Katrin Lemke – »Ortswechsel«

Person

Katrin Lemke

Ort

Jena

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Katrin Lemke

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Mei­sen­busch

In Klein­mach­now auf­zu­wach­sen war ein Glück. Und vor allem der Frie­den war ein Glück, auch wenn in ihn die Rui­nen von Ber­lin hin­ein­rag­ten und viele Spu­ren des Ver­gan­ge­nen als Zei­chen an den Leben­den abzu­le­sen waren. Wie Schat­ten, wie unsicht­bare Geis­ter gin­gen neben ihnen ihre Toten ein­her. Von Groß­mutters und Mut­ters Toten war viel die Rede. Das Klein­mach­nower Haus aber war unzer­stört, sein Besit­zer nach dem Wes­ten gegan­gen. Die Frauen hat­ten ihn nur kurz ken­nen gelernt, als sie das Haus bezo­gen. Sie zahl­ten die monat­li­che Miete auf ein West­ber­li­ner Konto ein.

Mir, der Nach­ge­bo­re­nen, ist die­ses Haus unzer­stör­bar. Ein­mal, ich war schon lange erwach­sen und im Beruf, hatte ich am Mor­gen, als ich zur Arbeit ging, wahl­los ein Büch­lein aus dem Regal gegrif­fen und ein­ge­steckt, damit ich wäh­rend der Abitur­auf­sicht, die mich erwar­tete, etwas zu lesen dabei­habe. Als ich es auf­schlage, fällt ein klei­nes Foto her­aus, schwarz-weiß mit gezack­tem Rand: das Klein­mach­nower Haus, von vorn auf­ge­nom­men. Der dunkle Holz­gie­bel, die brei­ten Fens­ter mit den Spros­sen, der Wein­stock zwi­schen ihnen. Ich lege das Buch bei­seite, lese keine ein­zige Zeile, das Bild wird leben­dig vor mei­nem inne­ren Auge. Ich sitze als Auf­sicht im Che­mie­ka­bi­nett und ver­sinke in einer ande­ren Welt.

Das Haus besitzt eine helle Haupt­e­tage im Hoch­par­terre mit einer brei­ten Glas­tür vom Wohn­zim­mer zum Gar­ten­zim­mer und einer zwei­ten nach drau­ßen auf die hohe Ter­rasse. Es gibt im Inne­ren eine gewun­dene Treppe nach oben. Grün­däm­me­rige Dach­stu­ben zwi­schen Baum­wip­feln. Ganz unten, eben­erdig,  ein gru­se­li­ges und doch ver­lo­cken­des Sou­ter­rain. Dort befin­det sich die Küche mit dem rat­tern­den Essens­auf­zug. Und wich­ti­ger noch: das Schwarze Loch. Ein Ver­ban­nungs­ort unter der Treppe für unge­hor­same Kin­der. Zum Glück mehr Dro­hung als Vollzug.

Das Schönste in mei­ner Erin­ne­rung aber ist der Gar­ten. Eigent­lich ein Stück müh­sam zurück­ge­hal­te­nen Wal­des, der mit sei­nen Baum­ar­men über die Haus­wände streicht. Rechts und links am Zaum Sta­chel­beer­bü­sche und Johan­nis­bee­ren. Die nennt Oma Ribisl. Hin­ten links ein Erd­beer­feld. Ansons­ten Wiese. Fräu­lein (wir sagen: Frolln) Anni – unsere Haus­ge­hil­fin – hängt hier die Wäsche auf, Erika baut Buden, Her­bert klet­tert auf die große Birke am Haus und von dort in seine Dach­kam­mer hin­ein. Er hat mit sei­nem Freund Karl-Heinz ein Stück Eisen­kette ange­schleppt, die aus­sieht, als stamme sie aus der Hin­ter­las­sen­schaft eines rie­si­gen Kriegs­fahr­zeugs. Die hängt jetzt am Baum und taugt zum Auf­stei­gen. Mein Schau­kel­pferd steht im Gar­ten, eine Decke liegt auf der Wiese, Frolln Anni erlaubt mir, mit ihrem Pup­pen­jun­gen Franz, der fast so groß ist wie ich, zu spie­len. Wenn ich sehr vor­sich­tig bin! Eigent­lich kann man gar nicht mit ihm spie­len, man kann sich nur mit ihm mes­sen, neben ihm ste­hen oder sit­zen. Er hat ein freund­li­ches Gesicht, bleibt aber ganz steif, unle­ben­dig und unbe­weg­lich. Ein­mal höre ich, wie Mutti zu Oma sagt, das sei wohl das Kind, das Anni hätte bekom­men sol­len. Ach, hätte sie doch ihren Ver­lob­ten, der gerade Sol­dat gewor­den war, damals ein­ge­las­sen, für diese eine, seine letzte Nacht zu Hause. Warum hat sie nein gesagt, als er darum bat? So war er ohne ihre Liebe an die Front gegan­gen und fast sofort gefal­len. Jetzt hat Anni nur einen toten Ver­lob­ten – und  Franz, den Puppenjungen.

Wenn es heiß wird im Som­mer­gar­ten, hül­len mich der mär­ki­schen Sand, die Bee­ren und die Kie­fern in eine wür­zige Duft­wolke, die, wo immer sie mir spä­ter begeg­net, Klein­mach­now auf­er­ste­hen lässt. Ich bekomme eine Zink­wanne mit Was­ser zum Baden und Spie­len auf die Wiese gestellt, packe mei­nen Pup­pen­wa­gen – für nor­mal­wüch­sige Pup­pen­kin­der –  ein und aus, spiele mit Ssiss-Karli Mut­ter­va­ter­kind. Er gefällt mir nicht beson­ders als Vater mei­ner Fami­lie. Er hat immer eine Rotz­nase und stößt bei allen Zisch­lau­ten mit der Zunge an, aber es steht kein ande­rer zur Ver­fü­gung. Es gibt nur wenige Kin­der in Klein­mach­now. Ssis­sen heißt eigent­lich schie­ßen. Karli sagt: Mein Papa hat aussm Krieg ne Pis­s­tole mit­te­bracht, wenn ich groß bin, darf ich damit ssis­sen. Oma schüt­telt den Kopf, sie sagt, Ssiss-Kar­lis Vater sei ein Nazi gewe­sen … Ich spüre den Schre­cken, den die­ser Begriff aus­löst. Er begeg­net mir, sie­ben Jahre nach dem Krieg gebo­ren, immer wie­der und zeigt eine ver­gan­gene, aber heil­los nach­wir­kende Gefahr an. Auch des­halb ist mir Ssiss-Karli nicht ganz geheuer. Aber, sagt Oma, er kann doch nichts dafür! Er ist doch ein Kind!

