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Dietmar Jacobsen
Erstdruck: Palmbaum 1/2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Gelesen von Dietmar Jacobsen
Man kennt Kathrin Schmidt nicht nur als Lyrikerin, sondern auch als eine Meisterin komplex verschachtelter, psychologisch raffinierter und erzählerisch weit ausgreifender, die Grenze vom Realen zum Phantastischen immer wieder mit leichter Hand überschreitender Erzählwerke. Romane wie Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998), Koenigs Kinder (2002) und Seebachs schwarze Katzen (2005) markierten Höhepunkte auf dem Weg der in Gotha geborenen und heute in Berlin lebenden Autorin zu einer der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Besonders die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts rückt dabei immer wieder in den Mittelpunkt ihres Interesses. Mit ihrem aktuellen Buch knüpft sie nahtlos an die Erfolge ihrer früheren Romane an. Über die spannende Geschichte zweier Familien, der Kapoks und der Schaechters, hinaus liefert auch dieser Roman einen Beitrag zum Verständnis all der Widersprüche, die das 20. Jahrhundert zu einem der blutigsten in der Historie der Menschheit werden ließen.
Anders als es der Titel auf den ersten Blick suggeriert, bestehen verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Schaechter-Schwestern Claudia und Barbara sowie Werner Kapok, mit dem die Mädchen gemeinsam in einer kleinen Siedlung im Ostberliner Stadtteil Treptow aufgewachsen sind, allein auf geistiger Ebene. Und sie enden abrupt, als sich der junge Mann nach Beendigung der Schule aufmacht, um eine Hochschulkarriere zu starten. Erste Liebeserfahrungen, die die Protagonisten verbunden haben – Claudia lässt gar ein Kind von Werner abtreiben, als sie durch Zufall erfährt, dass der sich mit einer seiner Studienkolleginnen eingelassen hat – schlagen um in erstes Leid, ehe man sich schließlich für Jahrzehnte aus den Augen verliert.
Wenn Kathrin Schmidts Roman beginnt, sind die beiden in die Jahre gekommenen Frauen gerade mit der Sanierung ihres Elternhauses in der Siedlung mit dem bezeichnenden Namen »Eintracht« beschäftigt. Knapp 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung hat man sich in das neue Leben hineingefunden. Leicht war es nicht. Alte Träume sind geplatzt, die Verwirklichung von neuen Zielen kostete Kraft, der Tod der Eltern und deren Hinterlassenschaft verhinderte letzten Endes, dass sich jede der Schwestern ihren eigenen Platz in der Welt suchen konnte. Claudia, zu DDR-Zeiten Kostümbildnerin, schneidert inzwischen erfolgreich für eine Handvoll Berliner Modeboutiquen, Barbara kümmert sich innerhalb einer Behörde um Fragen der Kultur. Unverheiratet sind sie beide geblieben, auch wenn das hin und wieder zu kleinen Reibereien führt. Aber sie haben während einer Indienreise auf den Straßen Calcuttas eine Art Patenkind gefunden, an dem nun beider Herz hängt.
Gelegentlich taucht auch Werner Kapok, der beruflich wie privat in der Wendezeit gescheitert ist – als Professor für Marxismus-Leninismus musste er hilflos zusehen, wie sein Bereich in den frühen Neunzigern abgewickelt wurde, Stasivorwürfe gegen ihn erhoben wurden und jeder Versuch einer Neuorientierung auf akademischem Feld schon nach kurzer Zeit fehlschlug -,wieder in der Nachbarschaft auf. Seine Schwester hatte nach dem Tode der Eltern deren Anwesen übernommen und Werner bemüht sich, den Kontakt zu ihr nach Jahrzehnten des Schweigens wieder herzustellen. Zu den Schaechter-Frauen bleibt er zunächst auf Distanz. Doch obwohl man sich wohlweislich aus dem Weg geht, ist es natürlich nicht zu verhindern, dass beim Anblick des bzw. der jeweils anderen auch die längst vergangenen Geschichten wieder in die Köpfe zurückkehren.
Das Konstruktionsprinzip von Kapoks Schwestern ist eng an die langsame Wiederannäherung der drei Hauptpersonen des Romans gebunden und funktioniert ganz ausgezeichnet: Beginnend mit Erinnerungen an die Zeit zu dritt in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, macht man sich – am Anfang getrennt, später gemeinsam über alten Fotos und Filmen sitzend, die sich in den beiden Häusern reichlich finden – auf, um sich seiner je eigenen und der Vergangenheit der beiden Familien zu versichern. Dass dies nicht in chronologischer Reihenfolge geschehen kann, liegt an der Eigenart von Erinnerungsarbeit generell. Deshalb springen die Episoden, in die der Roman zerfällt, vor und zurück in der Zeit, berühren kurz das späte 19. Jahrhundert, ehe sie sich ganz auf die ihm folgenden einhundert Jahre der einander ablösenden Ismen samt den Opfern, die die damit einhergehenden Ideologien forderten, konzentrieren und immer wieder Kreuzungspunkte von Welt- und Privatgeschichte aufspüren.
Dass dabei keine der beiden Familien ungeschoren davonkommt, versteht sich von selbst. Nicht die Schaechters, deren Vorfahren, osteuropäische Juden aus Przemyśl, erst vor den Nazis aus Deutschland, dann vor den stalinistischen Säuberungen aus der Sowjetunion fliehen müssen, bevor sie sich – als im östlichen Deutschland nach Kriegsende ihr Traum von einer besseren Welt an der Realität scheitert – schnell in neue Widersprüche verstricken. Und auch nicht die Kapoks, die, um sich auf der Siegerseite der Geschichte halten zu können, immer wieder zu Verrat, Lüge und Falschheit gezwungen werden.
Am Ende freilich haben die Schwestern nicht nur ihr eigenes Haus in Ordnung gebracht, sondern auch gemeinsam mit Werner Kapok in den beiden Familiengeschichten gründlich aufgeräumt. Gräben wurden zugeschüttet, Missverständnisse beseitigt, Schulden eingelöst. Erinnern und Erzählen dienten als Methoden, mit dem Vergangenen fertig zu werden und Zukunft zu ermöglichen. Dass dabei zuletzt gar noch ein Doppel-Happy-End herausspringt, mag der eine oder andere Leser vielleicht für ein wenig übertrieben halten. Kathrin Schmidts Helden aber ist es auf jeden Fall zu gönnen.
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