»Marie-Elisabeth Lüdde – Eine Grenzgängerin zwischen Kirche, Kunst und Kultur« – Ein Nachruf von Thomas A. Seidel

Person

Marie-Elisabeth Lüdde

Ort

Weimar

Thema

Nachrufe & Gedenken

Autor

Thomas A. Seidel

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

In jenen auf­re­gen­den, revo­lu­tio­nä­ren Mona­ten 1989/1990 lern­ten wir uns ken­nen. Der Aus­tausch über die Neu­grün­dung der SPD in Thü­rin­gen hatte uns zusam­men­ge­führt. Sie war enga­giert in Wei­mar, mit ihrem Mann Horst, Edel­bert Rich­ter, Hans Wer­ner Mar­tin, ich in Ollen­dorf, mit etli­chen Bür­gern und Gemein­de­glie­dern, unter ihnen Otmar Ellin­ger, dem nach­ma­li­gen Ver­wal­tungs­ei­ter des Lan­des­kir­chen­am­tes. Ich habe mich gefreut, dass sie der Ein­la­dung zur Mit­ar­beit im Vor­stand des Kura­to­ri­ums Schloss Etters­burg e.V. gefolgt ist. Das waren span­nende Jahre, mit hohem ehren­amt­li­chen Enga­ge­ment, ohne par­tei­po­li­ti­sche Ani­mo­si­tä­ten oder ideo­lo­gi­sche Pola­ri­sie­rung. Eine inno­va­tive und letzt­end­lich erfolg­rei­che Ver­samm­lung von Grenz­gän­gern, wie Wulf Kirs­ten, Eber­hard Haufe, Her­bert von Hint­zen­stern, Heino Falcke, Lutz Vogel, Lud­wig Große, Olaf Weber, Elke Hes­sel­mann, Hart­mut Sieck­mann, Renate Wer­ner, Georg Mack­rodt, Chris­tine Lie­ber­knecht und vie­len ande­ren, die sich für die Revi­ta­li­sie­rung jenes »Musen­hofs« hin­ter dem Etters­berg, dem janus­köp­fi­gen Sym­bol­ort zwi­schen der Klas­si­ker­stadt Wei­mar und KZ- und NKWD-Spe­zi­al­la­ger Buchen­wald, engagierten.

Marie-Eli­sa­beth Lüdde erblickte am 20. Sep­tem­ber 1951 in Mag­de­burg das Licht der Welt. Sie hat eine Lehre als Schalt­an­la­gen­mon­teu­rin mit Abitur absol­viert, von 1970–1975 Theo­lo­gie in Greifs­wald stu­diert und wurde dort auch (1989) pro­mo­viert, zu einem Thema, das ihre lite­ra­ri­schen Ambi­tio­nen anklin­gen lässt: »Die Rezep­tion, Inter­pre­ta­tion und Trans­for­ma­tion bibli­scher Motive und Mythen in der DDR-Lite­ra­tur und ihre Bedeu­tung für die Theo­lo­gie«. Sie über­nahm Pfarr­stel­len in Halle/Saale und Leu­ten­thal, war von 1990–1992 Lan­des­schü­ler­pfar­re­rin in Thü­rin­gen und ab 1994 Pro­fes­so­rin für Gemein­de­päd­ago­gik an der Evan­ge­li­schen Hoch­schule Ber­lin. Als sie mir von einer Anfrage berich­tete, das Aus­bil­dungs­de­zer­nat im Lan­des­kir­chen­rat der Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kir­che in Eisen­ach zu über­neh­men, habe ich ihr zuge­ra­ten. Von 1998 bis zu ihrer Ruhe­stands­ver­set­zung 2001 aus gesund­heit­li­chen Grün­den hat sie die­ses Amt über­nom­men. Für die Evan­ge­li­sche Aka­de­mie Thü­rin­gen und für viele andere The­men­fel­der der Lan­des­kir­che, die zu ihrem Zustän­dig­keits­be­reich gehör­ten, war dies ein Glücks­fall. Die Aka­de­mie in Neu­die­ten­dorf und mir ihr einige cou­ra­gierte Kirch­ge­mein­den hat­ten sich im Kon­text des Kul­tur­stadt-Wei­mar-1999-Pro­jek­tes »Reden über Gott und die Welt. 52 Sonn­tags­pre­dig­ten« in den Grenz­be­reich kirch­li­chen, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Han­delns bege­ben. Mit der Ein­la­dung von Gre­gor Gysi als einen der pro­mi­nen­ten »Sonn­tags­pre­di­ger« durch eine Kirch­ge­meinde im Wei­ma­rer Land ent­spann sich ein thü­rin­gen- und deutsch­land­weit für Schlag­zei­len sor­gen­der Streit. Ober­kir­chen­rä­tin Lüdde konnte in jenen tur­bu­len­ten Wochen mit der ihr eige­nen ent­schlos­se­nen und lie­bens­wer­ten Weise für Aus­gleich sorgen.

Seit 2001 wirkte Marie-Eli­sa­beth Lüdde als freie Autorin, ehren­amt­li­che Co-Vor­sit­zende des Lite­ra­tur­ra­tes Thü­rin­gen und Vize­prä­si­den­tin des Kul­tur­ra­tes Thü­rin­gen. Neben ver­schie­de­nen Essays und grö­ße­ren Publi­ka­tio­nen ver­öf­fent­lichte sie 2009 mit »Vati und Mutti. Eine Fami­li­en­ge­schichte« ein in wei­ten Tei­len auto­bio­gra­fi­sches Buch von ebenso berüh­ren­der Genau­ig­keit und Zart­heit wie von bedrü­cken­der Kraft und Tie­fen­schärfe über die Fol­gen und Neben­wir­kun­gen NS-zeit­lich gepräg­ter Erzie­hung. Am 30. Januar 2025 konnte die­ses Werk im Thea­ter­haus Stutt­gart seine Pre­miere erle­ben. Her­vor­zu­he­ben ist die inten­sive Beschäf­ti­gung der Wei­ma­rer Autorin mit dem »Theo­lo­gen unter den Klas­si­kern«: Her­der. (»Johann Gott­fried Her­der: Ver­brenn die­sen Brief! Her­der und die Frauen«, 2014 und »Johann Gott­fried Her­der. Licht-Liebe-Leben«, 2016). Dass diese aus­ge­wie­sene Her­der-Ken­ne­rin keine Ein­la­dung zu einer der all­jähr­li­chen »Her­der-Geburts­tags-Reden« erhielt, bleibt von daher unver­ständ­lich. Am 29. April 2025 ist diese char­mante und inspi­rie­rende Grenz­gän­ge­rin nach neun Jah­ren schwe­rer Krank­heit in Wei­mar verstorben.

 

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