Ich finde trotz­dem, er sollte sich die Nase putzen.

Auch die Straße ist ein span­nen­des Feld. Mei­sen­busch, ein bei­nahe zärt­li­cher Name, den ich mag, weil ich ihn mir vor­stel­len kann: lau­ter Mei­sen, kopf­über hän­gend, piep­send und pickend im Gesträuch. Das gibt es hier zwar nicht, inso­fern ist der Name Mei­sen­busch eher eine Wunsch­vor­stel­lung, ein auf­mun­tern­des Natur­bild. Statt­des­sen gibt es Krä­hen, die in den hohen Kie­fern sit­zen und immer hör­bar sind mit ihrem Gekrächze. Erika behaup­tet, wenn man den Weg vom Gar­ten­tor zur Haus­tür nicht sehr schnell zurück­lege, kämen sie von oben, zögen einem die Mütze weg und hack­ten auf dem Kopf herum. Lange Zeit renne ich die­sen Weg. Zumin­dest so lange ich die­ses schau­rige Mär­chen glaube.

 

Geschwis­ter

Jedes Kind mei­ner Fami­lie erhält seine Prä­gung. Teils als schmerz­haft ein­ge­drück­ten Stem­pel, teils als üppi­ges Geschenk.  Zuerst meine große Schwes­ter Erika, die sich Eika nannte, 1943 in Rei­chen­berg gebo­ren, das spä­ter Libe­rec hieß, mit­ten im Krieg. Viel­leicht war es ein­fach nur trot­zig gemeint, auf jeden Fall aber als eine Selbst­be­zich­ti­gung, ihr frü­hes „Eika, böse Eika“, eine eigen­ar­tige Ken­nung, die sie sich mit zwei Jah­ren sel­ber gab, das ö als ie into­nie­rend. Das rie­fen Mut­ter und Tan­ten ihr bei ihren häu­fi­gen Trotz­an­fäl­len immer wie­der nach: Siehst du, schon wie­der bist du „Eika, biese Eika“!

Aber Erika, 1943 gebo­ren, war unse­rer Mut­ter ers­tes Kind, sie wurde gehegt und gepflegt, ein­ge­strickt und gut gefüt­tert. Trotz des Krie­ges. Alle Hoff­nun­gen ruh­ten auf ihr, ihr Name zeigt an, wie sehr sich Lie­se­lott für ihr Kind die väter­li­che Nähe wünschte. Aber Erich, von Beruf Tisch­ler, ist Sol­dat an der Front. Er kann nicht bei sei­ner Fami­lie sein, wie er will und wie sie es will. Seine Briefe kom­men aus Polen, aus Frank­reich, von der rus­si­schen Front. Ein paar­mal kriegt Erich Urlaub, manch­mal nur, um seine Wun­den aus­zu­hei­len für den nächs­ten Front­ein­satz. Ein voll­stän­di­ges Fami­li­en­le­ben sollte es für diese bei­den nicht geben. Niemals.

Her­bert, mein Bru­der, wurde im Juli 1945 gebo­ren. Über sei­ner Geburt stan­den keine freund­li­chen Sterne. Er war in einem der letz­ten Kriegs­ur­laube sei­nes Vaters Erich gezeugt wor­den. Lie­se­lott trug ihn aus, indem ihre Sorge um Erichs Über­le­ben an der Front stän­dig wuchs. Und auch die Angst, wie es mit ihr und den Kin­dern, mit allen Sude­ten­deut­schen wei­ter­ge­hen werde. Ihre Eltern Gus­tav und Eli­sa­beth, über­zeugte und tat­kräf­tige Anti­fa­schis­ten, waren 1938 nach Lon­don emi­griert. Lie­se­lott hatte nicht mit­ge­hen wol­len, war damals gerade 20 Jahre alt und dabei, eine eigene Fami­lie zu grün­den. Jetzt, sie­ben Jahre spä­ter, im Früh­jahr 45 schreibt sie sehn­süch­tige, fast ver­zwei­felte Briefe an ihre Mut­ter, ach, wäre sie doch nur mit­ge­gan­gen, könnte sie doch gleich heute ihre Erika ein­pa­cken und zu ihnen kom­men, sie würde es unver­züg­lich tun, aber so, in „die­sem Zustand“? Als der Geburts­ter­min näher rückt, wird ihre Situa­tion immer bedrü­cken­der. Sie ist nur mit Mühe in der Lage, den 8. Mai 1945 als Hoff­nungs­tag zu emp­fin­den, denn sie hält Erichs Ver­miss­ten­an­zeige in den Hän­den. Lebt er über­haupt noch? Ver­schol­len. Und das obwohl doch die­ser ver­fluchte Krieg gerade zu Ende gegan­gen ist, obwohl Erich doch erst im April noch – ver­wun­det zwar, aber am Leben – in einem Pra­ger Laza­rett gelan­det war. Damals hatte sie den Gedan­ken an Deser­tion, er solle doch „ein­fach abhauen“, sich bis Rei­chen­berg durch­schla­gen, das kaum mehr als eine Eisen­bahn­stunde von Prag ent­fernt lag. Aber das hatte Erich weder gekonnt noch gewollt. Und so war er als Kriegs­ge­fan­ge­ner in den aller­letz­ten Kriegs­ta­gen noch in den Wei­ten Russ­lands ver­schwun­den, wie sich spä­ter her­aus­stellte. Der Frie­den übri­gens, so schreibt Lie­se­lott ihrer Mut­ter, sehe nicht wirk­lich nach Frie­den aus, die Tsche­chen waren dabei, den Spieß umzu­keh­ren. So wie 1938 die Deut­schen die Tsche­chen behan­delt haben, so tun diese es nun umge­kehrt, fin­det sie. Und sie erlebt Anfein­dun­gen, ihre anti­fa­schis­ti­sche Hal­tung und die Exil­kämpfe ihrer Eltern spie­len über­haupt keine Rolle. Ob sie denn nach­wei­sen könne, dass sie Anti­fa­schis­ten waren? Behaup­ten könne man viel, bekommt sie auf dem Ein­woh­ner­amt zu hören. Als der Kleine gebo­ren ist, im Juli 45, kommt Lie­se­lott aus der Kli­nik nach Hause und weiß nicht mehr wei­ter. Aber Tante Alice, Schwes­ter ihrer Mut­ter, ist da für sie. Sie hilft ihr die Kin­der zu betreuen, Ämter­gänge zu erle­di­gen, die dro­hende Aus­sie­de­lung vor­zu­be­rei­ten. Ach Mut­terle, schreibt die 27-Jäh­rige nach Lon­don, hier gibt es keine Zukunft für uns.

