Kathrin Schmidt – »Heimat, Heumahd, Heiermahd …«

Person

Kathrin Schmidt

Orte

Gotha

Waltershausen

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Kathrin Schmidt

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Ich bin gerade mal sechs Jahre alt. Mein Bru­der wird bald zwei, er sitzt in einem für DDR-Ver­hält­nisse unge­wöhn­li­chen Sport­wa­gen: Schi­ckes Alu­ge­stell, grü­ner Stoff. Eigent­lich sieht der Wagen aus wie ein klei­ner, fahr­ba­rer Lie­ge­stuhl. Ich kann nicht ein­ord­nen, nur fest­stel­len, dass nie­mand sonst so einen Kin­der­wa­gen hat. Leicht fällt es mir nicht gerade, ihn die Schil­ler­straße in Wal­ters­hau­sen, am Fuße des Thü­rin­ger Wal­des, hin­auf­zu­schie­ben, in die Schnep­f­entha­ler, die neben dem Berg­kamm her­läuft und darum nur eine kaum merk­li­che Stei­gung hat.

Uff, geschafft.

Ich schiebe Brü­der­chen ein Stück in die eine, dann in die andere Rich­tung, schaue mich klamm­heim­lich um, ob mich auch jemand sieht bei die­ser groß­schwes­ter­li­chen Tätig­keit, die ich mit eini­gem Stolz aus­führe. Ich denke nicht an die Dinge, die ich im Netz des Kin­der­wa­gens depo­niert hatte vor der Aus­fahrt. Ja, ich hole mir hin und wie­der ein Stück­chen Apfel aus der Brot­büchse, die mir die Omi, meine Urgroß­mutter, mit­ge­ge­ben hat auf meine Tour, oder ich nippe an mei­ner Siru­pfla­sche. Neben der Brot­büchse und Fla­sche steckt Sig­rid im Wagen­netz, weil ich zum Schie­ben des Wagens beide Hände brau­che. Sig­rid ist unge­fähr so lang wie meine Hand und meine Lieb­lings­puppe. Aus der Pup­pen­stube. Als wir spä­ter wie­der zu Hause sind, das Brü­der­chen wurde von der Omi aus dem Wagen geho­ben und in den Lauf­stall gesetzt, will ich die Sig­rid aus dem Netz fischen, aber sie ist nicht mehr zu entdecken.

Ver­lo­ren. Ich habe sie verloren.

Wäh­rend die Trä­nen schon kul­lern und der Ober­kör­per im Schluch­zen vibriert, kommt die Omi gelau­fen, die das Wei­nen gehört hat. Ich habe die Sig­rid ver­lo­ren… Die Omi umarmt mich, ach­tet dar­auf, dass ich in ihrem gro­ßen Busen über­haupt atmen kann. In ihrem schö­nen Slang, der sich mir erst viel spä­ter als ein ost­preu­ßi­scher her­aus­stel­len wird, sagt sie: Nu wein man nich, mein Mar­ja­ll­che. Eck hew min Hei­mahd ver­lore … Aus­halte musst dat all. Und weint mit mir zusam­men, wäh­rend das Brü­der­chen in sei­nem Lauf­stall steht und irgend­wie ver­ständ­nis­los unsere Bli­cke sucht.

Ich habe nicht Hei­mat ver­stan­den, son­dern Heu­mahd. Heu­mahd ist etwas, was die Omi sehr gut kann und des­halb von Ver­wand­ten und Bekann­ten gebe­ten wird, deren Rasen­stü­cke abzumä­hen. Das macht sie gern. Auf ebe­nen Flä­chen mit einer Sense, die sie zuvor den­gelt, an Hän­gen mit einer Sichel, die sie rasch und geübt durchs Gras fah­ren lässt. Mein Urgroß­mutter ist, als ich sechs Jahre alt bin, so alt wie ich jetzt: Vier­und­sech­zig. Sie ist gut bei Kräf­ten, stark und gesund. Wie kann sie eine Heu­mahd ver­lie­ren? Steht sie denn mit irgend­je­man­dem im Wett­be­werb darum? Meine Sig­rid habe ich im Nach­den­ken dar­über bei­nahe schon ver­ges­sen. Als sie mir wie­der ein­fällt, fange ich noch ein­mal ganz schuld­be­wusst zu wei­nen an, gebe es dann aber lie­ber auf. Zwei Stun­den spä­ter wird Frau Klein von ganz oben die Sig­rid vor­bei­brin­gen, sie hat sie gefun­den, als sie vom Ein­kau­fen kam. In der Schnep­f­entha­ler, Ecke Schillerstraße.

