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Steffen Mensching
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Thüringen ist nicht meine Heimat. Mit dieser traurigen Gewissheit müssen wir uns abfinden. Ich könnte die Botschaft erträglicher machen, indem ich behauptete, weil ich seit vierzehn Jahren hier lebe, immerhin ein knappes Viertel meines Lebens, sei es meine Wahlheimat, aber der Begriff ist ein fauler Kompromiss. Heimat kann man nicht wählen. Man hat sie und basta. Wen diese fundamentalistisch anmutende Position schockiert, sei beruhigt, ich bezweifle nicht, dass es Orte gibt, wo man sich wohlfühlt, für die man Verantwortung übernimmt, die einem ans Herz wachsen und vertraut werden, deren Geschichte, Natur, Klima, Mentalität einem nahe ist, es ist durchaus so, dass wir Asyl suchen, einen neuen Lebensmittelpunkt begründen, uns neu verwurzeln können, nur Heimat werden diese Orte nach meinem Verständnis nicht werden. Heimat, behaupte ich, ist zwar nicht an den Geburtsort gebunden, aber an den Ort, wo man Kindheit erlebte und sprechen lernte.
Mehr noch, ich möchte sogar anzweifeln – was doch offensichtlich scheint – dass Heimat ein Ort ist. Es ist kein geografischer Begriff, nichts, das klar abgemessen und umzäunt werden kann, Heimat steht nicht im Grundbuch. Hundertausende sind für die Heimat in den Krieg gezogen und gestorben, ohne, dass sie auch nur einen Quadratzentimeter Heimatboden besessen hätten. Heimat ist ein Verhältnis, eine Beziehung, eine Aufladung, die ein Ort erfährt. Der Begriff mutet statisch an, er verändert sich nicht. Es kann sich nur um eine Einbildung handeln. Realität wandelt sich. Die konservative Qualität prädestiniert den Missbrauch der Phrase.
Es handelt es sich um eine Fügung, die es in dieser Kontur wohl nur im Deutschen gibt. In anderen Sprachen hat es der Ausdruck nicht auf die Höhe der Abstraktion geschafft, selbst das englisch-amerikanische Homeland besitzt noch Spuren von Konkretheit, im Spanischen, Italienischen, Französischen, Russischen, Holländischen, Schwedischen bleiben wir mit Patria, Pays natal, Rodina, Geboorteplaats, Hemland ganz fasslich, entweder vaterländisch-staatlich oder wohnlich, städtebaulich nachvollziehbar, am Haus, Zuhaus, Heim. Es existieren nur wenige deutsche Worte, die auf die Silbe -mat enden. Die meisten sind lateinische Ursprungs: Diplomat, Automat, Format, die DDR hat zwei Kunstworte dazugestiftet: Histmat und Diamat, was einst bedeutete: historischer oder dialektischer Materialismus.
Abgeleitet aus dem mittelhochdeutschen Heimuote, ist Heimat schon etymylogisch ein Unikum. Versucht man, sich dem circa tausend Jahre alten Wort onomatopoetisch zu nähern, also lautmalerisch, indem man seiner sinnlich-klanglichen Wirkung nachlauscht, stösst man auf einen Widerspruch. Rudolf Leonhard hat in seinem Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache auf die Weichheit des Begriffs verwiesen: »Das sehr klingt, sich weich rundet, atmend vom Hauch des H zur weich heranholenden Geste dieses t (und auf dem langen runden M ruhend), die so verschiednen, so hoch und weit angesetzten und so tief und ruhig ausklingenden Vokale umschließt.« Aber stimmt das, ist diese Beschreibung hinreichend oder sentimental gefärbt? Leonhard schrieb seinen Text im Jahr 1930, als er bereits in Frankreich, fern der Heimat, lebte.
Bevor wir uns in den politischen und historischen Debatten verlieren, bleiben wir einen Augenblick beim Klang. Hei – die erste Silbe eröffnet unzweifelhaft. In vielen Sprachen gibt es das Hi, Hey, Hallo, Schalom, eine Silbe, die nicht gesprochen werden kann, ohne, dass der Sprecher ein offenes Gesicht, die Mundhöhle, zeigt, ein offener Mund suggeriert eine offene Begegnung, der gehobene Kopf Friedefertigkeit, Entspanntheit, Transparenz. Die zweite Silbe -mat, hat zwar den weichen, atmenden Vokal A, gewährt ihm aber keine Dehnung, keinen Ausklang, sondern schließt ihn hart, streng ab, -mat das ist eine deutliche Zäsur. Wer den Klang ernst nimmt, ahnt, dass der Begriff kein einfaches Refugium anbietet, Heimat, das stellt Erwartungen aus, fordert aber auch Grenzen, Teihabe, Arbeit.
