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Thomas Spaniel
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Meine Urgroßeltern waren Tabakspinner. Nachdem ihr Lebenstraum, ein Fachwerkhaus, 1896 errichtet war, mußten sie sofort die meisten Zimmer vermieten, um die entstandene finanzielle Last tragen zu können. Sie selbst bewohnten nur drei kleine Räume zusammen mit ihren zwei Töchtern. Auf einer alten Fotografie sieht man eine für die Größe des Hauses erstaunliche Anzahl von Menschen vor dem Haus stehen oder aus den Fenstern schauen. Alle blicken direkt in die Kamera. Das Haus selbst vermittelt einen alten, verschlissenen Eindruck – obwohl es gerade erst erbaut worden ist. Keine der Personen auf dem Bild lächelt.
Dieses Haus befindet sich auf der Straßenseite, die noch zu dem Dorf Salza gehört. Salza, durchflossen von der Salza, wird 802 erstmals erwähnt und am 1. Juli 1950 der Stadt Nordhausen eingemeindet. Die Grenzstraße trennte das Dorf von der Stadt. Als ich Kind war, erzählte man mir, die genaue Grenze verliefe auf der gegenüberliegenden Straßenseite (was ich bis heute nicht nachgeprüft habe). Diese Mitteilung faszinierte mich so, daß ich immer wieder über die Straße ging und sowohl auf einem als auch mit beiden Beinen vom Dorf in die Stadt sprang. Und wieder zurück.
Die Grenzstraße bestand auf der einen Seite aus einer langen Reihe Fachwerkhäuser, darunter die Nr. 6 der Tabakspinner, meinem Elternhaus. Auf der anderen Seite befanden sich einige später errichtete größere Häuser sowie kleinere Feldstücken und Gärten. Gegenüber meinem Elternhaus mündete der sogenannte Feldweg ein. Er war unbefestigt, führte in die Stadt und spuckte im Sommer, wenn Autos ihn durchquerten oder Wind aufkam, riesige Staubwolken aus. Ungefähr auf seiner Hälfte führte er an einer großen windschiefen Scheune vorbei, in der ein alter Schimmel hauste, der gelegentlich von seinem ebenfalls weißhaarigen Besitzer, einem Fleischermeister, vor einen klapprigen Wagen gespannt wurde. Es gab ein Gasthaus mit dem Namen »Eldorado«, das über einen Biergarten verfügte.
Tiefe Schlaglöcher übersäten die Straße. Fahrradfahrer mußten Höchstleistungen im Slalom vollbringen, um nicht schlimme Stürze zu riskieren. Zerbröselter Straßenbelag und Schlamm verstopften die Gullys. Schon bei kleineren Regengüssen kam es zu erheblichen Überschwemmungen der gesamten Straße; teilweise lief das Wasser unter den Hoftoren hindurch auf die Grundstücke. Diese günstigen Bedingungen ließen meine Freunde und mich zu Spezialisten für den Bau diverser, zumeist militärischer Holzboote werden. Ein besonderer Wert wurde auf filigrane und originelle Aufbauten gelegt. Bei den Wettfahrten stießen wir die Gefährte kraftvoll an, wobei das schnellste Schiff, welches sich am weitesten entfernte, gewann. Schlammige nackte Füße waren inklusive.
Eine Bahnstrecke mit Schranke querte die Straße. Die Strecke war eingleisig, das zweite Gleis den Reparationen nach dem Krieg zum Opfer gefallen. Ich wußte, daß es für die Züge eine Endstation gab, eine Grenze, nicht zu überwinden wie die zwischen Dorf und Stadt. Dennoch eilten immer wieder große Dampfloks mit kraftvollem asthmatischen Fauchen, Gebirge von weißen Wolken ausstoßend, dieser Grenze entgegen.
Gegenüber unserem Haus befand sich eine Kleingartenanlage. In den Gärten gediehen Obstbäume, Blumen und diverse Gemüse. Gras, das nicht gemäht wurde, schoß in die Höhe. Jemand hatte das ausgemusterte Bremserhäuschen eines Güterwaggons aufgestellt, um Harke, Hacke und Spaten darin einschließen zu können. Von unserem Küchenfenster aus konnte man die etwa einen Kilometer entfernte Zigarettenfabrik erblicken. Mit ihrem hohen Schornstein sah sie aus wie ein großes Schiff.
Aus den Bordsteinen waren Ecken herausgebrochen. Meine Mutter erklärte mir, daß amerikanische Panzer diese Beschädigungen mit ihren Ketten verursacht hätten. Dabei vertrat meine Mutter die Ansicht, die Soldaten hätten die mit Absicht gehandelt; aber ich hielt es für wahrscheinlicher, daß der wirkliche Grund in dem eingeschränkten Sichtfeld der Fahrer bestand. Immerhin schenkten sie meiner Mutter Schokolade. Mutter erzählte mir, wie sie sich bei einem Tieffliegerangriff hinter dem Vertiko versteckte, nachdem sie noch vorher schnell die Gardinen hatte zuziehen können, damit der Pilot sie nicht sehen sollte. Von dem Geräusch, das die Holzschuhe vorbeimarschierender Häftlinge verursachten, wußte meine Mutter auch zu berichten.
Alle Gärten verschwanden. Zäune montierte man ab, um sie woanders wieder zu errichten. Das Bremserhäuschen wurde aufgeladen, eines der Häuser gegenüber abgerissen. Einige Zeit blieb es an seinem Platz ohne Dach, ohne Fenster und Türen wie ein Rohbau, der auf seine Fertigstellung wartet. Dann verwandelte es sich in einen Berg Ziegelsteine, der schnell abtransportiert wurde. Es entstanden mehrere Reihen von Garagen, ein Autowaschplatz und aus Fertigteilen Wohnblöcke. Bereits nach kurzer Zeit konnte ich vom Küchenfenster aus sehen, wie Risse über die Betonfassaden krochen. Da war das »Eldorado« mitsamt seinem Biergarten schon unauffindbar.
An der einzigen Stelle der Straße, die keine Löcher aufwies, lernte ich Rollschuh laufen. Da ich Rollschuhe mit Metallrädern hatte, verpflichteten mich einige Anwohner mit großem Nachdruck, meine Übungen während der Mittagsruhe auszusetzen.
Meine Großmutter wurde in dem Haus geboren und starb darin. Sie wohnte nie woanders. Auch reiste sie kaum. Niemals sah sie in ihrem Leben das Meer. Meine Mutter wurde auch in dem Haus geboren. Sie sah zwar mehrfach das Meer und unternahm einige Reisen, blieb aber bis zuletzt Nichtschwimmerin. Zum Sterben mußte meine Mutter für ein paar Wochen ausziehen.
In manchen Winternächten fiel lautlos ein weißes Tuch über die Straße. Hauchte ich morgens ein Loch in die Eisblumen auf der Fensterscheibe, hatte stets schon jemand auf den Gehweg Asche gestreut. Dann ging ich mit einem Knirschen unter den Schuhsohlen zur Schule.
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