsort. Schutzlos ist man in eine Sahelzone thüringischer Provinz abgestellt. Der Titel entfaltet im Gedicht seine herrliche Mehrdeutigkeit. Wer jedoch wie das lyrische Ich diesen Ort begreift, tankt so etwas wie Heimat auf. Aus Kleinfahner bei Erfurt stammt der Autor. Bei Enzensberger heißt es: „lies die Fahrpläne: / sie sind genauer“.
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