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Romina Nicolić
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Dass ich heute hier vor Ihnen stehen und diesen Preis entgegennehmen darf, verdanke ich nicht nur meiner Familie, meinen Freund*innen, der Unterstützung meiner Kolleg*innen und meinem sehr geduldigen Lektor und Herausgeber, es ist für mich vielmehr auch ein kleines Wunder. Vielleicht erinnern Sie sich an Handke und seinen Ausbruch nach der Kritik von Saša Stanišić, als er rief: »Ich bin ein Schriftsteller, komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes!«
Ich darf Ihnen heute mitteilen: Ich komme vom Dorf. Ich bin eine Frau. Und ich rede meist ziemlich viel. Jeder, der schonmal mit mir Auto gefahren ist oder Zeit mit mir im Büro verbringen musste, kann wahrscheinlich ein Lied davon singen.
»Ich komm’ vom Dorf«, das wird oft entschuldigend gesagt: Wenn jemand nicht weiß, mit welcher Straßenbahnlinie er in Jena von A nach B kommt. Oder ob man den Fahrschein auch noch in der Bahn lösen kann. Oder wann der richtige Moment ist, den Halteknopf zu drücken – vorzeitiges, nervöses Drücken enttarnt einen immer gleich, da kann man auch direkt proklamieren: »Verzeihung, Verzeihung, ich komm’ vom Dorf!«
Wir alle kennen solche drolligen Charaktere. Aus der Straßenbahn, aus Filmen und Geschichten. Das Dorf und seine manchmal etwas einfältigen Bewohnerinnen und Bewohner haben ihren Platz in der Literatur. Das Dorf ist oft eine willkommene Kulisse, wenn es um verklärtes Idyll und Naturverbundenheit geht. Es ist ein Ort der Tradition und des Ursprungs. Kulturelle und historische Kontinuität lassen sich hier belegen und besingen. Die Nähe zu Mythen, Märchen und Sagen lässt das Dorf als romantischen Gegenentwurf zu urbanen Gebilden erscheinen. Es bietet sich aber auch hervorragend an als Konfliktraum, in dem gesellschaftliche Spannungen, Isolation, soziale Kontrolle und dergleichen verhandelt werden. Es ist ein wunderbares Experimentierfeld mit großem poetischen Potenzial, auf dem sich neben Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Georg Trakl, Bertolt Brecht, Sarah Kirsch, Franz Fühmann, Wulf Kirsten durch die Jahrhunderte hinweg unzählige Schriftstellerinnen und Schriftsteller in allen Genres ausgetobt haben.
Das Dorf hat also seinen Platz in der Literatur. Aber wie sieht es aus mit den Literatinnen und Literaten im Dorf? Wir bewegen uns natürlich im Bereich der anekdotischen Evidenz, wenn ich Ihnen sage: In meinem Dorf galt das Schreiben höchstens als Hausaufgabe, die man aus der Schule mit nach Hause brachte. Als kleines Werkzeug, wenn man sich auf die Bütt zur nächsten Karnevalssitzung vorbereitete. Oder der Tante Gerda eine gereimte Freude zum 80. machen wollte. Oder wenn es einen Finanzbeamten davon zu überzeugen galt, dass man wirklich triftige Gründe hatte, die Steuererklärung vom vor-vorigen Jahr noch nicht eingereicht zu haben. Das Schreiben, ja, das gab es, das hatte schon seinen Zweck, aber es war keineswegs etwas, mit dem man zu viel Zeit verbringen sollte. Effektiv und nützlich sollte es sein. Und am besten – vor allem, wenn man sich im Schreiben eher zweckfreien Formen wie etwa der Poesie widmete – sollte man es ausschließlich dann tun, wenn man mit der richtigen Arbeit fertig war. Richtige Arbeit war natürlich etwas Handfestes, Handwerkliches. Selbst meine Mutter, als Lehrerin, machte sich regelmäßig der Bildungssnobberie und Faulenzerei verdächtig und musste sich trotz Vollzeitarbeit mit Unterricht an zwei Schulen noch im elterlichen Bäckereibetrieb nützlich machen. Schreiben also galt bestenfalls als Hobby. Damit konnte man keinen Blumentopf gewinnen und schon gar nicht konnte man damit Geld verdienen. Belustigen bestenfalls, aber das wars. Schreiben als ernstzunehmende Beschäftigung: absurd.
Ich denke an Lutz Seilers Satz: »Es gibt keine vernünftigen Gründe, Gedichte zu schreiben, eher einige vernünftige Gründe, das nicht zu tun.« Mein Dorf nahm dies als Diktum – Punkt! – und hielt es hoch. In meiner Erinnerung hätte es keinen schreibfeindlicheren Ort geben können. Der eine Schriftsteller in meinem dörflichen Dunstkreis, das war eine Plakette an einem Haus in der Neustädter Straße, die einen alten Mann zeigte, der 1881 das Zeitliche gesegnet hatte. Und die einzige lebende Schriftstellerin in meinem Dorf, das war eine Deutsch- und Kunstlehrerin, die auch heute noch Gedichte und Reiseberichte schreibt. Und von der ich die Leute sagen hörte, hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand: »Wenn die amoal stirbt, müss’n sa die Gusch’ noch amoal da’schloa, äss endlich ruh is.«
Ich komm’ auch aus diesem Dorf. Ich bin auch eine Frau. Ich rede gern viel und ich schreibe Gedichte. Und ich wuchs in der Gewissheit auf, dass Frauen, die zu viel redeten oder sich dem unnützen Rumg’schreibsel verschrieben hatten, lästig sind. Vor allem und am meisten, wenn sie mit ihren zu Papier gebrachten Frauengedanken und ‑ansichten dann auch noch eine Bühne beanspruchen wollten. Als wäre es nicht genug, dass man sonntagvormittags der Katechetin »a dreiviertla stunn’ bei da Gottesdienstve’traatung zu müss’ hör, da lösst die a noch die Kunstlehrerin drei Gedicht’ läs! Un dahemm stenn die Aadöpfl uffm Herd un koch’n sich ned vo salwats!!!«
Der »Tortenring als Denkschablone« in meinem »Unterholz«… Ich wünschte, das wäre eine Übertreibung.
