Mit ihrem Engagement und originellen Stadtführungen hält Uta Kessel die Erinnerungen an die Dichterin Eugenie Marlitt wach.
Von Anke Engelmann
»Gestatten: Eugenie Marlitt«, sagt die Dame im schwarz-grünen Moosröschenkleid. Am Arm Pompadour und Spitzenschirm, unter der gerüschten Haube lugt schwarzes Haar hervor, lebhafte Augen hinter einem Brillengestell aus einfachem Metall, das vielleicht von Schreibarbeit bei flackerndem Kerzen- oder Gaslicht zeugt. Wie es sich für eine Dichterin gehört, stellt sich Eugenie Marlitt, alias Stadtführerin Uta Kessel, den Besuchern in Versen vor:
Uta Kessel: »Es grüßt Sie Frau Marlitt / Man kennt mich genau / Ich bin eine echte Arnstädter Frau. Elf Bücher habe ich einst nur geschrieben / Doch bin ich der Welt im Gedächtnis geblieben / Und für Sie zur Stadtführung in heutiger Zeit / dafür zog ich an mein Moosröschen-Kleid, / und darf so in Ihrer Mitte sein: / Da fällt mir überhaupt nichts Schöneres ein!«.
Mit diesen Versen begann 1992 Uta Kessels zweites Leben als Eugenie John, alias Marlitt.
Eugenie Marlitt gilt als erste (weibliche) Bestseller-Autorin Deutschlands. Elf Romane stammen aus ihrer Feder, dazu Erzählungen und eine Novelle. Mit ihrer Schriftstellerei hat sich die Kaufmannstochter in einer Männerwelt behauptet, sich ihre Selbständigkeit erschrieben in einer Zeit, als Frauen oft nur die Wahl hatten zwischen einem Ehemann und einer Anstellung als Bedienstete. 1825 als Friederike Henriette Christiane Eugenie John geboren, arbeitete sie zunächst als Sängerin, später als Gesellschafterin der Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen. Nach ihrer Entlassung 1863 begann sie unter dem Pseudonym Marlitt für die »Gartenlaube« zu schreiben – Trivialromane, sagen ihre Kritiker. Sie fand Anklang und trieb die Auflage der »Gartenlaube« in zehn Jahren um mindestens das Doppelte in die Höhe.
Doch wer nur Groschenroman und Kitsch bei ihr sieht, tut der Marlitt Unrecht. Leidenschaftlich prangerte sie die schlechte Stellung der Frauen an, Bigotterie und Frömmelei, Standesdünkel und Antisemitismus waren ihr zuwider. Gottfried Keller lobte ihren »Schwung der Stimmung und die Gewalt ihrer Darstellung«. »Es lebt in diesem Frauenzimmer etwas, was schriftstellernde Männer nicht haben: Sie empfindet wahren Schmerz über die Unvollkommenheit der Stellung des Weibes«, schrieb er. Bis heute geht der Streit, ob die Marlitt als ernsthafte Autorin des Bürgertums in den Literaturkanon aufzunehmen sei. In Arnstadt scheint dieser Streit bereits entschieden.
Im »Café Marlitt« am Markt, im Geburtshaus der Dichterin, hängt ihr Bild überlebensgroß: dunkle Stocklocken, ein schmales, intelligentes Gesicht. Grübchen in der Wange. Schalkhaft? Streng wirkt der hochgeschlossene Kragen. Uta Kessel, Erschafferin der Marke Marlitt, hat kurze graue Haare und erholt sich hier manchmal bei einem Käffchen von ihren Touren. Und lädt einmal im Monat zur Marlitt-Plauderei: seit sieben Jahren jeden letzten Dienstag im Monat. Beim letzten Mal, die Erinnerung an die Corona-Zwangspause war noch frisch, trug sie selbst verfasste Corona-Gedichte vor.
Die Touristen kommen gern. Arnstadt, selbstbewusste Kleinstadt nahe der Landeshauptstadt Erfurt, ist eine der ältesten Städte Thüringens. Eine Stadt voller Widersprüche, malerische Altstadt, Fachwerk und alte Kirchen neben marodem DDR-Plattenbau, der jetzt, 30 Jahre nach der Wende, saniert wird. Bach, Bechstein, Arnstadt, Heimat der Thüringer Bratwurst und Tor zum Thüringer Wald. Eine Stadt, deren Bewohner heimatverbunden und pfiffig sind und manchmal vielleicht ein bisschen provinziell. Ihre Heimat muss Eugenie John über alles geliebt haben: Marlitt soll für »Meine Arnstädter Litteratur« stehen.
