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Nancy Hünger
Thüringer Literaturrat e.V. Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Kolja, Malik, Lovis, Anna und Marie Sophie gewidmet
Die vielleicht einzig vorkommende Gunst von Umständen, die irgendwo im Weltall ein menschliches Geschlecht ermöglicht hat, liegt als ein ganz dünner Hauch in den Mulden, und es genügt die geringste Schwankung der Umstände; eine Vermehrung des Wassers,
eine Verdünnung der Luft, eine Veränderung der Wärme. Unser Spielraum ist nicht groß.
Wir nisten in einem Zufall, dessen empfindliche Zuspitzung, wenn sie uns manchmal zu Bewusstsein kommt, beklemmend wird, zugleich begeistern.
Die Menschheit als Witz oder Wunder.
Max Frisch
Das ist die Nacht und ich sitze in Gotha. Es ist still, kein Auto verirrt sich in die Straße, indem das Haus steht, indem ich gerade sitze, ich höre nur den Hund, der an der Tür meiner Nachbarin um Einlass scharrt. Mein Nachbarhund ist unruhig. Die Vögel schlafen und die Echos der Fernzüge sind nichts als Vermutungen, die sich in den Bäumen verfangen, nur der Kühlschrank, der sich ab uns an ins Gedächtnis ruft. Ich sitze in der Nacht und werfe die Suchmaschinen an. Unvorstellbar und doch alltäglich, ich sehe die Erde, sehe ihre so verletzliche und irisierende Hülle. Dass dies ein Wunder ist, habe ich längst vergessen. Das Wunder ereignete sich am 24. Dezember 1968, als Bill Anders dem Mond den Rücken kehrte und das berühmte Foto »Earthrise« aufnahm. Ein Foto das unser Verhältnis zum Planten grundlegend verändern sollte, so hoffte man, so hoffen wir noch heute. Wir haben die Gewöhnung unterschätzt. Ich sitze bei Nacht auf der Erde und sehe mir die Erde an, diesen kleinen Planeten inmitten einer ungeheuerlichen Schwärze, ich kann bis zu dem Haus zoomen, indem ich in diesem Moment sitze. Alles an dieser Situation ist befremdlich und absurd und erschreckend.
Ich denke an Francis Crick und seine Theorie der Panspermie, die besagt, dass eine vom Untergang bedrohte Lebensform weit, weit entfernt, Sporen durch das All verschickte, in der Hoffnung, dass diese auf fruchtbaren Boden treffen würden. Dann wären wir, wäre die Erde, das Ergebnis eines Untergangs, der Rest einer untergegangenen Zivilisation. Wir wären das glückliche Ende einer tragischen Geschichte, die wir zu lesen außerstande sind. Wir sind das glückliche Ende einer tragischen Geschichte, aber das steht auf einem anderen Blatt. Die These der Panspermie klingt ebenso mythisch wie der Urknall. Wir sind nur Sternenstaub, das wissen wir inzwischen, kleine Teilchen, die sich aus dem intergalaktischen Nebel lösten und durch Zufall auf fruchtbarem Boden landeten, durch Zufall sind wir noch nicht verschwunden, obwohl alles gegen unsere Existenz spricht. Nichts davon können wir begreifen, nicht einmal den Zufall unserer Existenz, deshalb sehen wir uns vielleicht so gelassen beim Verschwinden zu. Wir können nicht begreifen. Clemens J. Setz schreibt, dass Obama die Existenz von UFOs öffentlich eingestanden habe. Die Nachricht wird sofort neucodiert. Keine UFOs, aber seltsame Objekte, die sich unserem Verständnis von Physik nicht anzupassen scheinen. Warum hoffen wir auf ein Wunder, wo doch wir das Wunder sind. Ein bisschen Leben inmitten scheinbar unbelebter Materie, die nicht einmal Materie ist, sondern ein großes unendliches Nichts, das schaudern macht, ein Nichts, in dem geisterlose Trabanten seit Millionen Jahren schweben. Die Erde ist das UFO. Wir sind uns ungeheuerlich, denke ich. Erdianer sind wir. Außerirdisch. Es ist Nacht und ich sehe mir an, wie der Columbia-Gletscher schmolz, während der Gefrierschrank leise summt, ich kann bis 1985 sehen. Ich sehe wie der Regenwald, einst eine opake grüne Masse, sich in gelbe, wüstenähnliche Agrarflächen zergliedert. Die Luftaufnahme des Regenwalds könnte ebensogut Rumänien, Deutschland oder die Ukraine zeigen, die Unterschiede sind kaum auszumachen. Ich kann mir unseren Untergang ansehen, ich kann zurück oder vorspulen. 35 Jahre. Mehr nicht. 35 Jahre genügen, um die Ewigkeit infrage zu stellen. Das ewige Eis ist nicht länger ewig, noch Eis.
