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Thema
Stefan Petermann
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Ich könnte über die Schönheit des Verfalls schreiben. Ästhetisch überwuchern Schlingpflanzen menschenleere Städte. Stolze Hochhäuser verfallen betörend in Dystopien. Das herbe Brachland nach den Apokalypsen. Schön zerstört der Borkenkäfer die Bäume. Unter der Rinde gräbt er labyrinthische Gänge, frisst sich in Ornamenten durchs Holz, legt Rammelkammern und Muttergänge an. Zurück lässt er einen nicht mehr lebensfähigen Organismus, der wie ein Kunstwerk erscheint. Der Borkenkäfer heißt auch Buchdrucker, jede zerstörte Fichte eine eigene Geschichte in eigenen Zeichen.
Ich könnte nie über die Schönheit des Verfalls schreiben. Der Vorgang des Zerstörens ist brutal. Der Borkenkäfer sucht den schwachen, den trockengelegten Baum, jenen, der sich nicht wehren kann mit Harz, durchbohrt die Rinde, lockt an, legt Larven hinein. Seine Abkömmlinge fressen sich durchs Holz und zerstören die Wasseradern; der Baum stirbt, er verdurstet. Verfall ist immer Verlust.
Die S
Der Borkenkäfer begegnete mir in dem kleinen Dorf Quaschwitz. Ich traf Achim, der dort ein schmales Waldgrundstück besitzt. Hinter seinem Hof, wo die Hühner in dem selbstgezimmerten Stall verschiedenfarbige Eier legten, stapelten sich die markierten Baumstämme. Achim zeigte mir den Borkenkäferbefall an seinem Bestand. Er zeigte mir die Rinde, die Gänge und Ornamente und erzählte von der Trockenheit, der Fichte, den Monokulturen, der Wirtschaftlichkeit, den Holzpreisen.
Quaschwitz liegt im Saale-Orla-Kreis, unweit von Neustadt und Pößneck, ein Platzdorf mit geduckter Kirche und neu gebautem Gemeindehaus neben der Feuerwehr, sechzig Menschen leben an einer Straße. Einige Kilometer entfernt befand sich zu DDR-Zeiten das Kombinat Industrielle Mast, die größte Schweinezuchtanlage des Landes. Gebaut für 180000, waren es oft mehr als zweihunderttausend Tiere, die hier standen. Die KIM oder SZM (VEB Schweinezucht und ‑mast Neustadt/Orla), von den Bewohnern auch S oder Scheiß S genannt, war in große Dimensionen umgesetzte Agrarpolitik, industriemäßige Landwirtschaft: achtzig Hektar, siebzehn Hallen, Güllebecken, Futtersilos, Kohlehalden, ein eigenes Heizwerk.
Hier war auch das Land der tausend Teiche. Eine bezaubernde Gegend: überall das stehende Wasser, die Biotope, tausend Märchen. Millionen Tonnen Jauche liefen darüber, strömten in die Teiche, sickerten ins Grundwasser, ließen Kiefern und Fichten absterben. Das Land war Brachland, ein dystopischer Ort, keiner, der eine Form von Schönheit besaß.
Das Land wurde zerstört, um Fleisch zu produzieren. Der überwiegende Teil dieses Fleisches wurde in die damalige Bundesrepublik geliefert. Nachts fuhren die LKWs auf das Gelände, verluden und eilten dank der Autobahnanbindung schnell über die Grenze. In den Nächten zog der Gestank der Schweinekadaver, die auf den offenen Ladeflächen der Fahrzeuge lagerten, durch das Dorf.
Viele derer, die in der S beschäftigt waren, stammten nicht aus der unmittelbaren Umgebung. Sie kamen mit Arbeiterbussen von weiter weg oder waren in einem Neubaugebiet bei Neustadt untergebracht. Sie erlebten die Auswirkungen der Mast – Verödung, Waldsterben, Wasserverschmutzung, den in allen Lebensbereichen eindringenden Gestank – aus der Distanz hinter einer Busfensterscheibe. Jene, die das Fleisch produzierten und jene, die das Fleisch später konsumierten, spürten die Zerstörung nicht. Nur die, die im Land der tausend Teiche wohnten, lebten in der Zerstörung.