Her­bert geht fast unter in die­sen Lebens­sor­gen. Als die Groß­el­tern aus Lon­don zurück­keh­ren, tritt mehr Ruhe und Für­sorge für ihn ein. Sie brin­gen dem mage­ren klei­nen Kerl „Cow and Gate“ mit, einen nahr­haf­ten Milch­er­satz. Und sie ste­hen Lie­se­lott, Alice und den Kin­dern bei, die Umsie­de­lung zu bewäl­ti­gen. Aber zur Besin­nung kommt die Fami­lie eigent­lich erst, als Lie­se­lott und Elly zusam­men­zie­hen. Im Früh­jahr 1947. Zwei Frauen und zwei Kin­der. Frolln Anni und ich kom­men erst spä­ter dazu.

Wie es kam, dass Her­bert schließ­lich mehr beach­tet und ver­wöhnt, ja sogar mit Hoff­nun­gen über­frach­tet wurde, weiß ich nicht. Sollte die­ses Ver­hal­ten der Frauen ver­de­cken, dass sie sich zwar dem Groß­zie­hen von Töch­tern, nicht aber dem eines Soh­nes gewach­sen fühl­ten? Unser Haus­halt war ein Frau­en­haus­halt. Her­bert wurde zum Alles­kön­ner gekürt, zum beson­ders Begab­ten und „ein­zi­gen Mann im Haus“, auf den – so waren sich die Frauen sicher – sein Vater beson­ders stolz gewe­sen wäre. Wenn er denn Vater hätte wer­den kön­nen. Aber für Erich hatte es nur Front­ein­sätze gege­ben. Wer weiß, was er erlebt hat? Er war nicht frei­wil­lig in den Krieg gegan­gen – für diese sechs kaum unter­bro­che­nen, qual­vol­len Jahre. Zum Schluss noch die Gefan­gen­schaft, in die er schon als Kran­ker, ver­letzt durch Schüsse, hin­ein­ge­ra­ten war. Und schließ­lich die schwere Mala­ria. Im Herbst 1946 war Erich, fünf­und­drei­ßig­jäh­rig, noch ein­mal heim­ge­kehrt, aber nur um zu ster­ben. Da ist Lie­se­lott mit den Kin­dern schon in Halle in einer klei­nen Dach­woh­nung gelan­det. Sie sieht sei­nen Tod anfangs noch nicht, will ihn nicht sehen, kämpft um Medi­ka­mente, will, dass er in ein Sana­to­rium auf­ge­nom­men wird. Aber es gibt zu viele Fälle von glei­cher Bedürf­tig­keit. Sie sagt ihm, wir schaf­fen alles, Erich, Haupt­sa­che, wir sind zusam­men. Er schüt­telt den Kopf. Nimm die Kin­der mit hin­aus, die sind so laut, soll er gesagt haben. Das schreibt Lie­se­lott ihrer Mut­ter. Aber Erich, habe sie erwi­dert, wir haben doch eine Zukunft. Jetzt wird alles gut.

Du hast eine Zukunft, habe Erich da erwi­dert, ich nicht.

So wurde Erich, der Tisch­ler, der bald dar­auf starb, nur ein Ver­mächt­nis, ein Tat­be­stand, der den Jun­gen fast erdrückte, ihn schutz­los, hilf­los, jäh­zor­nig wer­den ließ. Er musste zei­tig in sei­nem Leben grö­ßer und geschick­ter sein, als er konnte. Sein Anspruch an sich selbst: immer der Erste, der Beste sein. Eine schwere Last. Da war Eikas Trotz­po­si­tion ein­fa­cher, wenn auch nicht fröh­li­cher: Lie­ber biese sein, dann war das Erschre­cken Sache der ande­ren, nicht die eigene. Her­bert musste den Schre­cken ertra­gen, der aus ihm selbst kam. Und den, der von außen auf ihn her­un­ter­brach. Es gab nur den Schat­ten eines Vaters. Nichts zum Festhalten.

Zu Pfings­ten 1946 hatte also meine Mut­ter die Sachen packen und aus­sie­deln, weg­zie­hen müs­sen aus Rei­chen­berg. Hei­mat­ver­lust. An der Hand eine Drei­jäh­rige und im Kin­der­wa­gen den fast Ein­jäh­ri­gen. Hoch dar­über getürmt so viel Gepäck wie mög­lich. Aber immer­hin noch eine halbe Wag­gon­la­dung Sachen dazu, die sie mit ihren Tan­ten, den Schwes­tern ihrer Mut­ter, und deren Fami­lien teilte. Ihre Eltern waren jetzt – pro forma – aner­kannte Anti­fa­schis­ten, Eng­land-Emi­gran­ten, des­halb der geneh­migte halbe Wag­gon. Trotz­dem Film­riss. Eine Reise ins Unbe­kannte. Für die 100 km zwi­schen Rei­chen­berg und Bad Schandau an der Elbe brauch­ten sie drei Tage. Ein unfrei­wil­li­ges „heim ins Reich“, nun in ande­rer Rich­tung. Die­ses „Reich“ war mei­ner Mut­ter fremd, es war unge­liebt, es hatte sich 1938 nach Böh­men hin­ein­ge­drängt und ihre Eltern ver­trie­ben. Jetzt, wo es selbst wie­der aus­ge­trie­ben war, wurde sie ihm nach­ge­schickt. Logik die­ses Krie­ges. Erst Halle, dann Ber­lin. Fremde Orte, fremde Mund­ar­ten. Doch dann end­lich – Klein­mach­now, das wie eine heile, helle Insel im kriegs­zer­stör­ten Deutsch­land winkte. 1947. Da war schon ein hei­mat­lo­ses Jahr ver­gan­gen, das den zwei Frauen zwei Todes­fälle gebracht hatte. Jetzt waren sie Wit­wen, lange vor der Zeit.

Für mich, erst spä­ter gebo­ren (da hatte es vor­über­ge­hend jene neue Hoff­nung mit Fritz gege­ben, der zwar nicht blieb, aber doch mein Erzeu­ger wurde), für mich hatte die Drei­er­reihe, die wir Geschwis­ter bald bil­den wür­den, eine Rolle parat, die ich bald durch­bre­chen sollte: die des „lie­ben klei­nen Din­ges“. Omas Stoß­seuf­zer: die Kleine ist ein lie­bes Kind, ok die Gro­ßen machen sie manch­mal böse!