Heimat apelliert an unser Unterbewusstsein, das macht den Begriff so verführerisch. Das Gefühl lässt sich schwer rationalisieren. Heimat wird empfunden, nicht gewusst. Sobald ich nach Berlin komme und höre, dass der Bäcker das lokale Idiom im Mund führt, wenn er mir eine Schrippe vakooft, weiß ich nicht nur, wo ich mich befinde, vielmehr, ich weiß, dass ich dazugehöre, dass mich etwas mit diesem fremden Menschen verbindet, und antworte, um die Initiierung zu bestätigen, mit dem härtesten Berliner Dialekt. Ich würde so weit gehen zu behaupten, meine eigentliche Heimaterfahrung besteht in der Sprache.
»Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, / unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. / Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, / das Korn auf dem Feld /und die Vögel in der Luft / und die Tiere der Erde / und die Fische im Fluß sind die Heimat. Und wir lieben die Heimat, die schöne / und wir schützen sie, / weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.«
Das rührende Liedchen von 1951 bietet viel Natur und wenig Soziales. Heimat grenzt sich früh ab von Urbanität, Moderne, Technik einerseits und dem Topos Fremde andereseits. Der Begriff ist paradox, man kann ihn – im Sinne Ernst Blochs – als eine aus der Vergangenheit gerettete Utopie betrachten, in dem der Mensch sich frei fühlt, sicher, im Vertrauen mit anderen, sein Schicksal meistert. Diese Geborgenheit verheißt Heimat. Auf der anderen Seite, sollte man bedenken, der Rückgriff in die goldenen Kindertage bedeutet auch Sehnsucht nach Entmündigung, nach Leitung, Lenkung, Erziehung. Sich in die Kindheit zurückzuträumen, heißt, seine Selbstständigkeit freiwillig abzugeben. Insofern ist Heimat ein Rettungsanker für Feiglinge. Eine voremazipatorische Projektion, in der wir uns in einen solchen Zustand zurückträumen, geben wir die Verantwortung zurück an eine Autorität (die Eltern oder Erzieher), die sich um uns kümmern werden. aus dem Chaos der Welt, Einkehr ins Schneckenhaus der Kindheit. Seine Rückwärtsgewandtheit empfiehlt den Begriff Heimat als Werkzeug politischer Bauernfängerei.
»Wir ohne Heimat irren so verloren und sinnlos durch der Fremde Labyrinth«, schrieb Max-Hermann Neiße, der seine Heimat, er wurde in Neisse, Schlesien, geboren, sogar an seinen namen heftete. Hermann-Neiße beschrieb das Verlorensein eines deutschen Emigranten in der Zeit der nationalsozialistischen Tyrranei. Er beschrieb den Verlust, für den deutsche Rassisten und Nationalisten gesorgt hatten. Der Klagen deutscher Dichter über Heimatlosigkeit sind viele. Oft kommen die Gedanken demjenigen, der in der Fremde weilt und sich dort unheimisch fühlt. Novalis, Tieck, Heine, Eichendorff, Brenato, die Romantiker wüssten kaum, worüber sie schreiben sollten, wäre da nicht das Unbehaustsein, das sich auf zweierlei Weise einstellt, einerseits, indem Fremde erfahren wird, etwa durch Ausbürgerung, oder indem sich die eigene Umgebung derart wandelt, dass sie der Empfindsame nicht mehr als vertraut empfindet, sich nicht mehr zuhause fühlt. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.« Klarer, brutaler, hoffnungsloser als bei Wilhelm Müller kann man diese Erfahrung nicht formulieren. Der Einzelne wird zum Eremit, Nomaden, der sich selbst den Weg weisen muss in Dunkelheit und Kälte. Gibt es einen unverrückbaren Platz, der einem gehört? Wenn ja, wie definiert sich der Besitzanspruch? Gibt es die mythische Heimat, die Nietzsche behauptete?