Wir sind nicht böse, wir essen nur Lachs
Diese Auslagerung, dieses Schaffen von Distanz zwischen Komfortzone und Ödland praktizieren wir heute weiterhin. Plastikmüll wird auf Frachtern um die Welt geschifft. Auf den afrikanischen Elektrohalden sammeln Kinder die giftigen Akkus unserer aussortierten Smartphones. Die Seegründe vor Somalia werden leergefischt, um damit die Lachse in den norwegischen Aquakulturen zu füttern. Wir spüren die Zerstörung nicht. Wir schmecken das Lachsschnittchen und sehen dabei die Hollywoodfilme, in denen ehemalige somalische Fischer Containerschiffe kapern, Piraterie gewordene Verzweiflung als Heldengeschichten.
Wir sind nicht böse. Wir essen nur Lachs. Ein banaler Vorgang. Wie wird die Katastrophe als Folge unseres banalen Tuns sichtbar? Wie nehmen wir die endlosen Plastikmüllhalden, die zerfallene Gesellschaft Somalias wahr? Wie sichtbar wird Zerstörung?
Das Steigen des Meeresspiegels bleibt nahezu unsichtbar. Das stetige Verschwinden sehen wir kaum. Erst spät bemerken wir ein Verschwundensein, dann, wenn ein Zustand in einen anderen gewechselt ist, einen, der möglicherweise irreversibel ist. Wir sehen nicht das Schmelzen der Eisberge, wir sehen ihr Wasser nicht. Das Wasser sehen wir erst, wenn es uns Land genommen hat.
Die Katastrophe hat so viele Fakten, so viele Seiten, so viele Verbindungen, ich kann nur wie Franz Josef Wagner darüber schreiben, in atemlosen Sätzen Substantive aneinanderreihen, was scheinbar einer ästhetischen Form entspricht, in Wahrheit nur in Text gegossene Hilflosigkeit ist, maßlose Überforderung angesichts dessen, was an Informationen über mich hereinbricht, wenn ich beginne, mir die Katastrophe anzulesen.
Was ist von dieser Katastrophe sichtbar, frage ich als jemand, der weit weg vom Meer wohnt und wissen will, was Text und Inhalt mit ihm zu tun haben. Ich zeige ihm die braunen Wälder bei Eisenach, die trockenen Fichten bei Sonneberg. Er nickt. Er sagt: Der Wald stirbt also. Der Wald stirbt, weil die Bäume sterben. Was ist dieses Sterben?, fragt er interessiert weiter. Ein Verschwinden? Was verschwindet? Wird zersetzt? Was zersetzt sich zu was und was wird dadurch ersetzt? Der Borkenkäfer lebt in diesem Sterben. Je zerstörter der Wald ist, je kaputter und kränker die Bäume, desto wahrscheinlicher wird er leben. Die Zerstörung ist Bedingung seiner Existenz. Die Fichtennadeln werden braun, die Zahl der Ornamente wächst.
Im Wirtschaftsraum
Ein Förster, oder einer, der jetzt in einer Forstverwaltung arbeitet, läuft mit mir durch den Wald. Mein Begleiter nennt den Wald einen Wirtschaftsraum. Für ihn ist der Wald ein bestelltes Feld. Der Wald soll Nutzen bringen. Der Nutzen ist Holz. Holz lässt sich in Geld aufwiegen, Holzmeter werden gemacht. Ich habe romantische Vorstellungen vom Wald. Er ist ein Ort von Mythen, ein Platz zum Verlorengehen. Das Grün seines Chlorophylls beruhigt meine Augen. Im Wald ist kein Wlan, ich suche nach Pilzen. Wir Touristinnen wandern durch die Wälder. Wir erwarten Wanderwege, erwarten im Wald ein Ausklinken aus der Welt. Wir fahren mit den Kindern in den Wald und lassen sie die Tannenzapfen des letzten Jahres gegen Stämme werfen.
