Person
Thema
Sandra Blume
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Eine gekürzte Fassung erschien in der Thüringischen Landeszeitung, 15.12.2025, S. 3.
Sandra Blume
linguistic landscapes – vom Versuch, Stadt-Land-Differenzen in Worte zu fassen
Die rote Ampel klickert. Ich hasse es zu warten, um eine Straße zu überqueren. Ringsum tost der Verkehr. Autoräder springen ratternd über Schienen, Motoren drehen auf, mit lang gezogenem Jaulen naht die Straßenbahn. Das Klickern wechselt den Rhythmus, die Ampel springt auf grün. Um den zweiten Abschnitt der vierspurigen Straße zu schaffen, ohne abermals zu warten, muss ich sprinten. Ein Radfahrer saust vorbei und streift meinen Arm. Erschrocken springe ich zur Seite. An manchen Tagen erschlägt mich die Masse unübersichtlicher Bewegungen, auf die ich achten muss, um nicht über den Haufen gefahren zu werden.
Über üppig bepflanzte Blumenschalen hinweg werfe ich einen Blick hinunter zum Gera-Flutgraben. Der Reiher steht, wie an jedem Morgen, fischend im flachen Wasser. Ich versuche den Müll zu übersehen und die Augen im Vorrübergehen für einen Moment zwischen Wellenglitzern und Ufergrün auszuruhen. Zu schnell bin ich vorüber. Späti. Barbershop. Ein weiterer Kiosk. Dann die seltsamen kleinen Häuser, die man scheinbar vergessen hat, abzureißen. Geduckt, verlassen, verloren stehen sie zwischen den hohen Gründerzeitgebäuden. Der Straßenstaub von Jahrzehnten liegt über den Fassaden, rissig blättern die verblassten Anstriche, die alten Eingangstüren hat einer mit Graffitis besprüht. Die Schaufenster im Erdgeschoss sind mit Holz vernagelt und mit Schichten über Schichten von Plakaten beklebt. Ich lese, was darauf steht. Ich lese die Worte, doch ich verstehe nicht, um welche Veranstaltungen es sich handelt und an welchen Orten sie stattfinden. Was für Musik wird gespielt und geht es überhaupt um Musik? Ich bleibe stehen. Die Namen ergeben keinen Sinn, erschließen sich mir nicht. Ich könnte in einem fremden Land unterwegs sein und würde ebenso viel, ebenso wenig verstehen. Ich spreche die Sprache der Stadt nicht, fährt es mir durch den Kopf. Ich lese die Worte, ich höre ihren Klang, aber ich verstehe die Sprache nicht.
Ich glaube, dass mir die Sprache der Dörfer, der Felder, Wiesen und Wälder besser begreiflich ist. Vielleicht, weil ich mehr Zeit meines Lebens auf dem Land, als in Städten verbracht habe. Vielleicht, weil ich Stille und Beständigkeit jederzeit der rastlosen Quirligkeit urbaner Räume vorziehen würde. Vielleicht, weil ich diese enge Verbundenheit zu meinen Hügeln, Tälern, meinen Flüssen und Bächen spüre und brauche, um glücklich zu sein.
Also lebe ich auf dem Land. Am Rande eines 200-Seelen-Dorfes mit beglückendem Ausblick in (bislang) unverbaute Natur. Um das bezaubernde Häuschen im Grünen bezahlen zu können, muss ich ausreichend Geld verdienen. Unmöglich im Ländlichen. Zumindest für jemanden, der in der Kommunikationsbranche arbeitet. Ich pendle also. Nach Erfurt. Rund 600 Kilometer auf der Autobahn jede Woche. Mit der Bahn würde ich fast doppelt so lange für dieselbe Strecke brauchen und müsste das Auto trotzdem bewegen, um überhaupt die sieben Kilometer bis zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Zu den Pendel-Kilometern kommen diverse Wege zum Einkaufen, für Erledigungen und Transportfahrten für die Teenagertochter: Kirmes, Schulbandauftritte, Besuche bei Freundinnen und der tägliche Weg zur Bushaltestelle zwei Dörfer weiter. Eine Busverbindung zu ihrer Schule in Eisenach gibt es nicht. Selbst schuld – warum mussten wir auch ins Hessische, kurz hinter die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ziehen. Landkreisüberschreitender Schulbusverkehr ist nicht vorgesehen. Wer auf dem Land kein Auto hat, hat sowieso verloren.
Alle Dörfer haben sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verwandelt. Versorgten früher die Bauern und Handwerker auf dem Land die Bewohner der Städte mit der Arbeit ihrer Hände, so sind die Dörfer und Gemeinden heute nahezu reine Wohnorte. Hier pendeln schon die Kleinsten in die Schulen der nächstgrößeren Stadt. Ich denke an den ökonomisch bedingten Zentralisierungswahn mit immer größer werdenden Gemeindezusammenschlüssen, geschlossenen Dorfschulen, ausgedünntem Bahn- und Busnetz. Ich denke an den letzten kapitulierenden Bäcker, an den letzten Fleischer, den letzten Konsum und die letzten Kneipe. Alles Geschichte. Da wird die Amazonbestellung zur reinsten Notwehr.