Die­ses ok gibt es nicht mehr. Ein ver­här­te­tes und ver­kürz­tes auch oder nur. Ich höre es noch manch­mal in der Lau­sitz, kumm ok! Sogar: kumm oke!  Die Frauen hat­ten es von daheim mit­ge­bracht, es blieb in ihrer All­tags­spra­che zeit ihres Lebens. Mit ihnen starb es dann. Jeden­falls hier, in der Mitte des Lan­des, das nun DDR hieß.

Die zuge­dach­ten Rol­len sind einem auf den Leib geschrie­ben und haben ihre lebens­lange Wir­kung.  Zumin­dest dann, wenn man sie nicht durch­bro­chen hat. Aber selbst dann: Sie sind auch in ihrer Negie­rung, im Ver­such, sie abzu­wer­fen, noch wie eng anlie­gende Klei­der, die, egal, ob es einem gefällt oder nicht, immer am Kör­per kle­ben blei­ben und wei­ter mit­wach­sen wie die Haut. Sogar geflickt, ver­narbt. Alle spä­te­ren Rol­len sind wie Män­tel. Man trägt sie allen­falls darüber.

 

Erichs Schlit­ten

Zu Klein­mach­now gehört noch mehr. Die Vision jenes Win­ters, in dem ich dort auf die Welt kam. Ange­kün­digt und berech­net für Mitte Dezem­ber wurde ich ein „über­tra­ge­nes Kind“ – eine Benen­nung  von geheim­nis­vol­ler Bedeu­tung. Zu viel getra­gen? Eigent­lich, meine ich, kann man gar nicht genug getra­gen wer­den, ich lasse mich spä­ter gern tra­gen, sitze auf Omas Schoß, auf Her­berts Schul­tern, auf allen mög­li­chen Armen.

Anni und Oma erzäh­len die Geschichte der Sil­ves­ter­nacht, in der schließ­lich das Getra­gen­sein ein Ende fand: Und da haben bei Lie­se­lott die Wehen ein­ge­setzt, und dann haben wir kein Taxi mehr bekom­men, weil  es nur ein ein­zi­ges in Klein­mach­now gab und der Fah­rer gesagt hatte, er fahre nicht in der Sil­ves­ter­nacht, und da hät­ten sie Lie­se­lott warm ein­ge­packt und auf den gro­ßen Schlit­ten, den mit dem Gurtge­flecht, gesetzt, den Erich vor dem Krieg noch gebaut hatte, und dann haben sie Lie­se­lott durch das ver­schneite Klein­mach­now gezo­gen, vom Mei­sen­busch bis zum Kran­ken­haus. Und dann habe es auch gar nicht mehr lange gedau­ert, bis ich auf der Welt war. Gerade beginnt das Jahr 1952.

Gut, dass es den gro­ßen, sta­bi­len Schlit­ten mit dem Gurtge­flecht gibt. Und auch ein biss­chen trau­rig: der, der ihn wie für die Ewig­keit gebaut hatte, viel­leicht 15 oder 16 Jahre zuvor, Erich, der Tisch­ler, ist nicht mehr am Leben. Lebte er noch, säße seine Frau nicht mit dem Kind von einem ande­ren Mann im Bauch auf sei­nem Schlit­ten und würde von Oma und Anni durch das ver­schneite Klein­mach­now zur Ent­bin­dung gezo­gen. Dann wäre auch ich noch sein Kind gewor­den. Aber er ist schon fort. Die Väter der Fami­lie hat­ten nur kurze Auf­ent­halte bei den Frauen. Sie waren Flüch­tige, die nur Sta­tion mach­ten, bevor sie in den nächs­ten Ein­satz muss­ten. Immer zog sie etwas von ihren Kin­dern und Frauen fort, ein töd­li­cher Krieg, eine höhere Pflicht oder eine andere Liebe. Für Kin­der macht das wenig Unter­schied. Die Väter fehlten.

Der Schlit­ten war geblie­ben, er wurde immer „Erichs Schlit­ten“ oder „der Große“ genannt. Des­halb rodel­ten auch „die Gro­ßen“, Erika und Her­bert, auf ihm. Für mich so zum Her­um­rut­schen, sei er zu schwer. Ich bekam schon bald zu Weih­nach­ten einen klei­ne­ren, leich­te­ren. Der hatte aber nur Holz­leis­ten zum Drauf­set­zen, keine Gurte. Und er sauste nicht halb so schnell den Rodel­berg hin­un­ter, der ein ein­ge­wach­se­ner Kriegs­schutt­hau­fen war. Immer schielte ich nach dem Gro­ßen – mit dem Gefühl, von etwas Beson­de­rem aus­ge­schlos­sen zu sein, wenn ich nicht auf ihm rodeln durfte. An die­sem Schlit­ten schie­den sich die Geschwis­ter. Schließ­lich aber machte gerade er mir ein beson­de­res Geschenk.

Ein­mal näm­lich hol­ten mich Her­bert und sein Freund Karl-Heinz, vom Rodel­berg kom­mend, mit Erichs Schlit­ten vom Kin­der­gar­ten ab. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag und es däm­merte am Him­mel mit Far­ben, die ich aus dem Tusch­kas­ten kenne. Die bei­den Elf­jäh­ri­gen haben keine Lust, eine Fünf­jäh­rige vom Kin­der­gar­ten abzu­ho­len, sie sind rup­pig. Ich kriege den Befehl, mich auf dem Schlit­ten rich­tig fest­zu­hal­ten, jetzt gibt’s Tempo! Und dann rasen sie los, dass die Schlit­ten­schnur sich straff spannt. Durch den Ruck falle ich nach hin­ten auf die gefloch­tene Sitz­flä­che und habe plötz­lich einen ver­blüf­fen­den Blick – von ganz unten bis zum Him­mel. Rechts und links Häu­ser, Bäume, Zäune, die vor­bei­flit­zen. Ich rut­sche noch ein biss­chen wei­ter nach hin­ten, über die Gurte hin­aus, so dass der Kopf nach unten bau­meln kann. Und da ist der Anblick Klein­mach­nows noch schö­ner. Das rasende Kehr­bild beglückt mich. Ein Film, der mit mir Hals über Kopf davon­läuft. Eine ganz andere Welt, als ich sie, Kopf oben, aus Augen­höhe sehe. Mehr! Davon will ich mehr sehen, in die­sem lila­rosa Abend­glanz. Ich schiebe mich noch etwas wei­ter nach hin­ten – aber da ist es auch schon zu weit und ich rut­sche vom Schlit­ten auf die Straße. Nein, nichts pas­siert, ich rapple mich hoch und reibe mei­nen Hin­ter­kopf, nicht der Rede wert. Bloß – die Jun­gen mer­ken nichts. Sie ren­nen wei­ter. Der schwere Schlit­ten ver­mel­det nichts von sei­ner ver­lo­re­nen Last. Ich rufe so laut ich kann. Sie hören mich nicht. Und es braucht eine ganze Weile, bis sie, lang­sa­mer wer­dend, mer­ken, dass der Schlit­ten leich­ter gewor­den ist. Umkehr. Sie sind wütend, dass sie noch­mal zurück müs­sen wegen so einer blö­den Göre.