Ein Architekt schreibt, dass sich über die Holzbauweise von Häusern viel CO2 speichern ließe. Auf den Ausstoß von CO2 werden Preise gesetzt. Interessengruppen fordern, dass für das Binden von CO2 Prämien gezahlt werden sollten. Wälder sind die größten Reservoirs dafür. Wälder sollten Geld dafür erhalten, dass es sie gibt. Nur so, sagen die Interessengruppen, kann es Wälder weiterhin geben.
Mein Begleiter malt Zeichen auf Stämme. Er weiß, welche Bäume gesund sind, welche krank, welche geerntet werden sollen. Er sagt »geerntet«. Quoten für Wälder, weil Verträge gemacht sind. Ein Staat, eine Fabrik, ein Hausbauer wartet auf Holz. Das Holz wird geschlagen. Früher haben Pferde die Stämme aus dem Wald gezogen. Heute sind es Harvester. Der Druck der schweren Fahrzeuge verdichtet die Erde, über die sie rollen. Bis zu fünfzig Zentimeter in der Tiefe stirbt darin das Leben. Trockenheitskarten zeigen die Trockenheit an. Sie reicht viele Meter unter die Erde. Thüringen ist seit Jahren dunkelrot. Es müsste monatelang regnen. Ein weiterer Franz Josef Wagner-Absatz.
Förster markieren die vom Borkenkäfer befallenen Bäume aus dem Hubschrauber heraus mit GPS-Signalen, sie suchen nach Harz auf der Rinde und Borkenmehl am Boden, ahnen den Generationswechsel der Käfer voraus und hängen Prall- und Schlitzfallen auf, welche die männlichen Tiere fangen sollen. Der Buchdrucker liebt die Fichte, der ökonomisch denkende Mensch liebt die Fichte, weil sie schnell wächst und sich ihr Holz gut verarbeiten lässt. Diese Fichte hat keine tiefen Wurzeln, die Trockenheit macht ihr besonders zu schaffen und sie anfällig für den Käfer. Der Buchdrucker ist ein Gewinner der Katastrophe, sagt der Förster in einem Video, das Laien wie mich über den Borkenkäfer informieren soll, der Käfer ist optimiert an der Verheerung.
Mikado
Wir hatten uns früh gesehen und am Abend wieder, hatten familiäre Dinge besprochen und dann war die Zeit gekommen und hatte alle Wunden geheilt. So einfach war das gewesen. Jetzt liefen wir in der Kühle zwischen den Bäumen, stiegen über ausladende Wurzeln hinweg und scheuchten Singvögel auf.
»Damals«, begann ich, »hatte man behauptet, der deutsche Wald würde bald absterben. Saurer Regen, Autoabgase, Industrieemissionen. Ein paar Jahre hatte man den Bäumen noch gegeben. Das war ein großes Thema gewesen. Du kannst dich bestimmt noch erinnern.«
Mein Gegenüber nickte.
»Und tja, jetzt sind wir hier. Im deutschen Wald.«
Ich holte Luft, weil ich für das, was ich nun sagen wollte, ausreichend Atem brauchte.
»Das nennt sich eine sich selbst zerstörende Prognose. Eine Prognose, deren Auswirkungen so katastrophal wären, dass alles getan wird, um ihr Eintreffen abzuwenden. Genau das ist hier passiert.«
Sonnenlicht fiel schräg durch die Wipfel der Bäume.
