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Dietmar Jacobsen
Erstdruck in Palmbaum 2/2021. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freuundlicher Genehmigung des Autors.
Dietmar Jacobsen
Die »Dauerwehen der Nie-richtig-Angekommenen«
Lena und ihre Tochter Edita, Tatjana und ihre Tochter Nina – vier Frauen stehen im Zentrum des zweiten Romans von Sasha Marianna Salzmann. Die 1985 in Wolgograd geborene und Mitte der 1990er Jahre mit ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommene Autorin hat bereits in ihrem Debüt Außer sich (2017), einer jüdischen Familiengeschichte über mehrere Generationen, die Widersprüche des 20. Jahrhunderts auf beeindruckende Weise eingefangen. Mit dem polyphon erzählten Im Menschen muss alles ganz herrlich sein knüpft sie nahtlos an dieses mehrfach preisgekrönte und inzwischen in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzte Buch an.
Erzählt wird die Geschichte einer – immer wieder scheiternden – Suche nach einer sinnerfüllten Existenz vor dem Hintergrund des kollabierenden sozialistischen Systems bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Erlebt Lena, die älteste der vier Heldinnen Salzmanns, noch die siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Dekaden großer Parolen, die den allumfassenden Mangel immer weniger zu kaschieren vermögen, sehen sich die anderen drei Frauen von Anfang an mit den Wirren der postsowjetischen Zeit konfrontiert. Zusammen finden die vier für eine kurze Zeit nach ihrer Emigration ins ferne Deutschland, wo sich ihre hochgespannten Erwartungen auf einen Neuanfang allerdings nicht in dem erhofften Maße erfüllen.
Den Rahmen des Romans bildet der 50. Geburtstag der ehemaligen Ärztin Lena. Er wird in Jena begangen, der Stadt, in die es die kleine Familie nach ihrer Aussiedlung verschlagen hat. Tochter Edita, inzwischen Volontärin bei einer Berliner Zeitung, hat an Thüringen und die ersten Jahre dort wenig gute Erinnerungen. »Berge, die das Tal, in dem Jena lag, vor Wind und der sonstigen Realität schützten«, fallen ihr ein, wenn sie an die Saalestadt denkt, und geradezu symbolisch für das Nichtankommen im zweiten Leben der kleinen Familie versteht sie es, wenn die Haltestelle mit dem vielversprechenden Namen »Paradies« längst von keinem ICE mehr angefahren wird.
Inzwischen sucht sie – ähnlich wie Tatjanas Tochter Nina – für sich und ihr Leben einen neuen Sinn, während sich beide Mütter in ihr Schicksal gefügt zu haben scheinen. Das begründet auch die Kluft zwischen den älteren und den nach Orientierung suchenden jüngeren Frauen. Mit den »Dauerwehen der Nie-richtig-Angekommenen« wollen weder Edita noch Nina infiziert werden. »Kein Mensch würde sie dazu kriegen, mit diesen diktaturgeschädigten Jammerlappen, diesen Perestroika-Zombies ein Wochenende in Thüringen zu verbringen!«, ist Edita noch kurz vor dem Geburtstagstermin überzeugt. Dass sie sich schließlich dennoch mit der schwer erkrankten Tatjana auf den Weg nach Thüringen macht, liegt vor allem daran, dass sie erkennt, dass man die gemeinsame Geschichte nicht einfach beiseitewischen kann, sondern sich ihr letzten Endes stellen muss.
Sasha Marianna Salzmann hat in ihren zweiten Roman viel hineingepackt: Erinnerungen an die Jahre des repressiven kommunistischen Systems und die Perestroika-Zeit, den Reaktor-Unfall von Tschernobyl, die gespannten gegenwärtigen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, die Diskriminierung von Juden vor den und während der Transformationsjahre sowie die großen Erwartungen derjenigen, die sich einst für die Emigration entschieden, weil sie dem gesellschaftlichen Aufbruch in einem zerfallenden Sowjetreich nicht trauten. Dass die Flucht in die Vergangenheit, die inzwischen viele von der Gegenwart enttäuschte Migranten angetreten haben, keinen wirklichen Ausweg darstellt, müssen Salzmanns Heldinnen schmerzlich erfahren. Dass man das Gewesene auf seinem Weg in die Zukunft aber einfach ausklammern kann, funktioniert ebenso wenig.
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