Ralf Eggers – »Von Rockau nach Tautenburg und zurück«

Person

Ralf Eggers

Ort

Tautenburg

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Ralf Eggers

Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

Von dem Weg, über den ich hier schrei­ben will, hatte ich ein­mal einen Traum, den ich notierte, um ihn in einem Roman zu ver­wen­den. Mit einem Mann, viel­leicht mei­nem Vater, viel­leicht einem Freund, gehe ich durch den Laub­wald, als der Mann plötz­lich erbleicht und fas­sungs­los auf etwas starrt, das hin­ter mir geschieht. Ich fahre herum und sehe: Baum­stämme, stark und gerade wie Säu­len einer Kir­che, begin­nen sich zu nei­gen und stür­zen mit einer zeit­lu­pen­haf­ten Ver­zö­ge­rung um. Der Roman ist Frag­ment geblie­ben und viel­leicht war es die Ver­wen­dung die­ser Szene, die ihm den Todes­stoß ver­setzte. (Ich schreibe »viel­leicht«, denn noch habe ich das Manu­skript nicht weg­ge­wor­fen.) Was den Autor beein­druckt, fes­selt den Leser noch lange nicht. Wer akzep­tiert, dass er dem Leser für seine Auf­merk­sam­keit mehr schul­det als die Dar­stel­lung der eige­nen Obses­sio­nen, sollte spar­sam mit der Ver­wen­dung eige­ner Her­zens­ge­schich­ten und eige­ner Träume sein. Damals aber schien mir der Ein­bruch des Unheim­li­chen in eine länd­li­che Idylle (in einem thü­rin­gi­schen Dorf Anfang des letz­ten Jahr­hun­derts) ein star­kes Sym­bol für die Bedro­hung zu sein, die die Geschichte in Gang setzte.

Tat­säch­lich habe ich mich auf die­sem Weg nie­mals bedroht gefühlt – und ich bin ihn wirk­lich oft gegan­gen. Er ist Schau­platz einer Fami­li­en­tra­di­tion, die älter ist als ich. Auf dem soge­nann­ten Stein­weg, der die anstei­gende Dorf­straße mit den letz­ten Häu­sern des thü­rin­gi­schen Dor­fes Rockau hin­ter sich lässt, hat mein Vater als Kind die Bröt­chen sei­nes Vaters (des letz­ten Bäckers von Rockau) in ein Feri­en­la­ger nach Tau­ten­burg gebracht. Und seit Jahr­zehn­ten ist der Gang hin­un­ter ins Tal, ent­lang einer Wald­wiese, aus der all­mäh­lich eine Streu­obst­wiese wird, die tra­di­tio­nelle Pfingst­wan­de­rung mei­ner Fami­lie. Ich bin unter Athe­is­ten auf­ge­wach­sen, und womög­lich hielt ich Pfings­ten als Kind für den Tag, an dem man eben von Rockau nach Tau­ten­burg geht. Meine Groß­el­tern sind längst tot und die Bäcke­rei geschlos­sen, aber die Gewohn­heit ist so bestän­dig gewor­den, dass nie­mand es übers Herz brin­gen würde, sie auf­zu­ge­ben. Ein Fami­li­en­ri­tual, ein Fest­hal­ten an der Tra­di­tion aus Pro­test gegen das Ver­ge­hen der Zeit. Min­des­tens sechs Men­schen, mit denen ich über den gebors­te­nen Asphalt mit dem Laub des letz­ten Jah­res ging, sind nicht mehr im Leben. Min­des­tens fünf andere Mit­spa­zier­gän­ger leben noch, sind aber aus den in jeder Fami­lie unaus­bleib­li­chen Grün­den aus mei­nem Leben ver­schwun­den. Auf dem Spa­zier­gang sind sie alle noch da. Kämen sie noch ein­mal zusam­men, wären wir weit über vier­zig, und das sind nur die, die ich noch ken­nen­ge­lernt habe. Ich stelle mir vor, dass sie hin­ter der letz­ten Weg­bie­gung, wo sich der Blick auf das Dorf mit dem Berg­fried öff­net, ste­hen­blei­ben und ihre Gesprä­che ver­stum­men, weil die­ser voll­kom­mene Ort trotz allem, was auch im letz­ten Jahr wie­der gesche­hen ist, immer noch exis­tiert. Dass sie beim Wei­ter­ge­hen, wie das ältere Leute noch vor drei­ßig Jah­ren taten, die gute Luft prei­sen, die Tau­ten­burg vor dem ers­ten Krieg zu einer Som­mer­fri­sche und nach dem zwei­ten zum Stand­ort einer Stern­warte gemacht hat. Längst ist aus allen Pfingst­spa­zier­gän­gen ein ein­zi­ger gewor­den. Seine Varia­tio­nen (Ver­schie­bung wegen Regen, Abwe­sen­heit wegen Wehr­dienst oder jugend­li­chem Pro­test gegen Fami­li­en­ri­tuale, hin­zu­kom­mende und ver­schwin­dende Teil­neh­mer, leichte Abwand­lun­gen der Route und dra­ma­ti­sche Ände­run­gen der Lebens­lage) sind nur noch ver­wor­fene Fas­sun­gen des­sel­ben Tex­tes: Das mor­gend­li­che Sam­meln im Hof, spä­ter vor der geschlos­se­nen Bäcke­rei, noch spä­ter im Obst­gar­ten, den meine Eltern bis vor weni­gen Jah­ren nutz­ten, heute am Wald­rand neben dem Sport­platz. Der in Grüpp­chen zer­fal­lende Zug, das Sich-Zurück­fal­len-Las­sen, um mit dem einen zu reden oder mit dem ande­ren nicht reden zu müs­sen. Das Ver­giss­mein­nicht, der Sal­bei, das Kna­ben­kraut. Die all­jähr­li­che Häme über eine vor zwan­zig Jah­ren gebaute Protz­villa am Orts­ein­gang, hin­ter deren Pan­ora­ma­fens­tern man Bar­bie und Ken ver­mu­ten muss. Das Ritual ist durch Wie­der­ho­lung befes­tigt wie ein Text. der immer wie­der bear­bei­tet wurde, bis Unwe­sent­li­ches, Über­flüs­si­ges und Stö­ren­des getilgt ist. Bis dar­aus, jeden­falls im Kopf des Spaziergängers/Schreibers, etwas gewor­den ist, das sich von selbst ver­steht, das so und nicht anders gewe­sen sein kann.