Nancy Hünger schrieb 2016 für und über Paulus Böhmer: »Wer das Glück an seiner Seite weiß, beginnt mit nichts wie wenig an der Hand ein paar lose Worte wie Plaudertaschen, ein Raunen unter der Schädeldecke, ein Takt oder Tick in den Fingerspitzen, ein nervöses Ziehen: so ein auffahrendes, ohrenbetäubendes Gefühl – besser noch: eine Ahnung, dass die Dinge und was immer um einen herum plötzlich in Sprache zur Sprache drängen, in Sprache aufgehen, benannt werden wollen, wieder und wieder umbenannt, auch umgewidmet, schlicht: übersetzt in Zungenrede.«
Wer nun einen solchen körperlich drängenden Ausdruckswillen verspürt, ein Schreibenmüssen über das Zweckmäßige hinaus, der tut das. Gegen die Widerstände und gegen das Dorf, das einem Nutzlosigkeit und Faulheit unterstellt.
Nun könnte ich sagen, zum Glück ist das Dorf ein Ort, den man verlassen kann. In Gedanken kann man schließlich zurückgehen, die Erlebnisse, Geschehnisse, Gespräche, Prägungen, Eindrücke, Brüche, Wunden nachvollziehen und ‑fühlen, ihr poetisches Potenzial abschöpfen, sie be- und umbenennen und variieren und im Gedicht arrangieren.
Ich könnte sagen, ich bin froh, dass ich das Dorf verlassen habe. Dass ich in Gisela Krüger eine Deutschlehrerin hatte, die mich bestärkt hat, bei der Literatur zu bleiben. Froh, dass ich in Jena, Weimar, Erfurt so inspirierende und tatkräftige Verbündete gefunden habe, die mich in meinem Schreiben ernst genommen, gefördert, begleitet und ihm eine Bühne gegeben haben: Martin Straub ist hier an erster Stelle zu nennen. Ich bin froh, dass ich in verschiedenen Rollen seit vielen Jahren das literarische Leben Thüringens mitgestalten, Teil eines fruchtbaren Netzwerks sein darf, an der Seite von so wunderbaren Menschen wie Sigrun Lüdde, Uta Utzelmann, Nancy Hünger, Daniela Danz, Christine Hansmann, Ralf Schönfelder, Mario Osterland, Robert Sorg, Andreas Berner und André Schinkel. Ich bin froh, dass ich eine Familie habe, einen verständnisvollen Mann, der mich unterstützt, mir für meine Arbeit nach Kräften den Rücken freihält und mir auch mal einen Teller Essen vor die Nase stellt, wenn ich zu lange im Hyperfokus auf den Bildschirm starre und vergesse, dass man irgendwann auch mal Nahrung zu sich nehmen muss.
Ich komm vom Dorf, ich bin eine Frau, die gern viel redet, und ich bin sehr froh darüber, dass es Menschen gibt, die in dem, was ich bin und tue, einen Wert sehen. Ich bin sehr froh darüber und dankbar für all das und empfinde es als großes Privileg. Ich könnte mich eigentlich nur freuen.
Aber: Ich könnte das tun und das Dorf hinter mir lassen, doch angesichts der politischen Lage fällt es mir schwer. Thüringen ist größtenteils ländlich, dörflich. Mich besorgt eine kultur- und bildungsfeindliche Haltung, die ich aus meinem Dorf noch kenne. Sie schreibt sich fort und spielt denen in die Hände, die sich weiter und weiter von der demokratischen Grundordnung unserer Gesellschaft entfernen wollen. Die Wahlergebnisse belegen, dass ein erheblicher Teil der Menschen hier in Thüringen kein Problem darin sieht. Ich sehe uns Schreibende, Redende, Lesende in der Verantwortung und Pflicht, mit unseren Mitteln entgegenzuwirken. Es ist eine große Aufgabe, die sich nicht einfach fassen lässt und vielleicht gerade deshalb des Instrumentariums, des Potenzials, der Perspektiven und nicht zuletzt der Stimmen der Kunst und Literatur bedarf.
Ich danke auch deshalb der Anke Bennholdt-Thomsen-Stiftung für diesen Preis, herzlichen Dank der Jury für die Wertschätzung und die Ermutigung zum Weitermachen! Und meinen Wegbegleiter*innen und Mitstreiter*innen: Dank auch euch, aufs Herzlichste, für das immer wieder neu Denken, für eure Ideen und den Mut, nicht die Waffen zu strecken, vor den Herausforderungen, vor denen wir stehen. Vielen herzlichen Dank! Auch Ihnen, fürs Zuhören.
© Tina Peißker.
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