René Müller-Ferchland – »Niemanns Kinder«

Ort

Erfurt

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Julia Florschütz

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Gele­sen von Julia Florschütz

 

Vom Erbe der Eltern und der Schwie­rig­keit, den eige­nen Weg zu finden

Auf den ers­ten Blick wirkt die Rah­men­hand­lung zweier 16-Jäh­ri­ger Geschwis­ter, die ver­su­chen, sich selbst und gleich­zei­tig ihren Vater zu fin­den, wie eine typi­sche Geschichte für Jugend­li­che. Doch René Mül­ler-Fer­ch­land the­ma­ti­siert in sei­nem Roman viel­fäl­tige gesell­schaft­li­che Pro­bleme, die auf­grund ihrer stoff­li­chen Fülle ein brei­tes Publi­kum anspre­chen soll­ten. Die Geschichte der Roman­hel­den Marta und Mateo wech­selt mit den Noti­zen ihres Vaters, aus denen sie von des­sen trau­ma­ti­scher Kind­heit und sei­ner Über­for­de­rung als jun­ger Vater erfah­ren. Bei der Mut­ter und ihrer Schwes­ter auf­ge­wach­sen, ken­nen sie ihn am Beginn des Romans nicht. Die ein­zige Brü­cke zu ihm ist sein Zieh­va­ter, der für sie die Rolle eines Ersatz-Opas ein­nimmt. Die­ser über­gibt Marta ein gel­bes Notiz­buch ihres leib­li­chen Vaters.

Beim Lesen des Tage­buchs taucht Marta in die Gedan­ken­welt ihres Erzeu­gers kurz nach ihrer eige­nen Geburt ein. Wie sie sind die Lese­rin­nen und Leser gefor­dert, sei­ner wider­sprüch­li­chen Figur auch sym­pa­thi­sche Sei­ten abzu­ge­win­nen. Den­noch hält das Mäd­chen an der Idee fest, ihren leib­li­chen Vater zu fin­den. Gleich­zei­tig ver­zwei­felt sie an ihrer Mut­ter und Tante, die ihr und ihrem Bru­der auf ihre Art fern blei­ben. Immer wie­der spre­chen die Geschwis­ter von ihnen nur als „den Frauen“. Dazu kommt das Bestre­ben eines jeden Teen­agers nach Abgren­zung, ob optisch oder im Auf­tre­ten. Gleich­zei­tig hat es den Anschein, als sei Mar­tas „Cool­ness“ mehr Mit­tel zum Zweck, ein Werk­zeug, ihre Unsi­cher­heit und Suche nach emo­tio­na­ler Nähe zu über­spie­len. Letzt­lich steht sie wie ihr Bru­der vor der Her­aus­for­de­rung, die alle Her­an­wach­sen­den betrifft: die  feh­lende Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen Eltern und Kin­dern und deren Schwie­rig­keit, ihren eige­nen Weg zu finden.

Diese und ähn­li­che Pro­bleme sind, so oder so ähn­lich, in bei­nahe jeder Fami­lie zu fin­den. Im Roman wer­den sie durch die Kriegs­er­fah­run­gen und Kind­heits­trau­mata der Eltern ver­stärkt. Vor dem Hin­ter­grund aktu­el­ler poli­ti­scher Ereig­nisse und einem ste­ti­gen Gesell­schafts­wan­del stellt sich die Frage, inwie­fern Trau­mata der Eltern- und Kin­der­ge­nera­tio­nen mit­ein­an­der ver­gleich­bar sind. Im Roman geht es darum, dass das Leben des Vaters schei­tert, weil er eine unmensch­li­che Tat sei­ner Mut­ter nicht zu ver­ar­bei­ten ver­mag und diese letzt­lich mit den trau­ma­ti­schen Kriegs­er­fah­run­gen sei­ner Ex-Part­ne­rin ver­gleicht. Dabei bemerkt er seine Dop­pel­mo­ral schein­bar nicht. Einer­seits schil­dert er in sei­nem Tage­buch, dass die Bezie­hung zu der Mut­ter sei­ner Kin­der durch ihr Trauma gelit­ten hat, ande­rer­seits ver­mag er nicht für sie da zu sein und begrün­det dies mit sei­nem eige­nen Trauma. »Wir erzäh­len alle nicht vom Krieg und des­halb nicht von uns.«