Mir aber gehört ab jetzt der rasende Hals-über-Kopf-Film von Klein­mach­now, so wie mir schon lange das ruhige, ste­hende Bild des Städt­chens gehörte.

 

Die Gebrü­der Blüthner

1958 hatte meine Mut­ter ihre Dis­ser­ta­tion abge­schlos­sen und ver­tei­digt. Über Gott­hold Ephraim Les­sing und „die erzie­he­ri­sche Wir­kung sei­ner Werke“. Nun stand an, sich um eine Arbeits­stelle an einer der Uni­ver­si­tä­ten zu bewer­ben. Greifs­wald? Jena? An bei­den waren Stel­len für einen Ober­as­sis­ten­ten frei, also fuhr Lie­se­lott zuerst in die eine, dann in die andere Stadt, um zu sehen, wo sie sich ansie­deln möchte. Sie guckte sich die Städte an, nicht die Arbeits­stel­len. Die wür­den schließ­lich so unge­fähr das­selbe von ihr ver­lan­gen: Aus­bil­dung von Leh­rer­stu­den­ten. Aber wie man sich in einer Stadt und der umlie­gen­den Land­schaft fühlt, das erschien ihr wich­tig. Die Ent­schei­dung fiel ihr nicht schwer: Jena bot Berge und viel Grün, es hatte etwas anhei­melnd Klein­städ­ti­sches durch die Lage im Tal­kes­sel und die Über­schau­bar­keit des eigent­li­chen Stadt­zen­trums. 400 x 500 Meter Alt­stadt. Viele Insti­tute der Uni in weni­gen Minu­ten zu Fuß erreich­bar! Das Haupt­ge­bäude lag in der nord­öst­li­chen Ecke. Auch ähnelte die gebir­gige Gegend ihrer alten böh­mi­schen Hei­mat. So ent­schied sich meine Mut­ter für Thü­rin­gen. Im Früh­som­mer des Jah­res 58 fuhr sie mit Erika, jetzt  15 Jahre alt, nach Jena vor­aus, um eine Woh­nung für uns auszusuchen.

Sie wohn­ten zuerst in der Fraun­ho­fer­straße in einem Uni­wohn­heim, mit­ten im präch­tigs­ten Vil­len­vier­tel der Stadt. Von hier aus erkun­de­ten sie die Wohn­la­gen und ent­schie­den sich schnell für eine Woh­nung mit­ten in der Innen­stadt, in der Frau­en­gasse. Warum sie nicht ein biss­chen gedul­di­ger gesucht hät­ten, fragte meine Groß­mutter spä­ter, viel­leicht hät­ten sie ja auch in einem der schö­ne­ren Wohn­quar­tiere, unter dem Land­gra­fen oder in den Kern­ber­gen, eine Mög­lich­keit gefun­den? Aber Lie­se­lott hatte ihre eige­nen kla­ren Vor­stel­lun­gen. Auf Reprä­sen­tanz der Wohn­lage kam es ihr nicht an, schließ­lich waren alle Men­schen gleich und sie ganz ohne Dün­kel oder soziale Vor­be­halte. Sie ach­tete eher auf die prak­ti­schen Sei­ten. Außer­dem musste es schnell gehen, lange zu suchen war nicht mög­lich, ihre Arbeit sollte im Sep­tem­ber begin­nen, also muss­ten wir spä­tes­tens im August nach Jena gezo­gen sein. Sie ent­schied sich für eine Vier­zim­mer­woh­nung in der Frau­en­gasse. Mir erschien das ferne Jena, von dem in den letz­ten Klein­mach­nower Som­mer­wo­chen oft gespro­chen wurde, als eine ganz beson­ders frau­en­be­tonte Stadt, allein durch die Namen zweier Straßen.

Vor dem Haus Nr. 63 im Mei­sen­busch stand also an einem August­tag des Jah­res 1958 ein dickes, rotes, innen gepols­ter­tes Möbel­auto mit der Auf­schrift Gebrü­der Blüth­ner. Zu mei­nem Erstau­nen schlepp­ten meh­rere schwit­zende Gebrü­der unsere Möbel durch den Gar­ten hin­aus auf den san­di­gen Bür­ger­steig und bau­ten sie dann in den Innen­raum des dicken Autos ein – wie in ein neues Wohn­zim­mer, nur viel enger ver­schach­telt. Lachend wurde uns ange­bo­ten mit­zu­fah­ren, wir könn­ten uns in die Ses­sel set­zen und ein­fach gleich mit den Möbeln umzie­hen. Die Fami­lie fuhr aber doch lie­ber per Bahn. Ob ich, mit erst sechs Lebens­jah­ren, wäh­rend der Fahrt von Ber­lin nach Jena die Schön­heit der Saa­le­land­schaft bei Wei­ßen­fels und Naum­burg schon erkannte? Spä­ter habe ich sie lie­ben gelernt. Sanft gebu­ckelte Wein­berge und Bur­gen oben drauf! Eine Landschaftsüberraschung.

Anni kehrte nach eini­gen Tagen wie­der nach Klein­mach­now zurück. Sie hatte vor, im Röh­ren­werk Tel­tow arbei­ten zu gehen und nicht wei­ter eine so unzeit­ge­mäße Stel­lung wie die einer Haus­an­ge­stell­ten zu beklei­den. Der Abschied fiel ihr nicht leicht. Wir waren schließ­lich ihre Fami­lie gewe­sen, nicht nur eine Art „Dienst­herr­schaft“, zumal Mutti und Oma sie nicht als Ange­stellte behan­del­ten, sie in ihre Ent­schei­dun­gen ein­be­zo­gen, sie ach­te­ten und nah­men, wie sie war. Mich hat Anni immer ein biss­chen als eige­nes Kind ange­se­hen. Beim Kochen durfte ich auf ihrem Arm sit­zen, mich an ihrem Hals fest­hal­ten und von oben in die Töpfe gucken, in die sie mit der ande­ren Hand den Holz­löf­fel tunkte und mit ihm darin her­um­rührte. Dabei hatte sie mir mit ihrer schö­nen rauen Stimme See­manns­lie­der vor­ge­sun­gen. „Antje, mein blon­des Kind“. Das Lieb­lings­lied ihres toten Ver­lob­ten. Und sie hatte mir von ihrem Zuhause erzählt, das in Pom­mern lag, weit weg und versunken.