»Katalysatoren für Autos, Abgasverordnungen, Filter für Schornsteine – ohne die Schreckensbilder, die die Forscher damals gezeichnet hätten, wären solche Schutzmaßnahmen erst später getroffen wurden. Vielleicht zu spät. So waren alle alarmiert. Das Unglück wurde verhindert.«
»Der Wald«, sagte er nach einer Weile, »Der Wald ist immer auch krank. Alles andere wäre unnatürlich. Das Kranksein gehört dazu. Es ist nicht schlimm.«
Ich betrachtete einen Baum. Es war unmöglich, sein genaues Wachstum vorherzusagen, die Anzahl seiner Äste, die Form eines jeden Blattes, die Verzweigungen. Aber es ließe sich sagen: Ein Baum wächst. Jedes Jahr kommt ein Ring hinzu. Er bildet Früchte aus. Ein Baum stirbt. In seinem toten Holz werden Larven geboren.
»Der Wald ist immer da. Es gibt kein Gut und Schlecht. Es geht weiter für ihn, wenn auch anders, als wir das vielleicht wollen.«
»Aber, nur mal angenommen, er wäre wieder gefährdet. Dann müssten wir doch etwas tun?«
»Der Wald braucht uns nicht. Er kommt auch gut ohne uns zurecht.«
Wir liefen weiter und kamen an die Stelle, wo Kyrill einmal eine Schneise in den Wald geschlagen hatte. Bäume lehnten wie Mikadostäbe aneinander. Wasser tropfte von Blättern. Es roch nach Moos und Abschied.
In der Nacht, als ich längst zuhause war und neben meiner Frau schlief, erwachte ich aus einem traumlosen Schlaf. Ich hörte ein Geräusch, es kam von draußen. Äste rieben gegen die Wand meines Einfamilienhauses. Sie raunten: »Was geschehen wird, ist längst abgemacht«. Das muss der Wald sein, dachte ich müde, er schickt mir eine Botschaft.
Neben dem Bett standen meine Kinder, zwei Töchter, ein kleiner Junge. Ich begriff: Nicht der Wald hatte geflüstert, sie waren es gewesen. Was geschehen wird, ist längst abgemacht. Jedes von unseren Kindern hatte eine Nadel in der Hand. Sie hoben ihre zierlichen Arme und stachen mich, stachen in meine Frau, ihre Mutter. Luft entwich unseren Körpern und wir fielen in uns zusammen. In Sekunden ein Altern, Sterben und Vergehen. Aus unseren Hüllen sprossen Pilze. Larven lebten dank uns. Flechten überzogen unsere Augen. Doch dieser natürliche Kreislauf fühlte sich nicht organisch an, vielmehr wie ein Bruch, ein abruptes Rausgerissenwerden aus der Zeit.
Schweigend und konzentriert beobachteten unsere Kinder den Zerfall der Eltern. Dies musste ein Traum sein. Meine Frau und ich hatten keine Kinder. Wir hatten uns gegen das Zeugen von Nachkommen entschieden, waren uns einig gewesen, dass es unverantwortlich wäre, Kinder in diese Welt der sich nicht selbst zerstörenden Prognosen zu setzen. Nun standen diese ungeborenen Kinder neben uns und es war nicht sicher, wer wen träumte.
Hinter Glas
Einige Monate nach meinem ersten Besuch fahre ich nach Quaschwitz zurück. Ich treffe Achim wieder. Ich frage ihn, ob er mir den Borkenkäfer mitgeben kann. Ich möchte den Käfer vorzeigen. Achim bringt zwei Rinden einer Fichte, den der Buchdrucker befallen hatte. Der Baum ist zerstört, seine Rinde ist wunderschön. Behutsam nehme ich sie in die Hand, will sie nicht brechen. Ich bette die Rinden, verpackt in Luftpolsterplastik, vorsichtig auf die Rückbank des Autos, das mich dank der Kraft eines Verbrennungsmotors zurück nach Weimar bringt.
Dort lege ich die Rinden in Vitrinen. Die Ornamente des Buchdruckers werden Teil einer Ausstellung sein. Der Zerfall des Thüringer Waldes wird Kunst sein. Die Zerstörung kommt hinter Glas, wir stehen davor, betrachten das Zerstörte, es ist atemberaubend so.
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