Das versteht mein Freund – schon immer Stadtbewohner – ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich fast überall mit dem Auto hinfahre. Er zieht mich gern wegen meines vermeintlichen „Autotourismus“ auf. Allerdings hat er auch einen Supermarkt direkt vor seiner Haustür und nicht sieben Kilometer weiter steil bergab. Und in seinem Markt ist das Sortiment deutlich besser – ich habe gelernt: ein Rewe auf dem Dorf ist nicht dasselbe wie ein Rewe in der Stadt; vergleiche ich das Angebot vegetarischer Produkte – ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Überhaupt treten in unserer Beziehung die Differenzen zwischen Stadt- und Landbewohnern so deutlich zutage, wie ich das noch nie zuvor wahrgenommen habe. Selbst banale Dinge des Alltags offenbaren tiefe Gräben: Ich koche mit Butter, Milch oder Sahne, so, wie meine Mutter und meine Großmutter. Und obgleich ich mich überwiegend vegetarisch ernähre, ist ihm meine Küche zu gehaltvoll und schlicht zu ländlich. Wir streiten über die Sued-Link Stromtrasse, deren Bau eine vierzig Meter breite Schneise der Zerstörung durch die liebliche Landschaft meiner Hügel und Täler schlägt, die noch lange Wunde bleiben wird. Ob ich meinen würde, dass der Strom aus der Steckdose käme, fragt er spöttisch. Auch mein Entsetzen über den anstehenden Bau einer 160 Hektar (über 200 Fußballfelder!) großen Solaranlage auf den Äckern längs des Nachbardorfes, welche das bisher idyllische Gesicht der Landschaft für immer verändern wird, kann er ebenso wenig nachvollziehen, wie die Tatsache, dass ich ganze Tage glücklich buddelnd und werkelnd in meinem Garten verbringe.
Inzwischen sehen wir uns nicht mehr oft. „Sich verstehen heißt, eine Lebensform teilen“, sagt Wittgenstein. Und ich begreife, dass wir keine Lebensform, also auch keine Sprache, die sich ins Gegenseitige übersetzen ließe, miteinander geteilt haben.
Eingemeindungen, Gebiets- und Verwaltungsreformen haben die Dörfer größer werden lassen und nicht selten die Grenzen zwischen Stadt und Land verwischt. Die Karten wurden neu gezeichnet, ohne dass die Menschen sich dabei nähergekommen wären. Die politische Geografie-Analyse betont: Wo früher Ost versus West galt, fungiere heute Stadt gegen Land als neue Bruchlinie der Gesellschaft. Aber gibt diesen Konflikt wirklich? Die Gegenüberstellung ist jedenfalls nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert wurde der Stadt-Land-Gegensatz aufgrund politischer Interessen von bestimmten Gruppen in die eigene Propaganda übernommen. Reale Probleme spielten damals ebenso wenig eine Rolle wie heute. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land weckt seit jeher Sehnsüchte und verursacht Spannungen. Schon im Mittelalter besaßen Städte eine besondere Anziehungskraft. Sie galten als Orte der Freiheit, in denen man den festen Regeln des dörflichen Zusammenlebens entkam. Aktuell wird der Stadt-Land-Gegensatz vor allem politisch und kulturell gelesen. Häufig ist dann vom Konflikt zwischen „urbanen Eliten“ und den „Abgehängten“ im ländlichen Raum die Rede: Die einen hätten keinen Zugang zu den Alltagssorgen der Landbevölkerung; die anderen seien demokratieverdrossen und konservativ. Das Wahlverhalten scheint die Stadt-Land-Unterschiede widerzuspiegeln: Die AfD punktet verstärkt auf dem Land, während die Grünen in städtischen Gebieten besser abschneiden. Wo liegen die Ursachen? Die Gleichung könnte lauten: weniger Infrastruktur, weniger Verdienstmöglichkeiten für Menschen mit hohem Bildungsniveau, weniger Teilhabe, schlechtere Versorgung – ist gleich geringere Wertschätzung der Landbevölkerung. Basiert der Stadt-Land-Konflikt auf einem Gefühl der Vernachlässigung? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. In den zurückliegenden Jahren habe ich in drei verschiedenen Dörfern in Ost und West gelebt und die unterschiedlichsten Menschen und Konstellationen angetroffen: homosexuelle Rassegeflügelzüchter, engagierte und bestens in die Dorfgemeinschaft integrierte Anhänger von Reichsbürgerideen, intellektuelle Landwirte, hervorragende Künstlerinnen und Künstler und vor allem eine Menge Menschen, die sich voller Kraft und Elan für das Gemeinwohl und das gesellschaftliche Leben im Dorf engagieren. Sie alle haben ihren eigenen Blick auf ihr Dorf und die Unterschiede zum Leben in der Stadt.