 

Frau­en­gasse

In die Frau­en­gasse zogen zuerst nur Erika, Her­bert, Mutti und ich ein. Auch Oma fehlte. Das Drei­fa­mi­li­en­haus war eine Villa aus den 1920er Jah­ren, die Woh­nung hell und durch­aus modern. Sie hatte eine Zen­tral­hei­zung, die vom Kel­ler aus zu bedie­nen war, Par­kett und große Fens­ter, eine geräu­mige Küche mit Spei­se­kam­mer und ein Bad mit Gas­boi­ler. Das Wohn­zim­mer besaß einen aus­ge­bau­ten Erker, in dem Ses­sel und ein Tisch­chen ste­hen konn­ten, und eine Glas­schie­be­tür zum benach­bar­ten Zim­mer. Schön. Wir waren ein­ver­stan­den. Zumal uns ein Stück Gar­ten gehö­ren sollte, in dem man spie­len, Wäsche auf­hän­gen, in der Sonne sit­zen oder in der Erde bud­deln konnte. Her­bert und ich beka­men zusam­men das quer­lie­gende Zim­mer am Ende des lan­gen Flurs, die bei­den ver­bun­de­nen Zim­mer wur­den Wohn­zim­mer. Eins davon mit einem Gäs­tesofa. Und im Schlaf­zim­mer – Erichs wuch­tige Tisch­ler­mö­bel waren mit umge­zo­gen – kam­pier­ten Mutti und Erika. Da Oma sich eine kleine Woh­nung in Klein­mach­now genom­men hatte, war sie zunächst nur besuchs­weise da. Sie zögerte offen­bar, ganz mit uns zu zie­hen. Wollte sie ihre Toch­ter dazu brin­gen, sich allein um sich selbst und ihre Kin­der zu küm­mern? Oder hatte meine Mut­ter dar­auf bestan­den, noch ein­mal einen Anlauf in ein eige­nes Leben zu wagen, in dem sie nicht bestän­dig Toch­ter war? Nach einem Jahr aber war das Expe­ri­ment kläg­lich geschei­tert und Oma wohnte wie­der bei uns.

Mich inter­es­sierte die Woh­nung weni­ger als die Frau­en­gasse, in die es uns ver­schla­gen hatte. Was für eine kuriose neue Hei­mat! Manch­mal, wenn ich über Klein­mach­now nach­dachte, das für meine ers­ten sechs Lebens­jahre ein ebenso schö­ner wie geschütz­ter Raum zum Auf­wach­sen gewe­sen war, stand vor mir die Frage, warum ich nicht getrau­ert habe, als wir weg­zo­gen. Ich wusste komi­scher­weise ganz genau, dass jetzt etwas Neues begin­nen würde, dem ich gespannt ent­ge­gen­sah. Ich war auch nicht ent­täuscht über das neue Wohn­quar­tier, das bei wei­tem weni­ger idyl­lisch war als das Klein­mach­nower.  Alles Neue war hoch­in­ter­es­sant und regte meine Fan­ta­sie an. Erwach­sene unter­schät­zen oft den unbe­las­te­ten Prag­ma­tis­mus von Kin­dern. Sie über­tra­gen ihre eige­nen Gefühle, die mit ihren Erfah­run­gen zusam­men­hän­gen, auf die Kin­der, die weder sol­che Erfah­run­gen noch Gefühle haben kön­nen, ein­fach weil sie noch nicht genug erlebt haben. Kin­der ler­nen erst zu ver­glei­chen. Ich war jeden­falls von dem Moment an, wo der gepols­terte rote Möbel­wa­gen aus dem Mei­sen­busch aus­bog und ver­schwand, in Gedan­ken schon abge­reist und unter­wegs in jene „Stadt der Frauen“ mit dem wei­chen Namen Jena, der eigent­lich auch fast wie ein Frau­en­na­men klang. Ich hatte Ver­trauen, lebte nach vorn. Also tat der Abschied nicht weh.

Es muss gleich am Tag nach unse­rem Ein­zug gewe­sen sein, da klin­gelte ein  ganz und gar unbe­kann­tes, viel­leicht 10-jäh­ri­ges Mäd­chen an unse­rer Tür und fragte meine öff­nende Mut­ter nach kur­zem Druck­sen: Kommt das Kind raus? Ich stand in Hör­weite und war ver­blüfft. Wie hatte denn das fremde Mäd­chen so schnell mit­be­kom­men, dass es hier „ein Kind“ gab? Zugleich war mir bewusst, dass ich nie und nim­mer den­sel­ben Mut gehabt hätte wie sie, von Unbe­kann­ten etwas so direkt zu ver­lan­gen oder zu erfra­gen! Stark. Sie schien mir reif, fast erwach­sen. Meine Mut­ter drehte sich zu mir um, aber da war ich schon dabei, selbst die Ant­wort zu geben. So schnell ging das – in der Frau­en­gasse anzukommen.

Die Fra­ge­rin hieß Regina. Sie wohnte in der Kneisl-Villa schräg gegen­über. Regina war ein beson­de­res Mäd­chen. Sie hatte braune Locken und eine sanft bräun­li­che Haut, das Auf­fäl­ligste aber war die Farbe ihrer Lip­pen. Sie waren wirk­lich him­beer­rot. Ich fand Regina fast so schön wie meine große Schwes­ter Erika. Und es war ein­fach wun­der­bar, dass sie mich gewis­ser­ma­ßen erwar­tet hatte.