Als Kind habe ich viele Som­mer­tage in Rockau ver­bracht, in der Bäcke­rei, wo es nach Mehl und Sauer­teig oder nach den Äpfeln im Kel­ler roch, auf dem Dach­bo­den, wo ich die Kin­der­bü­cher mei­nes Vaters fand, im Gar­ten unter alten Obst­bäu­men. Von dort kenne ich Details des Land­le­bens: Fau­len­des Fall­obst auf der Wiese als Nah­rung für Wes­pen und Schafe, das Geräusch und den Geruch beim Gras­mä­hen. Das Klap­pern der Schere beim Ver­schnei­den der Hecke. Krä­hende Hähne und die Ruhe auf der Dorf­straße. Ich lang­weilte mich, klet­terte auf längst abge­sägte Bäume, drückte mich vor der Gar­ten­ar­beit, indem ich mich hin­ter einem Buch ver­steckte. (Denn die kind­li­che Obses­sion fürs Lesen ent­springt zu aller­erst dem Wunsch, in Ruhe gelas­sen zu wer­den.) Und immer war­tete der Weg ober­halb des Dor­fes gedul­dig dar­auf, dass wir Jahr für Jahr an einem rät­sel­haf­ten Fei­er­tag wie­der­ka­men. Spä­ter erfuhr ich, dass immer­hin Fried­rich Nietz­sche dort einen Som­mer ver­bracht hat, ver­liebt in Lou Andreas-Salomé, aber ohne das geringste Fai­ble für die länd­li­che Geräusch­ku­lisse. Kers­tin Deckers Bio­gra­phie zufolge hat er dem Hund sei­nes Gast­ge­bers das Bel­len unter­sagt und die Schlach­tung eines krä­hen­den Hah­nes ver­langt. Das war im Som­mer 1882. Ein Som­mer, in dem mein Urgroß­va­ter womög­lich Bröt­chen nach Tau­ten­burg gelie­fert hat? Rin­gel­natz soll als Kind Feri­en­gast gewe­sen sein, Nietz­sches Schwes­ter, Henry van de Velde, Max Reger, Richarda Huch und James Krüss. (Wer hat wohl das Brot geba­cken, das sie dort aßen?) Natür­lich habe ich als Jugend­li­cher nichts davon gewusst. Zu behaup­ten, ich hätte es gespürt, als ich begann zu lesen und davon träumte zu schrei­ben, wäre der­selbe Kitsch wie die Frem­den­ver­kehrs­be­haup­tung, diese berühm­ten Leute hät­ten irgend­et­was zum Flair des Ortes beigetragen.

Aber das Wis­sen darum hat mir den Weg nach Tau­ten­burg als lite­ra­ri­schen Schau­platz brauch­bar gemacht. In dem Roman, den ich dann wirk­lich schrieb, besucht Jurek Nes­sel­kö­nig das Dorf mit einem Freund, der auf Nietz­sches Spu­ren wan­deln will. Auf dem Fried­hof von Tuchau (so viel Ver­frem­dung schien mir nötig) stößt Jurek auf einen Grab­stein mit dem Namen sei­ner Mut­ter; und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er das Geheim­nis sei­nes Vaters durch­schaut. Es ist eine List mei­nes krea­ti­ven Unter­be­wusst­seins, dass ich Jureks Des­il­lu­sio­nie­rung nicht auf dem Weg nach Tau­ten­burg, son­dern auf dem Weg zurück erzählt habe. Und auch wenn das Frag­ment mei­nes Vor­kriegs­ro­mans viel­leicht für immer in der digi­ta­len Schub­lade lie­gen wird, bleibt der Weg durch den Wald ein Ort, dem ich nicht ent­komme und von dem ich mir manch­mal wün­sche, ich hätte ihn selbst erfunden.

Nach­be­mer­kung: Wäh­rend ich die­sen Text am Bild­schirm lese, stelle ich fest, dass das Recht­schreib­pro­gramm zwei Worte als falsch unter­streicht, also nicht ken­nen will. Und das bestärkt mich darin, wie wich­tig es ist, über sie zu schrei­ben: Rockau und Tautenburg.

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