Philosophy of place nennen Philosophen den Gedanken, dass die Umgebung unser Denken formt, unsere Werte und unser Bild von „Normalität“. Wenn ich morgens in den Garten trete und nichts höre, außer Wind und Krähen, dann ist es diese Stille, die mein Leben bereichert und bestimmt. In Erfurt ist der Takt ein anderer, schneller, lauter, vielstimmiger. Und während die Debatten über neue Stadt-Land-Differenzen durch die Medien geistern, frage ich mich, wer überhaupt noch wirklich zuhört. Denn womöglich ist der Stadt-Land-Gegensatz vor allem ein Sprachenproblem: Die „Sprache“ der Stadt erscheint mir fremd, weil sie auf einer anderen räumlichen und kulturellen Logik basiert. Beide Sphären aber sind Projektionen unserer Sehnsüchte und Ängste – nicht einfach Gegensätze, sondern symbolische Spiegel. Wo ich wohne, ist nicht nur ein Ort, es ist eine Haltung.
Als ich ein Kind war, lebte ich auf einem kleinen Weiler mit kaum 20 Einwohnern. Mein Streifraum war grün, idyllisch und nahezu unbegrenzt. Das Leben auf dem Hof mit Schafen, Pferden und Gänsen ging – bis auf die gelegentlich vorbei donnernden Laster – seinen ruhigen, stetigen Gang. Dann zogen meine Eltern in das Neubaugebiet der nahen Kleinstadt. Dort wuchsen die Hochhäuser frisch aus der aufgeworfenen Erde. Eine graue lärmende Tristesse, die mich aufzufressen drohte. Nachts stand ich am gekippten Fenster meines Kinderzimmers und lauschte auf den ungewohnten Klang einer Dunkelheit, die voller Lichter war. Auf das eigentümliche Summen, welches die Kakophonie unzähliger Geräusche unzähliger Menschen in ihren Wohnungen und auf den Straßen erzeugt. Ich fühlte mich vollkommen fremd. Auch später, während des Studiums in Leipzig und meiner Zeit in Hamburg, habe mir oft das Meer der Häuser zur grünen, stillen Landschaft gewünscht. Ich habe die Sprache der Städte nicht zu erlernen vermocht.
Als ich nach Feierabend erneut an den Plakaten vorüber komme, denke ich, dass das immer noch alles viel zu einfach erzählt ist. Denn das Land ist längst nicht mehr nur Land. Mit dem Smartphone in der Hand trägt jeder Dorfbewohner die Sprache der Städte mit sich herum: die Worte, die Bilder, die Themen. Urbane Strukturen sickern in die Dörfer und die Sprache des Netzes wird zur neuen Muttersprache, die keine Geografie mehr kennt. Wenn ich von „der Sprache der Stadt“ spreche oder „der Sprache des Landes“ ist das schon idealisiert. Es gibt sprach- und varietätslinguistische Befunde, die nahelegen, dass eine „Sprache der Stadt“ sich von einer „Sprache des Landes“ unterscheidet – allerdings nicht in absoluter, rein folkloristischer Form, sondern als Tendenz, im Zusammenspiel sozialer Strukturen, Kommunikationsformen und Lebenswelten. So untersuchten Forscher die „linguistic landscapes“ (Sprach- und Schriftlandschaften) in städtischen Räumen, die durch Plakate, Werbung, Multilingualität geprägt sind und stellten fest, dass eigene Codes, Rhythmen, Themenschwerpunkte und Sichtweisen die „Sprache der Stadt“ bestimmen.
Ich sitze im Auto. Im Dazwischen meiner steten Pendelbewegung vom Land in die Stadt und wieder zurück. Das Radio ist still und das Brausen der Fahrgeräusche fließt durch mich hindurch wie die Bilder der vorbeiziehenden Landschaft. Mit flammenden Farben geht die Sonne hinter den drei Burgen bei Wandersleben unter.
Vielleicht, denke ich, ist alles eine Frage der Verwurzelung. Ich bin verwachsen mit den Wegen, die zwischen den Wiesen und Feldern sind; entlang der trotzigen Weißdornhecken habe ich meine Wurzeln tief in die Erde versenkt. Auf dem Land sprechen mich die Dinge mit vertrauter Sprache an. Ebenso mag es all jenen gehen, die Städte ihre innige Heimat nennen und deren Sprache seit jeher oder auf Anhieb verstehen. Und wenn dem so wäre, überlege ich weiter, dann ist es jetzt wichtiger denn je, einander wirklich zuzuhören.
Der Text erscheint als Teil 1 der Reihe »Mittendrin – literarische Perspektiven auf unsere Gesellschaft«, die der Thüringer Literaturrat e.V. 2025 mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen durchführt.
Der Thüringer Literaturrat dankt der Thüringischen Landeszeitung für den Abdruck der Reihe.
Foto: privat.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/sandra-blume-linguistic-landscapes-vom-versuch-stadt-land-differenzen-in-worte-zu-fassen/]