So leicht war also der erste Kon­takt im frem­den Jena ent­stan­den und ich rutschte wie von selbst in die Kin­der­welt der Frau­en­gasse hin­ein, die sich jeden Tag auf’m Schutt ver­sam­melte. Zu ihr gehör­ten Regina und ihr klei­ner Bru­der Jür­gen, Bär­bel und Peter aus der Frau­en­gasse 9 und eine wei­tere Regina aus Nr. 21 mit zwei Brü­dern. Elvira kam aus der Nr.15 und vom Eisen­bahn­damm gesell­ten sich Heidi, Man­fred und Syl­via dazu. Aus dem abge­blät­ter­ten, putz­lo­sen Back­stein­haus Frau­en­gasse 1 stamm­ten fünf ziem­lich unge­wa­schene Gebrü­der, von denen immer ein paar mit von der Par­tie waren. Aus der Frau­en­gasse 13 kam Jul­chen. Sie war schon 12 wie mein Bru­der Her­bert, aber klein und schmäch­tig. Auch sie ver­blüffte mich durch ihre schöne Direkt­heit, mit der sie mir vor­schlug, doch, wenn ich her­aus­käme, stets ein paar Mar­me­la­den­brote mit­zu­brin­gen, sie habe eigent­lich immer Hun­ger. Da sie in einem der bes­se­ren Häu­ser der Frau­en­gasse wohnte, ver­blüffte mich die­ser Wunsch. Hatte sie denn kein Zuhause zum Satt­wer­den? Sie hatte mir gleich bei unse­rer ers­ten Bekannt­schaft mit­ge­teilt, dass ihr Vater Diplom­in­ge­nieur sei, was wie Blu­men­in­ge­nieur klang. Ein schö­ner, blü­hen­der Beruf, stellte ich mir vor. Was die Mar­me­la­den­brote betraf, so glaube ich, Jul­chen wollte ein­fach bei Hun­ger nicht wie­der nach Hause gehen. Schließ­lich war man ja nie sicher, ob man dann wie­der zurück auf die Straße durfte.

Der Name unse­res Spiel­ter­rains kam tat­säch­lich davon, dass noch vor kur­zem hier Schutt gela­gert hatte. Der Platz war etwa so groß wie die Flä­che des Hau­ses, das es nicht mehr gab. Es war den Bom­ben des Früh­jah­res 1945 zum Opfer gefal­len. Sein Feh­len machte sich auch in der Reihe der Haus­num­mern bemerk­bar, die nun nicht mehr lücken­los und logisch war. Was aber das Aller­merk­wür­digste in der Frau­en­gasse war: Sie hatte Kopf­stein­pflas­ter. So etwas kannte ich nicht. Schon gar nicht so ein kinds­kopf­gro­ßes, röt­lich-gel­bes Gebu­ckel, aus­ge­fah­ren von den dicken, unge­len­ken Bus­sen des Kraft­ver­kehrs, die sich täg­lich hier hin­durch­wälz­ten, denn aus­ge­rech­net diese enge, hol­pe­rige Gasse beher­bergte den städ­ti­schen Kraft­ver­kehr. Seine Zen­trale war jene Kneisl-Villa, in der Regina wohnte. Wer aber deren Namens­ge­ber, wohl ein Herr Kneisl, war, erfuhr ich nie. Die Frau­en­gasse war also sowohl eine Wohn‑, als auch eine Arbeits­welt – auf engs­tem Raum. Ein Kon­glo­me­rat aus Häu­sern und Men­schen, aus Bus­sen und schie­fen Later­nen, aus ver­steck­ten Gär­ten und dem Krach von Fahr­zeu­gen und Maschi­nen. Die Wohn­häu­ser von sehr unter­schied­li­cher Breite und Höhe duck­ten oder erho­ben sich in zwei mehr oder weni­ger geschlos­se­nen Rei­hen von Nord nach Süd. Sie wirk­ten wie ein unre­gel­mä­ßig gewach­se­nes Gebiss. Man­che waren noch nicht ein­mal an die öffent­li­che Kana­li­sa­tion ange­schlos­sen, hat­ten Pum­pen im Hin­ter­hof und Plumps­klos. Aber die Bewoh­ner der Frauengasse, zu denen – ent­ge­gen mei­ner ers­ten Vor­stel­lung – natür­lich auch Män­ner gehör­ten, waren freund­lich und kin­der­lieb. Und ziem­lich neu­gie­rig. Sie leg­ten sich gern Kis­sen in die geöff­ne­ten Fens­ter, guck­ten uns Kin­dern beim Spie­len zu. Eine Mikro­welt aus den unter­schied­lichs­ten Men­schen und ihren hin- und her­lau­fen­den Gesprächs­fet­zen, Fra­gen und Zuru­fen. Nichts Wich­ti­ges blieb geheim. Und der Schutt war die Zen­trale: ein Umschlag­platz für Kon­takte und Informationen.

Und natür­lich ein Sport­platz! Wir krat­zen Hüp­pe­käst­chen in den Boden und spran­gen drin herum. Die Eisen­ge­län­der, deren ursprüng­li­che Funk­tion ich mir nicht erklä­ren konnte, luden dazu ein, alles was wir im Sport­un­ter­richt lern­ten, hier zu üben, vor­ran­gig Felg­auf­schwünge. (Was für ein Wort! Unter all dem Neuen hatte ich gerade die Teu­fels­lö­cher ken­nen gelernt, den run­den, gehöhl­ten Fels am Ende der Wöll­nit­zer Straße. Des­halb viel­leicht ver­stand ich Fels­auf­schwung.) Das Belieb­teste aber war: von den Knie­keh­len aus, ent­spannt nach unten hän­gend Schwei­neb­am­mel zu machen, vor­aus­ge­setzt, man hatte als Mäd­chen Turn­ho­sen statt eines Rockes an. Spä­ter kamen Feder­ball­spiele auf. Und die Jun­gen spiel­ten Fußball.

Aber ich hatte ja auch noch eine andere Aus­fall­rich­tung zum Spie­len und Her­um­trei­ben: den Bahn­damm hin­ter unse­rem Haus! Hier konnte man eben­falls an Eisen­ge­rüs­ten klet­tern. Die waren in Abstän­den von viel­leicht 50 Metern zur Stüt­zung des Dam­mes ange­bracht. Sie kamen etwa einen Meter über dem Boden aus der Mauer des Bahn­dam­mes her­aus und reich­ten bis zur obe­ren Kante. An ihnen zu klet­tern war gefähr­lich, machte aber Spaß. Der Bahn­damm war übri­gens kein häss­li­ches Bau­werk, er hatte große, unre­gel­mä­ßig behauene Natur­steine als Fun­da­ment und eine Krone aus eben­sol­chen, aber etwas klei­ne­ren Stei­nen. An sei­ner Rück­seite, die zur Saale zeigte, war der Bahn­damm ein grün bewach­se­ner Wall. Dort konnte man hin­auf­klet­tern, um die Züge ganz nah zu sehen und ihren hef­ti­gen Zug­wind wie einen Schlag abzu­be­kom­men. Auch das war gefähr­lich. Aber es wollte aus­pro­biert sein.

