Nachruf auf den Dichter Wulf Kirsten

Person

Wulf Kirsten

Ort

Weimar

Thema

Nachrufe & Gedenken

Autor

Christoph Schmitz-Scholemann

Alle Rechte am Text beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. »Stille« aus: erdanziehung. Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Foto: Dirk Skiba.

Von Chris­toph Schmitz-Scholemann

 

»Ich lag im gras, die arme unter dem kopf. /ein tag­träu­mer, der ganze nach­mit­tage lust­voll vertrödelte/ und begeis­tert den wol­ken­bil­dern nach­sah …« »Selbst« heißt das Gedicht, in dem sich der am 21. Juni 1934 gebo­rene Lyri­ker und Schrift­stel­ler Wulf Kirs­ten an seine Kind­heit auf dem Lande erin­nert: Einen Dorf­jun­gen haben wir uns vor­zu­stel­len, in Klipp­hau­sen auf der Erde bei Mei­ßen in Sach­sen. Gol­dene Löf­fel waren ihm nicht in die Wiege gelegt, »armer karst­hänse nach­fahr« nennt er sich. Es würde zu arbei­ten sein, zum Bei­spiel als Kuh­hirte: »hin­ter dem dorf / saß ich, eines bau­ern hüte­junge, / auf herbst­nem gras­kleid / im geruch der umwal­de­ten wie­sen. /ich war der Kuh­fürst / sancta sim­pli­ci­tas / im brombeerverhau.«.

Ab 1965 lebte Wulf Kirs­ten in Wei­mar. Da hatte der »Hüte­junge« seine länd­li­che Umge­bung längst ver­las­sen, eine kauf­män­ni­sche Lehre hin­ter sich, er hatte die Arbei­ter- und Bau­ern­fa­kul­tät in Leip­zig besucht und die Lite­ra­tur­be­stände der Deut­schen Natio­nal­bi­blio­thek durch­ge­ackert. »Ich hatte (dort) ein Mau­se­loch gefun­den«, schrieb er spä­ter, »aus dem ich aus der DDR her­aus­zu­bli­cken ver­mochte ins Welt­läu­fige, so dass sich die öffent­li­chen, auch ideo­lo­gisch grenz­be­fes­tig­ten Maß­stäbe ver­win­zig­ten.« Die Gedichte, die Wulf Kirs­ten Anfang der 60er Jahre zu schrei­ben begann und von denen er einige unter Pseud­onym im Wes­ten ver­öf­fent­lichte, haben von Anfang an den rauen, erdi­gen »Kirs­ten-Sound«, weit ent­fernt von deko­ra­ti­ver Ver­klä­rung und »buko­li­scher lügen­post«. Ab 1968 bis ins letzte Jahr­zehnt erschie­nen zahl­rei­che Lyrik­bände. Unter ihnen »Der Blei­baum«, in dem Kirs­ten schon 1977 die Zer­stö­rung der Natur durch die Indus­tria­li­sie­rung zum Thema machte. In Kirs­tens lyri­scher Spra­che fin­den sich über­ra­schende Satz­land­schaf­ten, manch­mal aus Wör­tern gebaut, von denen kein Lexi­kon etwas weiß. Man ver­su­che ja nicht, ein Gedicht von Wulf Kirs­ten durch ein Sprach­er­ken­nungs­pro­gramm oder gar eine Über­set­zungs­ma­schine zu jagen – der Com­pu­ter würde Stein und Bein spucken.

Die eigene Lyrik, die in viele Spra­chen über­setzt wurde und die ihm seit den 80er Jah­ren Aner­ken­nung und bedeu­tende Preise ein­trug, war bei­leibe nicht alles im Leben des Wulf Kirs­ten: Er war über zwan­zig Jahr lang Lek­tor des Auf­bau-Ver­lags, schrieb Erzäh­lun­gen und Essays, gab Antho­lo­gien her­aus, dar­un­ter die große Samm­lung deut­scher Lyrik von Nietz­sche bis Celan »Bestän­dig ist das leicht Ver­letz­li­che«. In der »Wen­de­zeit« und danach war Wulf Kirs­ten einer der füh­ren­den Köpfe auf­sei­ten der Fried­li­chen Revolution.

Er schrieb spä­ter: »Ich habe nicht bereut …, wenigs­tens das Scherf­lein der Witwe zur Abschaf­fung eines Sys­tems bei­getra­gen zu haben, das am Ende an einem unent­wirr­ba­ren Lügen­filz erstarrt und schließ­lich erstickt ist.«

Wulf Kirs­ten war für das kul­tu­relle und poli­ti­sche Leben in Wei­mar und Thü­rin­gen über mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert eine mutige und prä­gende Per­sön­lich­keit. Vie­len jun­gen Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­lern war er ein väter­li­cher För­de­rer. Immer wie­der erin­nerte er daran, dass die Spra­che der Dich­tung immer wie­der neu erfun­den wer­den muss »Will ein Gedicht dem Leser etwas mit­tei­len über das hin­aus, was er ohne­hin schon weiß, muss es den Mut zu einer Pio­nier­leis­tung auf­brin­gen. So wie Kunst vom Mut zur Erst­be­ge­hung, zur Erst­set­zung, zur Erst­be­nen­nung lebt. … Zu die­sem trans­for­mie­ren­den Kraft­akt … gehört … der indi­vi­dua­lis­ti­sche Mut zur Iden­ti­täts­fin­dung, selbst zu sein und die­ses Selbst­er­ken­nen in eine uner­hörte Mit­tei­lung zu verwandeln.«

Am 14. Dezem­ber 2022 ist Wulf Kirs­ten gestor­ben. In sei­nen Wor­ten: Er hat »das Zeit­li­che mit dem Ewi­gen ver­wech­selt«. Eines sei­ner spä­ten Gedichte trägt den Titel »stille«.

 

 

Wulf Kirs­ten

stille

wenn es der stille end­lich gelingt,
unge­stört zu sich selbst zu kommen,
hörst du, wie sie plötz­lich zu summen
anhebt, weiß ich, wie lange sie
brauchte, sich die­ses ima­gi­näre summen
aus­zu­den­ken, äußert welthaltig
für jene, die ihr zuzu­hö­ren und sie
zu ver­neh­men bereit sind, du irrst,
wenn du meinst, dies sei doch recht
bei­läu­fig, wenn nicht gar bloß
ein­bil­dung, nein, erst so wird
alles wesent­li­che, was dich umgibt
und dich aus­macht, in die­ses unablässige
sum­men ein­ge­wo­ben und bil­det textur,
es fragt sich nur, wer noch wollte
und sollte das über­ir­di­sche hören,
alle ohren ver­stöp­selt, alle blicke
weltab gerich­tet auf smartphones,
die dazu ver­hel­fen, nicht mehr gewahr
zu wer­den, die sie umfan­gende welt.

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