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Dietmar Jacobsen
Erstdruck in: Palmbaum 2-2020. Alle Rechte beim Autor.
Dietmar Jacobsen
Im Strudel der Wendezeit
Kruso (2014) hieß der erste Roman des bis dahin als Lyriker und Autor von Erzählungen und Essays hervorgetretenen Lutz Seiler. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis im Jahr seines Erscheinens, markierte dieses Werk des 1963 in Gera Geborenen einen literarischen Neuansatz im Umgang mit der Wendethematik. Für Seilers kleine Außenseitergesellschaft, die sich rund um den charismatischen Alexander Krusowitsch in den letzten Monaten der DDR in der Gaststätte »Zum Klausner« auf der Insel Hiddensee versammelt, geht ihr kleiner Staat im Staat in dem Moment kaputt, als sich die Grenzen öffnen und die hereinbrechende Warenwelt die Klausner-Utopie unter sich begräbt.
Ein Kofferradio ist es, das dem Draußen den Weg in den »Klausner« bahnt. Und um einen tragbaren Transistorempfänger aus dem VEB Stern-Radio Berlin, den »Stern 111«, versammelt sich auch die Geraer Familie Bischoff bis zum Herbst 1989, um in eine Welt hinauszulauschen, die zu bereisen die beiden Eltern und ihr Sohn sich nur erträumen können: »An jedem Morgen und an jedem Abend hatte das Radio auf ihrem Esstisch gestanden, der kleine hölzerne Kasten mit der goldenen Blende war das geheime Zentrum ihres Familienlebens gewesen.«
»Stern 111« hat Lutz Seiler seinen zweiten und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2020 ausgezeichneten großen Roman genannt und dem unscheinbaren Apparat damit praktisch ein Denkmal gesetzt. Der Leser stößt auf seinen Seiten nicht nur erneut auf die beiden zentralen Figuren des Vorgängerbuches, sondern auch auf etliche andere Parallelen zwischen den beiden Romanen. Spielte »Stern 111« hauptsächlich in den letzten Monaten der DDR, findet man sich in »Stern 111« nun in jenem knappen Jahr zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 wieder, in dem die alte Ordnung verschwand, während sich die neue noch nicht etabliert hatte.
Es ist die Zeit, in der es den Mittzwanziger Carl Bischoff, Seilers zentrale Figur, aus der Thüringer Provinz nach Berlin verschlägt, während seine Eltern sofort nach der Grenzöffnung versuchen, in einem Westen Fuß zu fassen, den sie sich, wie sie schnell erkennen müssen, ganz anders vorgestellt hatten, als er sich ihnen nun präsentiert. Und während Carl die »Straßen der guten Gedichte« zusammen mit einer ähnlichen Außenseitergesellschaft, wie sie die »Klausner«-Besatzung in »Stern 111« darstellte, beschreitet und dabei langsam zum Dichter reift, türmen sich vor Mutter Inge und Vater Walter ständig neue Schwierigkeiten auf, bis ihr Schicksal die beiden schließlich über den Großen Teich und an die amerikanische Westküste führt.
»Stern 111« ist Wende‑, Künstler- und Liebesroman in einem. Auf unnachahmliche, geradezu magische Weise hat der Autor das Anarchische jener wenigen Monate des Übergangs eingefangen. In großartigen poetischen Bildern erweckt er eine Zeit des Experimentierens und Erprobens neuer Daseinsformen wieder zum Leben. Das »kluge Rudel« von »Hoffi, dem Hirten«, in dem sich Carl Bischoff schon kurz nach seiner Ankunft an der Spree wiederfindet, will alles, nur keine Konformität. Um gewappnet zu sein gegen jene, die mit Säcken voller Geld bereitstehen, um sich das Land hinter der niedergerissenen Mauer anzueignen, hat sich das alternative Völkchen in Alexander Krusowitsch, der sich neuerdings »Comandante« nennen lässt, und dessen »Adjutanten« Edgar Bendler – raffiniert spielt Seiler mit dem Doppelgängermotiv, wenn er die in Gera geborenen Helden seiner beiden Romane, Bischoff und Bendler, in Berlin aufeinandertreffen lässt – kampferprobte Berater gewählt, die vom »Nazi-Einsatzschrank« bis zum Ex-DDR-Grenzhund alles mobilisieren, was für den Häuserkampf nützlich erscheint.
Genau zwanzig Gedichte sind es übrigens, die Carl nach seiner Ankunft in Berlin gelten lässt. Zu viel, um das Schreiben aufzugeben – zu wenig, um sich schon als gestandener Dichter zu fühlen. Er, der der Geraer »Statthalter« seiner ihrem eigenen Lebenstraum nachjagenden Eltern sein sollte, sucht stattdessen fern der Thüringer Heimat nach der endgültigen »Passage in ein poetisches Dasein«. Dass er nebenbei noch eine bis in seine Schulzeit zurückreichende Liebesgeschichte endlich auslebt und als gelernter Maurer tatkräftig mit anpackt bei Hoffis Aufbau einer »antikapitalistischen Untergrundkolchose« mit eigener Gastwirtschaft, verankert sein Schreiben zusätzlich in der Realität des gerade entstehenden Nachwende-Deutschlands.
Seilers zweiter Roman steckt voller literarischer Anspielungen. Von Elke Erb über Heiner Müller bis Wolfgang Hilbig reichen die mal offenen, mal versteckten Bezüge. Etlichen Vertretern der ostdeutschen Lyrikszene der Wendezeit begegnet Seilers Held auf seinen Wegen durch Berlin persönlich – Matthias BAADER Holst, Jörg Schieke und der Leipziger Bibliothekar Thomas Kunst gehören dazu. Und nicht zuletzt blitzt auch das Werk des Lyrikers Lutz Seiler in den Gedichten seiner Hauptfigur auf.
»Nicht wenige sind unterwegs in dieser frisch befreiten Stadt. Die ganze Welt wird neu verteilt in diesen Tagen«, sind die ersten Sätze, die Carl nach seiner Ankunft in Berlin von Hoffi, dem Hirten, hört. Wendezeit bedeutet für Seilers alle sich um das Kellerlokal »Assel« scharenden Figuren Abenteuerzeit und Zeit, endlich eine große Utopie leben zu können, zugleich. Wurde Carl Bischoff von seinen gen Westen ihrem eigenen Stern folgenden Eltern zu ihrer »Nachhut« in Gera bestimmt, macht ihn das Jahr 1990 zur Vorhut in Berlin. Allein die Gelegenheit, endlich so leben zu können, wie man sich das schon immer – in Ost wie in West – erträumte, währt nur wenige Monate. Alles scheint plötzlich möglich, nichts ist verboten, auch nicht das Denken in ganz neuen Kategorien. Und dennoch endet Seilers Roman mit zwei Abschieden: dem Carls von dieser kurzen, aber wichtigen Episode seines Lebens und dem der kleinen Außenseitergesellschaft von der unter dem Ansturm der kapitalistischen Wirklichkeit zusammenbrechenden Utopie.
© Suhrkamp Verlag 2020.
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