Der Bahn­damm bot über­haupt aller­hand Ver­gnü­gun­gen. Man konnte Zähl­spiele ver­an­stal­ten: wie­viel Wagen hat der Zug? Gerade Zahl: Glück, unge­rade Zahl: Unglück. Man winkte den Leu­ten an den offe­nen Fens­tern zu und rief auch ab und zu Frech­hei­ten hin­auf, die kei­nen stör­ten, weil sie im Gerat­ter unter­gin­gen. Und am Bahn­damm­weg konnte man etwas noch viel Bes­se­res tun, näm­lich Fahr­rad­fah­ren. Par­al­lel zum Damm ver­lief ein Rad­weg. Er reichte von der Fischer­gasse und der Stadt­gärt­ne­rei bis zum Anger. Wer so „hoch zu Ross“ durch die Welt radelte, der war schon fast kein Kind mehr. Und ein Neu­an­kömm­ling erst recht nicht.

 

Sprach­ver­wir­run­gen

Es kam dann fast täg­lich dazu, dass eins von den Kin­dern der Frau­en­gasse an unse­rer Tür stand und fragte: Kommst du raus? Mein Bru­der adap­tierte für sie den thü­rin­gi­schen Begriff Wanst, im Plu­ral Wäns­ter. „Ein Wanst für dich!“ rief er, wenn jemand für mich an der Tür klin­gelte. Ich fand diese Bezeich­nung ver­ächt­lich und krän­kend, waren die Kin­der der Frau­en­gasse doch meine Freunde. Mein Bru­der übri­gens gehörte nicht dazu, er kam nicht mit auf‘n Schutt. War er schon zu groß? Auf jeden Fall ver­passte er gerade das, was ich an der Frau­en­gasse liebte.

In ihr lernte ich die Spra­che ken­nen, die mich ab jetzt umge­ben würde. Einen Wanst hätte man in Klein­mach­now Gör oder Jör genannt. Dort hatte man z.B. auch von Brause gespro­chen, in Jena benutzte man den Begriff Lim­me­nade. So hörte sich das Wort für das süße Geschlab­ber jeden­falls an. Wenn man sich einen blauen Fleck geholt hatte, dann hatte man sich geram­melt. Was eine Schnitte oder Stulle gewe­sen ist, war ab jetzt ein Brot – ein Begriff, den ich bis­lang für das große Ganze benutzt hatte. Schrip­pen gab es gar nicht mehr, das waren jetzt Bröt­chen oder Sem­meln. Und spä­ter, beim win­ter­li­chen Rodeln den Fuchs­turm­weg oder den Saa­le­hang hin­un­ter, brüllte man kurio­ser­weise: Bahni frei – Kar­tof­fel­brei! Oder:  Bah­n­iii – Kar­tof­fel­brüh! Eigent­lich eine sinn­lose Wort­kom­bi­na­tion. Viel­leicht aus Zei­ten stam­mend, in denen Kar­tof­feln ein wesent­li­cher Bei­trag zum Über­le­ben waren? Viel­leicht auch nur eine zufäl­lige Zusam­men­stel­lung, die vom Humor ihrer kind­li­chen Urhe­ber zeugte.

Eine ent­setz­li­che Spra­ch­ent­glei­sung leis­tete sich die Ver­käu­fe­rin aus dem ein­zi­gen Süß­wa­ren­la­den, den ich damals in Jena ken­nen­lernte. Die­ser Laden lag in der Johan­nis­straße; in sei­nem Schau­fens­ter stand ein gro­ßes Glas vol­ler Lut­scher. Ich habe einen Gro­schen in der Hand und will mir einen kau­fen. Also sage ich zur Ver­käu­fe­rin: Einen Lut­scher bitte! Ham­mer­nich, bekomme ich zu hören. Doch, sage ich schüch­tern, da in dem Glas! Ach, du meinst‘n Leckm­adran? Ohne hör­ba­res L in der Mitte. Bei die­sem Wort war mein Erschre­cken über die Thü­rin­ger Spra­che kom­plett. Ein Leck-mal-dran! Das war ja ein gan­zer Satz, der hier zur Bezeich­nung eines klei­nen, unwich­ti­gen Gegen­stan­des diente, der sich in Minu­ten­schnelle mit­tels reich­lich Spu­cke in nichts auf­lö­sen würde! Grotesk.

Jul­chens Mut­ter, Frau Z., die ich sehr gern hatte, weil sie sich öfter mal mit mir unter­hielt und man ihr anmerkte, dass sie gern lachte, erzählte mir viel spä­ter, sie habe mich nach ein, zwei Mona­ten Leben in der Frau­en­gasse gefragt, wie es denn mir und mei­ner Fami­lie in Jena gefiele. Und sie – eine gebür­tige Dresd­ne­rin – habe sich sehr über meine Ant­wort amü­siert: Eijent­lich janz jut, bloß mit de Spra­che komm wa jar nich zurecht! Mir muss das Ber­li­nern noch eine ganze Weile ange­han­gen haben, auch in der Schule nannte mich die Musik­leh­re­rin Frau L. noch lange die kleine Ber­li­ne­rin!

Ganz schreck­lich erschien uns Zuge­zo­ge­nen: In Jena sag­ten alle gelle. Die­ses Wort hatte durch­aus ein Äqui­va­lent im Ber­li­ne­ri­schen. Zur Ver­ge­wis­se­rung fragte man dort wa, was wohl der Rest von nicht wahr oder was war. Das schien aber nicht das­selbe. Kam gelle nicht eher von gel­ten, es gilt? Also eigent­lich: stimmt‘s? Oma und Mutti (die übri­gens ihr sude­ten­deut­sches nuwa bei­be­hal­ten hat­ten) ver­häng­ten aus sprach­äs­the­ti­schen Grün­den über uns alle ein Gelle-Ver­bot, das auch lange vor­hielt. Aber spä­ter, als ich mit mei­nen eige­nen Kin­dern sprach, schlich es sich ganz selbst­ver­ständ­lich ein, zuerst iro­nisch gebraucht, dann selbst­ver­ständ­lich und bei­nahe zärt­lich. Ein ver­kürz­tes gelle, schnell und unbe­tont gespro­chen: gä? Mit hoch­ge­nom­me­ner Stimme, so als suche man eine kurze Bestä­ti­gung, als ver­ein­bare man mit sei­ner Benut­zung Nähe und Zusam­men­klang. Spä­tes­tens mit ihm war Jena meine Stadt geworden.

 

***

»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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