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Wolfgang Haak
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Wolfgang Haak
Ich habe mein 1926 bei Ullstein erschienenes Exemplar vor beinahe 40 Jahren in einem Prager Antiquariat mit dem typischen Bücherjagdinstinkt des lesehungrigen DDR-Bürgers gefunden. Genauer, ich kaufte auch das auf dem Regalbrett daneben stehende Buch mit dem Titel »The lost child« by Rahel Sanzara, erschienen im Verlag von Victor Gollancz Ltd. Immerhin die 4. Auflage aus dem Jahre 1931. Innerhalb weniger Tage hatte ich den Roman durchgelesen. Erschreckt, ratlos, fasziniert, nicht unbedingt begeistert. Danach begann die intensive Beschäftigung mit der Künstlerin, die am 08.Februar 1894 in Jena, mit bürgerlichem Namen Johanna Bleschke, geboren wurde. Sie war zunächst erfolgreich als Ausdruckstänzerin. Ernst Weiß, mit dem sie liiert war, sorgte dafür, dass sie als Schauspielerin in seinem Drama »Tanja« mit überwältigendem Erfolg debütierte. Sie galt zwischen 1919 bis 1923 als die ideale Verkörperung expressionistischer Frauengestalten, bis sie ausgerechnet mit diesem Stück 1923 am Berliner Renaissancetheater bei Publikum und Kritik gnadenlos durchfiel. Ende einer Kariere? Nein! 1926 erschien ihr erster Roman »Das verlorene Kind«. Die Handlung des Romans führt auf einen brandenburgischen Bauernhof in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts und kreist um den Sexualmord an einem Kind. Die Tat, eingebettet in die Schilderung der sich auflösenden Harmonie zwischen Mensch und seiner (inneren) Natur, bildet nicht den Kern des Buches, sondern bewirkt die Wandlung insbesondere der wichtigen Figur des Vaters Christian vom gerechten, uneigennützigen Herren, über den von Gott gestraften/geprüften hin zum leidenschaftslosen Menschen, dem die Verantwortung im streng protestantischen Sinne zur Maxime wird. Die Liebe bleibt dabei auf der Strecke. Das Buch ist der Mutter gewidmet, die 1918 der landauf, landab wütenden Grippeepidemie in Jena zum Opfer fiel. Nicht dem Vater, der erst 1954 verstarb. Und es sind drei Frauengestalten Martha, Klara, Emma, die in ihrer »harmonischen« Widersprüchlichkeit das Fundament des Romans bilden – neben der Überfigur des Christian. Martin, der die unschuldige kleine Anna, Tochter seines Herren, ermordete, könnte als Hauptfigur gestaltet werden. Rahel Sanzara tat das nicht. Er, wie die meisten anderen Figuren, oszilliert zwischen zwei Polen: Das unberechenbare dämonische Prinzip versus kindlicher Güte und Einfalt des Mörders, die den Leser in die unerquickliche Situation bringen, ihn oft nicht unsympathisch zu finden. Bei seiner Mutter Emma, der Magd und Amme der ermordeten Anna, ist es einerseits das Trauma einer Vergewaltigung, die zur Geburt dieses Sohnes führte, und andererseits sie selbst als Anklägerin ihres Sohnes, der alles für sie bedeutet und dessen Untergang sie wünscht. Und da ist die Leitfigur, der Herr und Vater Christian, der am Ende zum Wohltäter und Beschützer desjenigen wird, der sein Leben zerstört hat. Eine erstaunliche Leistung der Sanzara, die es versteht, mit sicherer Hand ihre handelnden »Seelen« in paradoxe Situationen führt, ohne dass der Leser zurückschrecken muß. Je nach dem analysiert sie vom religiösen als auch vom psychologischen und metaphysischen Standpunkt aus ihre Figuren und treibt sie durch die ewigen Prinzipien von Gut und Böse, Gott und Teufel. Es gelingt ihr dabei, beinahe unparteiisch zu bleiben – nur Christian, der Vater und Herr, wirkt am Ende überfordert mit der Rolle, die ihm zugeteilt ist. Die Sprache der Autorin ist ruhig, merkwürdig unaufgeregt, flüssig, beinahe nüchtern, treibt voran und gibt auch durch eine gewisse Unbefangenheit dem Erzählduktus Raum und Zeit. Am Ende fügt sich alles zu einer vielschichtigen Tragödie, umgeben von einer genau beschriebenen bäuerlichen Landschaft und Lebensweise, die den Leser in die Zange nimmt.
Zu Beginn des Romans, genauer auf Seite 3, findet das Begräbnis von Christians Vater statt. Auf der letzten Seite wird er selbst in einem Sarg zu Grabe getragen, der »von vielen Kränzen aus künstlichen Blumen, die inzwischen aufgekommen waren«, bedeckt war und dem nur wenige Menschen folgten. Da ist Rahel Sanzara unerbittlich: Am Anfang ein Ende – zum Schluss kein Beginn. Übrig bleibt ein Foto der ermordeten Anna, das eine fremde Magd aufbewahrt, weil sie selbst nur Knaben geboren hatte. Ich empfehle das Buch zur Lektüre.
Taschenbuchausgabe des Suhrkamp Verlags, Frankfurt am Main 1991.
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