Es ist Nacht und ich betrachte Aufnahmen vom Mars, nicht nur unsere Welt scheint kartiert. Ich zoome und google mich quer durch das Universum. Universum, ein Begriff an dem meine Vorstellungsgabe scheitert. Ich kann die Gesamtheit, ich kann das ALL nicht denken. Ich kann mich im All nicht denken. Ich bin Sternenstaub, ein unbedeutendes Partikel. Der Mars ist ein Teil von Gotha, er hat hier seinen Ursprung, in dieser kleinen unscheinbaren Stadt. Elon Musk ist ein Gothaer, ebenso wie Kurt Laßwitz, der hier die deutschsprachige Science-Fiction-Litertaur begründete. Von hier steigen die Träume zum Mars, von hier hebt die Sänger ab und Wernher von Braun bedankt sich bei dem esperanto-sprechenden Pazifisten Laßwitz, der diesen Dank sicherlich gerne zurückgewiesen hätte. So ist das mit den schönen Ideen, Einstein könnte ein traurige Weise davon singen. Ein Ticket zum Mars soll 60 Millionen Dollar kosten, wie viel das Space-X-Programm verschlingt, ist nicht genau zu ermitteln. Die Investmentbank UBS schätzt den jährlichen Umsatz in der Weltraumwirtschaft derzeit auf 400 Milliarden Dollar, ein Wert, der sich bis 2030 verdoppeln soll. Science-Fiction ist ein lukratives Investment. Ich sehe Elon Musk, ein großes, trauriges Kind, das verlegen in Werner Herzogs Kamera blickt und von den gescheiterten Landeversuchen berichtet. Das Zeitfenster sei knapp, sagt er. Niemand fragt, was er damit meinen könnte, auch Werner Herzog nicht, er bittet nur um ein Ticket, gerne one-way. Wie knapp unser Zeitfenster ist, hat Stephen Hawking kurz vor seinem Tod versucht zu umreißen: 100 Jahre gab er uns und empfahl, sobald als möglich, Kolonien auf dem Mars zu errichten. Das war 2017. Wir haben noch 95 Jahre, immerhin. Ein Jahr zuvor wurden sechs Wissenschaftler*innen aus der Mars-Simulation auf Hawai entlassen. 365 Tage durften sie die Bedingungen unter mars-ähnlichen Zuständen erproben. Ja, man kann aus dem Lavagestein wirklich Wasser extrahieren. Nein, man kann es nicht trinken. Das Wasser wurde letztlich für die Tomatenzucht verwendet. Zwanzig Tomaten für sechs Wissenschaftler*innen binnen eines Jahres. Der Mars ist ein toter Planet, es gibt Eis, aber kaum Wasser. Es gibt keinen Sauerstoff, keine Nahrung, keine schlafenden Vögel, nichts, nichts, nichts, eventuell ein paar Mikroorganismen, aber das scheint unwahrscheinlich. In der Nacht sinkt die Temperatur auf – 100 Grad. Die Stürme verunmöglichen ein Leben auf der Oberfläche, der Mensch der Zukunft wird untertage leben. Glück auf, Werner! Das sind unsere Träume am Ende der Menschheit. Ein Traum, den schon ein anderer träumte. Karl Kraus dachte sein Stück »Die letzten Tage der Menschheit« einem Marstheater zu. Wahrscheinlich träumte auch er von den ersten Tagen der Menschheit auf diesem menschenfeindlichen Planeten. Es war seine Reaktion auf den ersten Weltkrieg, es folgte ein zweiter, es folgte ein kalter, und nun sind die letzten Tage bereits angebrochen, das Stück spielt auf der Erde, aber keiner schaut hin, sieht zu, man sehnt sich nach dem Mars, nach einem Neuanfang, man gibt verloren, was der Mühe wert wäre. Wir starren ungläubig in den Weltraum, warten auf ein Lebenszeichen, während das einzige Lebenszeichen im All langsam verklingt. Die Reise zum Mars ist eine Reise in unsere Zukunft auf dem Planeten Erde. Es wird von Beginn an eine Reise in unsere Vergangenheit sein. Eine Reise ohne Wiederkehr. Unsere große Zukunftsvision ist die Vision unseres Untergangs.