In den frühen Tagen der Industrialisierung und Durchkapitaliserung aller Beziehungen stand Heimat als Gegenentwurf zu einer sich differenzierenden Fremde, die Raum griff, die Landschaft veränderte, die Bevölkerung, die Arbeit. Kompaktheit widerstand Diversität. Heute stellt sich die Welt, die Anti-Heimat, nicht mehr dar als Vielfalt, sondern als globalisierte Einfalt. Heimat wird als das Refugium gefeiert, dass dieser Gleichmacherei entflieht. Die Naturforscher haben – im Gegensatz zu den Sozialwissenschaftlern – mit dem Heimatbegriff weniger Probleme. Sie können klare Sätze formulieren. Wie heißt es bei Brehm so schön: »Nord und Ostsee müssen als Heimat des Schnäpels betrachtet werden«, oder: »Mittelafrika ist die Heimat des Nimmersatt.« Tiere, wenn sie uns nützen, dürfen kolonialisiert werden, auch Pflanzen, was wären wir ohne Tomaten, Kartoffeln, Kirschen, Mais, Tabak? Die Neurechten, die keinen Auftritt auslassen, um auf die tausendjährige deutsche oder abendländische Kultur zu pochen, sollten nur eine Woche lang gezwungen werden, das Zeug zu essen, das zu Zeiten Otto des Ersten auf adligen Tellern lag. Haferschleim und Steinpilze (in der Saison) und, wenn es denn gefangen wurde, etwas Wildbret. Kein Gemüse, keine Beilage.
Ich bin in Ost-Berlin groß geworden und habe eine Kindheit mit der Mauer verbracht. (Zum Irrwitz meiner Biografie gehört, dass meine erste Freundin auch noch mit Nachnamen Mauer hieß, sie kam aus einer Arbeiterfamilie, hatte Verwandtschaft im Westen und wird wohl nie erfahren haben, dass mich ihr Name und die politischen Verhältnisse, in denen wir lebten, in ein durchaus widersprüchliches Dilemma aus Anziehung und Abstoßung verwickelte.) Die Mauer war omnipräsent, wenn ich auch einige Jahre brauchte, um zu verstehen, dass Westberlin nicht auf dem Gebiet Westdeutschlands lag. Es gab immer die Welt hinter der Mauer. Auf diese Welt wollte ich nicht verzichten. Die Losung »Meine Heimat DDR« erwartete aber genau das. Sich dem zu beugen, wäre einem freiwilligen Kotau gleich gekommen. Das Wort Heimat glich einem Korsett, forderte Treue, die nicht hinterfragt werden durfte. 1988 reiste ich zu einer Konferenz nach Amiens, ich bekam ein Visum, das mir ein paar Tage Aufenthalt in Paris ermöglichte. Nach meiner Rückkehr schrieb ich einen Text, dessen Schlusspassage ich zitieren möchte.
»Als ich zu mir kam, befand ich mich über Holland, angeschnallt, eine reizende Stewardess lächelte mir zu, ich bat um einen Whisky, aber es war die Fluggesellschaft meiner Heimat und so trank ich mehrere Doppelte Apfelsäfte, die mir wieder auf die Beine halfen. Alles erschien mir wie ein Traum. War ich überhaupt in DER STADT, ich war mir nicht mehr sicher. Das Flugzeug setzte zu Landung an. SICHERHEITSGURTE. Ich kehrte also wirklich zurück. Wie würde ich es aushalten? Ich würde, auch wenn es niemand hören wollte, beichten müssen oder verrückt werden. Auf dem Flugplatz erwartete mich meine Gattin, SIE hatte sich schön gemacht, Tau blitzte ihr im Haar, oder irgendetwas; ich mag das nicht, das Geschminke, ich sage IHR immer: ›Man sieht alles immer deutlicher, so wie du das machst.‹ Jetzt verschluckte ich die Bemerkung. Sie umarmte mich, stürmisch wie ein Ringkämpfer; ich keuchte, ich war zu Hause. Ich sagte: Ich habe nur an Dich gedacht. Das war nicht die ganze Wahrheit. Aber da nahmen wir uns beide nicht viel. Man soll Gleiches nie mit gleichem vergelten, da war er wieder der alte Katechismus, der GRUNDSATZ 33, hier, wo er auf allen Transparenten, in jeder Zeitung stand, fiel mir alles wieder ein. Wozu brauchte ich ihn noch, mein Glauben hatte stark gelitten. Heinrich war in die Fremde gezogen und katholisch geworden, ich war in die Fremde gezogen und – ja, was war ich eigentlich. Wahrscheinlich war ich konvertiert, aber wohin? Meine Frau hatte Blumen mit, das Militärblasorchester, Stullen, eine Thermosflasche mit heißem Tee (gegen die Erfrierungen) und ein Dutzend Kinder, die ich noch nie gesehen hatte. Ich hatte sie nicht gezeugt, ich hatte sie nicht adoptiert, ich musste sie alle küssen und alle hatten Rotz an der Nase. So kam ich aus DER STADT in die Heimat.«
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