Zu DDR-Zeiten war die Dichterin verpönt. Heute, 133 Jahre nach ihrem Tod, begegnet man ihr in Arnstadt überall. Auf dem Flohmarkt liegen Marlitts Bücher, in ihrem Geburtshaus am Markt trägt das Marlitt-Café ihren Namen, ebenso die Villa Marlitt in der Marlitt-Straße. Lange aktiv war die »Interessengemeinschaft Marlitt«, der auch Uta Kessel angehört hat, neben anderen Marlitt-Kennern, die sich mit Veröffentlichungen einen Namen gemacht haben. Thema ist die Marlitt auch immer wieder bei einer anderen Interessengemeinschaft, die sich regelmäßig trifft: der IG Literaturfreunde Arnstadt. Selbstredend auch sie mit der umtriebigen Stadtführerin.
Vielleicht wäre die Marlitt ohne ihr Engagement längst vergessen: Seit 1988 führt die heute 74-Jährige durch die Stadt, seit 1992 im Moosröschen-Kleid. In ihrem Hobby hat die ehemalige Krankenschwester ihre Berufung gefunden, denn:
Uta Kessel: »Das Steckenpferd ist das einzige Pferd, das einen über jeden Abgrund trägt. In meinem stressigen Alltag als Pflegedienstleiterin im städtischen Krankenhaus habe ich einen Ausgleich gesucht und gefunden. Immer schon war ich an Geschriebenem, an Geschichte interessiert. Noch zu DDR-Zeiten habe ich mich an der Volkshochschule eingeschrieben, um Ausbildung und Abschluss als Stadtführerin zu machen.«
Dass Uta Kessel vier Jahre später in das Kleid der Marlitt schlüpfte, war Schicksal, erzählt sie.
Uta Kessel: »1992 stellten Profi-Schauspieler aus der Landeshauptstadt bei einem Stadtjubiläum berühmte Gestalten aus der Stadtgeschichte dar: Johann Sebastian Bach, den Stadtausrufer, die Marlitt. »Das können wir Arnstädter doch auch«, habe ich gedacht. Andere sahen das ebenso. Eine befreundete Puppengestalterin nähte in Windeseile das Kleid. Und ehe ich zur Besinnung kam, stand ich im Marlitt-Kostüm auf einer Bühne und trug meine Verse vor. Da hab ich dann doch das Zittern bekommen.«
Doch die Zuhörer waren begeistert. Und das Marlitt-Kleid passt ihr wie angegossen. »Das ist einfach meins«, sagt sie mit leuchtenden Augen.
Nach fast dreißig Jahren sitzt das Kleid noch wie am ersten Tag. 16 Ordner mit Material über die Marlitt haben sich angesammelt. Und Uta Kessels Sympathie für die Schriftstellerin ist ungebrochen.
Die Marlitt hat in die Häuser der Stadt geblickt und ihre Geschichten erzählt. Figuren, die aus der Lebenswelt ihrer damaligen Leser stammten, Geschichten, über die die Leute redeten. Zum Beispiel über den Tod der »kugelsicheren Jungfrau« Emilie von Linsky. 1829 wurde die bei einer Theatervorstellung erschossen. In ihrem Roman »Das Geheimnis der alten Mamsell« griff die Marlitt dieses Unglück auf, das sich im Rathaus zutrug, als sie ein vierjähriges Mädchen war.
Wie ihr Alter Ego erzählt Uta Kessel Geschichte mit Geschichten, denn:
Uta Kessel: »neugierig machen ist meine Passion«.
Zum Beispiel auf Johann Sebastian Bach, dessen Konterfei als Bronzefigur lässig auf dem Arnstädter Markt lümmelt. In einem der arkadenverzierten Häuser, die dafür den Hintergrund bilden, hat vor fast 200 Jahren der Märchen- und Sagensammler Ludwig Bechstein widerwillig eine Apothekerlehre absolviert.
Uta Kessel: »Wo jetzt eine Eisdiele mit einer riesigen Eiswaffel wirbt, lebte der Bürgermeister Hans Nebel. 1581 fachte dieser unbelehrbare Mann einen Brand an, der fast die ganze Stadt zerstört und sich tief in das kollektive Gedächtnis der »Arnsch’ter« gegraben hat. Noch 300 Jahre später wurden in den Kirchen der Stadt Brandpredigten gehalten. An dem 435 Jahre alten Rathaus, das schmuck und frisch saniert strahlt, erinnert noch heute eine lateinische Inschrift an den Leichtsinn des Bürgermeisters.«
Überhaupt: Die Zeit tickt in Arnstadt in einem eigenen Rhythmus. Am Rathaus das alte mechanische Uhrwerk, ein wilder Mann und eine wilde Frau, etwas tiefer die Jungfrau Maria und der heilige Bonifacius und ein Adler, der alle halbe Stunde mit den Flügeln schlägt. Jede Woche musste früher die Mechanik der Uhr aufgezogen werden. Mit der Hand. Sagt Marlitt, und winkt energisch mit ihrem Schirm. Die Besucher folgen ihr und durchqueren die Tourismus-Information, stehen schließlich im Foyer des Rathauses und bestaunen die moderne Eingangshalle mit dem Glasdach und der historischen Fassade.
