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Michael Helbing
Erstdruck in: Thüringer Allgemeine, 28. Juli 2022. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Gehnehmigung des Autors und der Tageszeitung »Thüringe Allgemeine«.
Menschingsche Unschärferelation
Von Michael Helbing
Steffen Menschings neuer Roman beginnt so: »Hauser hatte seine Lage im Augenblick des Erwachens durchschaut. Er steckte in einer Box.« Doch dieser Anfang ist bereits ein Ende: das aller Klarheit und Sicherheit. Fortan regiert, über 250 Seiten, die Ungewissheit.
Gewiss scheint nur so viel zu sein: Jemand musste David Hauser verraten und verkauft haben. Mit dieser Anspielung auf Josef K. hätte der Roman ebenso beginnen können, zumal ihm ein Kafka-Aphorismus vorangeht: »Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.« Nicht nur, aber auch in diesem Sinn trägt »Hausers Ausflug« deutlich kafkaeske Züge. »Schließlich«, heißt es darin, »gab es in dieser Geschichte grundsätzlich keinen Sinn.« Später hofft Hauser noch, »dass, entgegen seiner Empfindung, im Hintergrund der ganzen Geschichte doch so etwas wie Rationalität oder Kalkül wirkte.«
Nun, letztlich ist wohl beides richtig. Mensching setzt David Hauser aus Berlin in kahler Karstlandschaft aus, irgendwo im Nirgendwo des Orients; er schickt ihn dort, und uns gleich mit, auf ziemlich vergebliche Sinnsuche. Selbst die Vermutung, sein Name spiele auf Kaspar Hauser an, führt uns doch eher in die Irre.
Stattdessen führt uns dieser Roman, zwischen Robinsonade und Psychothriller, in die nähere Zukunft: Mensching verlängert und potenziert unsere aktuelle multiple Krisenlage latent dystopisch in den Herbst 2029. Wir befinden uns dort nach einer vierten Corona-Welle, die kurz, aber schmerzhaft verlief, sowie wenige Jahre nach einer nächsten großen Flüchtlingswelle.
David Hauser, Anfang Fünfzig, alleinstehend und von ostdeutscher Herkunft, mit frühem Mutterverlust und kommunistischem Schriftsteller als Vater sowie abgebrochenem Ilmenauer Ingenieurstudium in der Biografie, profitierte vom Zusammenbruch des regulären Flugverkehrs. Er ist mit einem besonderen Transportunternehmen zu Reichtum gelangt. Seit sechs Jahren fliegt es, in staatlichem Auftrag sowie in unbemannten Maschinen, tausendfach abgelehnte Asylbewerber in Aluminiumboxen aus und wirft sie darin über deren Herkunftsländern ab, mit etwas Proviant. »Man schlummert in der Auslieferungshaft ein und erwacht, ausgeruht und tatenfroh, in der Heimat«, lautet ein zynischer Euphemismus dazu.
Gleichsam nach dem Motto »Wer andern eine Grube gräbt …«hat man nun aber Hauser, wer und weshalb auch immer, selbst in eine solche Box verfrachtet, in schäbigen Klamotten und mit syrischem Pass in der Tasche. Gelandet ist er damit, wie sich sehr viel später herausstellen wird, nicht in Syrien, sondern in kurdischem Gebiet, wo Salafisten wüten. Die kriegt er aber nicht zu sehen und auch nur mittelbar zu spüren. Ein alter Mann mit Gewehr, den er für einen Schäfer hält und der über weite Strecken den Taubstummen mimt, nimmt ihn gefangen und kettet ihn an die Wand seiner »beschissenen Berghöhle« …
Dort muss der Millionär Hauser, nun ja, hausen und einen äußeren, viel mehr noch einen inneren Überlebenskampf ausfechten, während er erlebt, »wie schnell das vertraute Leben enden und sich in einen Alptraum verwandeln konnte.«
Das ist ein, wenn nicht gar der Schlüsselsatz in dieser sehr schnell sehr existenziell werdenden Geschichte von Aufstieg und buchstäblichem Fall. Weniger kommt sie genau zur richtigen Zeit als vielmehr genau aus dieser unserer Zeit: an ihr orientiert und entlang ihres jüngsten Verlaufs gewissermaßen korrigiert. Wäre dies ein Drama, man spräche von einem Zeitstück.
Drei Jahre lang hat Steffen Mensching daran geschrieben, sehr begünstigt durch die Lockdowns in der Pandemie, in denen ja auch das Theater des Rudolstädter Intendanten geschlossen blieb. Mag er auch selbst behaupten, sein Roman sei keine Allegorie, so kommt man doch schwerlich umhin, ihn auch so zu lesen. Denn mit Hauser steht hier gleichsam die westliche Konsumgesellschaft insgesamt am Abgrund, ist wie dieser: »am Arsch«.
Insofern wäre dies schon das zweite literarische Requiem dieses Jahres auf den Westen, nachdem Jakob Augstein im Januar sein Roman-Debüt »Strömung« vorlegte. »Alles, was Dir wichtig ist«, erklärt darin die Tochter dem neoliberalen Politiker Misslinger, »ist im Arsch.«
Mensching beschreibt das nüchtern und präzise, lakonisch und pointiert. Gleichwohl liest sich sein Roman streckenweise, als umfasse er über 800 Seiten, so wie sein viel und hoch gelobtes Opus Magnum, der Gulag-Roman »Schermanns Augen«, den er nach zwölf Jahren Arbeit daran 2018 vorlegte.
Zumindest äußerlich kommt »Hausers Ausflug« weitaus weniger spannungsgeladen daher als vom Verlag angepriesen. Mensching hält den Spannungsbogen nicht straff, er lässt ihn mitunter schlaff werden. Er nervt uns sehr gekonnt damit, dass Hausers Geschichte auf der Stelle tritt oder sich im Kreis dreht. Er täuscht Möglichkeiten eines Entwicklungsromans vor und macht sie konsequent zunichte. Das literarische Prinzip könnte als Menschingsche Unschärferelation gelten. Da bleibt immer etwas Unbestimmtes, in dem wir uns verfangen.
Steffen Menschings neuer Roman endet so: »Dann machte sich David Hauser auf den Weg in den Westen.« Was auch einen Neuanfang bedeuten könnte, klingt hier aber nicht so sehr nach Aufbruch.
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