Für die Roman­hel­den bedeu­tet das, dass jeder sei­nen Kampf mit dem eige­nen Leben und sei­ner Ver­gan­gen­heit aus­fech­ten muss. Das Buch sug­ge­riert, dass prä­gende Erleb­nisse der Ver­gan­gen­heit das eigene Leben in Gegen­wart und Zukunft über­schat­ten, ohne das eine Lösung in Aus­sicht gestellt wird. Das Mit­ein­an­der-Spre­chen, ein Um-Hilfe-Bit­ten, ein Sich-Hel­fen-Las­sen wer­den nur indi­rekt als Mög­lich­kei­ten prä­sen­tiert, Kon­flikte zu bewäl­ti­gen. Viel­mehr stellt der Autor die Gefahr ins Zen­trum, Trau­mata und Pro­bleme auf die eige­nen Kin­der zu über­tra­gen. »Es ist nicht unsere Geschichte, es ist nicht unsere Angst. Aber so müs­sen wir jetzt in die Welt raus – mit die­ser Angst.«

Der Roman erin­nert gestal­te­risch und for­mal an ein Notiz­buch. So ent­steht beim Lesen mit­un­ter das Gefühl, selbst in jenen Noti­zen zu lesen. Sicht­bare Strei­chun­gen, feh­len­den Satz­zei­chen, schein­bar nur hin­ge­wor­fe­nen Wort­fet­zen ver­stär­ken die­sen Ein­druck. Zudem ver­zich­tet der Autor bewusst dar­auf, die wört­li­che Rede kennt­lich zu machen. Das sorgt beim Lesen zuwei­len für Irri­ta­tio­nen. Mit all dem schafft Mül­ler-Fer­ch­land eine ambi­va­lente Lese­er­fah­rung, die immer wie­der zur Selbst­re­fle­xion anstößt.

Der Autor René Mül­ler-Fer­ch­land ver­steht es, schwere und kom­plexe The­men in sei­nem Roman so zu erzäh­len, dass sie sowohl für ältere wie für junge Erwach­sene ver­ständ­lich sind. Mit­un­ter kommt diese Spra­che jedoch zu leicht daher. Mono­loge wech­seln sich ab mit Dia­lo­gen, die pas­sa­gen­weise ein wenig zu vor­her­seh­bar schei­nen und in ihrer For­mu­lie­rung zu kurz und glatt wir­ken. Das unter­streicht ande­rer­seits, dass alle Figu­ren ihre Unfä­hig­keit eint, sich mit­ein­an­der aus­zu­spre­chen, Fra­gen zu stel­len und empa­thisch auf­ein­an­der zuzu­ge­hen. Die fas­zi­nie­rende Nuance, die die Geschichte ein­mal mehr in die Wirk­lich­keit rückt, ist die Anleh­nung an real Gesche­he­nes. Um wel­che his­to­ri­schen Ereig­nisse es geht, das soll an die­ser Stelle den eige­nen Lese­er­fah­run­gen nicht vor­weg­ge­nom­men wer­den. Geschich­ten wie sie René Mül­ler-Fer­ch­land in »Nie­manns Kin­der« erzählt, kön­nen über­all dort gesche­hen, wo Kin­der in dys­funk­tio­na­len Fami­lien auf­wach­sen, wo Kin­der Opfer von Krieg, Gewalt, Ras­sis­mus oder Ver­wahr­lo­sung wer­den – in jeder Gesell­schaft. Nicht nur auf­grund der viel­fäl­ti­gen gesell­schaft­li­chen Bezüge ist »Nie­manns Kin­der« einer brei­ten Leser­schaft zu emp­feh­len, son­dern vor allem des­halb, weil wir uns unsere Geschich­ten erzäh­len müssen.

 

  • René Mül­ler-Fer­ch­land: Nie­manns Kin­der, Roman, Proof-Ver­lag, Erfurt 2021, 177 S., 14,90 €.
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