Menschen begegnen und sie begeistern, geschützt hinter Schute (Haube) und Rüschenkleid eine eigene Ausdrucksform finden – die Marlitt ist die Form, Arnstadt das Thema. Dass die Stadt so schön ist, die historische Altstadt so gut erhalten, ist dem Engagement des Altstadtkreises und seiner Schatzmeisterin Uta Kessel und zu verdanken.
Uta Kessel: »Je besser man seine Stadt kennt, um so mehr liebt man sie.«
Ihr Wissen gibt sie gern weiter. So betreute sie vor einigen Jahren zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen des Rathauses Gymnasiastinnen vom Melissantes-Gymnasium, die eine Seminarfacharbeit über die Arnstädter Literaten schrieben. Johann Gottfried Gregorii, der sich Melissantes nannte, war Geograph und Barock-Autor und lebte von 1706 bis 1720 in Arnstadt. Noch heute ist Uta Kessel stolz auf die »Mädels«, denen sie bei einer Spezial-Stadtführung Spezial-Wissen über ihre Heimatstadt vermittelt hat.
Uta Kessel: »Die haben eine Bomben-Arbeit geschrieben!«
Denn dass die Stadt mit ihren literarischen Pfunden wuchert, kann man nicht gerade sagen. Melissantes. Ludwig Bechstein. Wilhelm Hey, Pfarrer und Lied- und Fabeldichter, der 1854 in Ichtershausen bei Arnstadt gestorben ist, von ihm stammt der Text des Weihnachtsliedes »Alle Jahre wieder«. Willibald Alexis, der als Begründer des realistischen historischen Romans in der deutschen Literatur gilt und von 1853 bis zu seinem Tod 1871 in Arnstadt lebte. Und natürlich die Marlitt: Viele literarische Schätze lagern zurzeit im Museums-Depot. Vom Beginn der 1990er Jahre bis zu seiner Schließung zeigte das Stadtgeschichtsmuseum eine umfangreiche Ausstellung zu den Arnstädter Dichterinnen und Dichtern – jetzt liegt sie auf Eis.
Uta Kessel: »Das quält mich. Wenn ich im Lotto gewinnen würde: Ich würde sofort einen Raum besorgen. Jetzt kann ich meinen Enkeln nicht einmal etwas zeigen.«
2020, in diesem Jahr, sollte der Umbau des Museums ursprünglich vollendet sein. 2025 steht der 200. Geburtstag der Marlitt an. Vorträge wird es geben, einen Kalender und einiges mehr. Und vielleicht macht die Stadt sich selbst ein Geschenk?
Bis dahin finden sich andere Möglichkeiten, die Literatur in die Öffentlichkeit zu bringen und Interesse zu wecken:
Uta Kessel: »Am Markt, in dem Renaissance-Bürgerhaus »Haus zum Palmbaum«, wo früher das Museum war und heute die Musikschule, habe ich ein Schaufenster zur Marlitt gestaltet, auch weil ihr Roman »Die Frau mit den Karfunkelsteinen« hier spielt. Einem Nachbarn, der zur Eröffnung nicht kommen konnte, habe ich eine Neuausgabe des Romans geschenkt. Der hat den Roman am Stück durchgelesen.«
Für ihr Stadtengagement bekam Uta Kessel die Medaille des Bundesverdienstkreuzes: Da ist der Verein Altstadtkreis Arnstadt, in dem sie Mitglied ist und für dessen Anliegen sie oft die Werbetrommel gerührt hat. Seinen Sitz hat er in der Kohlgasse 7, im Wohnhaus der Bachs. Verfallen war das Gebäude, stand leer. Bis der Altstadtkreis mit dem Motto: »Arnstadt werde wach, denk an deinen Bach!« Geld sammelte und das Gebäude saniert werden konnte.
Auch sonst ist die Bilanz des Vereins beachtlich: 100.000 DM hat er aufgetrieben für ein Glockenspiel im Turm der Jacobskirche. Seit der feierlichen Übergabe 1997 ertönen die 26 Glocken fünf Mal täglich. Oder: 7.700 Euro für die »Blaue Route« gesammelt. 40 blaue Schilder kennzeichnen heute 40 historisch und architektonisch bedeutsame Gebäude: Bürgerhäuser mit schönen Fassaden, das Neue Palais, die Kemenate – Arnstadts ältester Profanbau. Der Verein hat die Route mit der Stadt und Studierenden der Technischen Universität Ilmenau eingerichtet. Und Uta Kessel hat dazu einen Stadtführer verfasst: mit Versen, wie es sich gehört.
Uta Kessel: »Ich würde gern noch ein Zitat von der Marlitt hinzufügen: ‚Ohne die Thüringer Waldluft verlöre meine Denkkraft an Elastizität‘«
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