Keine Untergänge mehr, lese, höre und verstehe ich. Unsere einzige Antwort auf den Untergang ist der Kapitalismus, der unsere Bedürfnisse besser versteht, als wir selbst. Wir ersetzen die fossilen Brennstoffe, durch wertvolle, seltene Erden, die unter noch schwierigeren, lebensbedrohlicheren ökologischen Bedingungen gewonnen werden müssen. Hauptsache Tesla. Einer für jeden und jede. Elon Musk ist ein Held unserer Zeit. Jede Zeit bekommt den Helden, den sie verdient. Wir ersetzen Konsum durch nachhaltigen Konsum. Wir ersetzen, wir kaufen, wir glauben, wir leisten Abbitte im Supermarkt, saisonal, regional, bio. Nur eines können wir nicht, aufhören zu konsumieren. Wachstum ist unser Dogma, Wachstum ist unser Ende. Der freie Markt ist unser Gott. Was immer wir konsumieren, nach Gottes Gesetz, muss hergestellt werden, was immer hergestellt wird, benötigt Ressourcen. So simpel, so einfach, so unvorstellbar. Alle Ressourcen sind knapp, manche verbraucht, außer vielleicht die menschliche Vorstellungskraft. Jene Vorstellungskraft, die uns auf den Mars katapultierte, kann uns vielleicht zur Erde zurückbeamen. Wir können uns vorstellen zum Mars zu fliegen, aber scheitern an der Zukunft unserer Kinder. Wir scheitern an unseren Kindern. Unsere Kinder scheitern an uns. An unserer mangelnden Vorstellungsgabe.
Wir brauchen keine Science-Fiction. Denn, wie Eckhart Tolle schreibt: »Nichts wird jemals in der Zukunft geschehen, sondern im Jetzt.« Science Fiction ist Jetzt. Wir leben längst in einer dystpoischen, hypermodernen Welt. Unsere Wirklichkeit hat die Science Fiction überholt. Die Dystopien sind real, sind Gegenwart und wir haben keine brauchbare Gegen-Fiktion, keine Utopie zur Hand. Nur billige Glaubenssätze, die uns der Kapitalismus diktierte, samt dem Glauben, dass nichts sonst existieren könne. Die größte Utopie des Kapitalismus ist jene vom Ende aller Utopien. Gleichwohl lassen wir uns von den katastrophischen Kakophonien einlullen, um uns gewiss zu sein, wir hätten keinerlei Handlunsgoptionen. Die Welt ist, wie sie ist, also suchen wir uns eine neue. Dabei leben wir momentan gleichzeitig in Dys- und Utopie. So Paradox es erscheint, Corona hat die Parameter neu justiert. Utopien sind nicht länger Fiktionen für antikapitalistische Tagträumer*innen, sondern unglaubliche, ungeheuerliche Ereignisse, ach, Wunder die sich in der Jetzt-Zeit ereignen. Folgerichtig ist es keine Utopie, sondern Realität. Populationen, seltener, vom Aussterben bedrohter Arten, die sich innerhalb eines Jahres erholten, teils verdoppelten. In Indien sah man zum ersten Mal nach 30 Jahren den Himalaya und über L.A. einen Himmel. Das ist real, ist jetzt, ist möglich, innerhalb eines Jahres und wir mussten nichts unternehmen, außer nichts zu unternehmen. Unvorstellbar, was möglich wäre, wenn wir etwas unternähmen? Unser Zeitfenster ist knapp, es schließt sich bereits wieder. Während wir auf interplanetare Lebenszeichen vergeblich warten und nach neuen Siedlungsräumen im All suchen, werden die Bedingungen für unsere Fortexistenz immer beschwerlicher. Hier, wo es noch Wasser und Tomaten gibt, die Temperaturen nie auf – 100 Grad sinken. Wo es sich leben, atmen, schlafen, existieren lässt. Ein Planet, der wie für uns geschaffen ist. 35 Jahre und der Columbia-Gletscher hat sich aufgelöst. 35 Jahre und wir diskutieren noch immer über vermeintliche Selbstverständlichkeiten, zum Erhalt unserer fatalen Gewohnheiten, die kaum zu verteidigen sind, da sie objektiv unmoralisch sind. Unsere liebgewonnenen Gewohnheiten sind Privilegien weniger, die zulasten einer Mehrheit gehen. Unsere Privilegien könnten das Ende unserer Zivilisation bedeuten. Es gibt nichts zu verteidigen, außer das Recht unserer Kinder auf eine Zukunft, was nur bedeutet, dass sie das Recht einklagen, zu leben. Kinder sind nicht unsere Zukunft, das ist ein Werbeslogan der Rentenkasse, aber wir sind ihre traurige Vergangenheit.
Das Zeitfenster ist knapp, aber noch nicht geschlossen. Das ist die Nacht und ich sitze in Gotha und warte auf ein Morgen, das längst angebrochen ist. Es ist still, kein Auto verirrt sich in die Straße, indem das Haus steht, indem ich gerade sitze, ich höre nur den Hund, der an der Tür meiner Nachbarin um Einlass scharrt. Mein Nachbarhund ist unruhig. Ich bin unruhig. Ich sitze in der Nacht und werfe die Suchmaschinen an. Ich sehe unsere Kinder auf den Straßen demonstrieren und ich weiß, wir sind noch nicht verloren. Es ist Nacht, aber der Morgen ist in Sicht, genau JETZT!
Abb.: Foto Jens Kirsten.
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