Hei­mat. Heu­mahd. Die bei­den Wör­ter sind untrenn­bar ver­quickt in mei­nem Kopf. Denke ich das eine, kommt schon das andere dazwi­schen. Und beide haben mit mei­ner Urgroß­mutter zu tun, mit der ich bis zum 14. Lebens­jahr ein Zim­mer teilte. Heu­mahd ist Hei­mat für mich. Eine Urgroß­mutter, die Wie­sen­hänge absi­chelt. Der Bol­ler­wa­gen für die Uren­ke­lin am Weges­rand abge­stellt, am Gar­ten­zaun oder hin­ter dem Haus. Das kleine Mäd­chen springt mal raus, mal rein, je nach­dem. Es ist glück­lich, so eine Heu­mahdhei­mat zu haben, so eine Sicher­heit unter Men­schen, die es lie­ben und gern haben und die es liebt und gern hat. Das Leben besteht aus vie­len Tätig­kei­ten, die Erwach­sene aus­üben, damit auch das kleine Mäd­chen es gut hat. Die Eltern arbei­ten als Leh­rer, mit dem Geld, das sie dafür erhal­ten, bezah­len sie das Essen, geliebte Bücher oder ein neues Sofa. Die Urgroß­mutter ver­sorgt die Kin­der, kocht, wäscht, putzt, das hilft den Eltern, die das nach der Arbeit nicht mehr tun müs­sen. Vor allem aber: Die Urgroß­mutter liest vor. Viel und ein biss­chen wahl­los. Die kleine braune Bibel zum Bei­spiel, die das Mäd­chen fas­zi­niert. Frau Klein von ganz oben hat 13 Kin­der. Sie macht „nur“ Haus­halt, aber das ist ganz schön viel. Dau­ernd hängt sie im Gar­ten Wäsche auf oder jätet in den Boh­nen­bee­ten herum. Herr und Frau Ham­b­rock, ers­ter Stock, arbei­ten natür­lich auch, und ihre Toch­ter Ria wird zur Rin­der­züch­te­rin in Sund­hau­sen aus­ge­bil­det. Mit Abitur, sagt Herr Ham­b­rock, wor­über Mäd­chen rät­selt. Ihre Freunde Bär­bel, Clau­dia und Jür­gen kom­men oft zu ihr, sie legen sich alle vier in die große Eiben­ga­bel, die der Vater mit Bret­tern und Matrat­zen zu einer Lie­ge­statt umfunk­tio­niert hat. Süßes, nor­ma­les Leben.

Es ist nicht Nost­al­gie, die mich in die­ses Erin­nern treibt. Ich weiß noch um die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Eltern, die schmerz­haf­ten Kniew­un­den nach Stür­zen, die Klop­pe­reien mit ande­ren Kin­dern, die Momente aus­weg­los schei­nen­der Situa­tio­nen. Aber die Erin­ne­rung ist in mei­nem Fall von einem Gefühl der Ursi­cher­heit, des Auf­ge­ho­ben­seins in fes­ter Bin­dung geprägt, was, wie ich als Erwach­sene erfuhr, nicht glei­cher­ma­ßen für alle Men­schen gilt, also etwas Beson­de­res ist und das Wort „Hei­mat“ grun­diert. Bei­nahe unab­hän­gig von den gesell­schaft­li­chen und sozia­len Bedin­gun­gen: Ein Kind, das um sei­ner selbst wil­len geliebt wird und sich auf­ge­ho­ben fühlt, für die­sen Part war meine Urgroß­mutter zustän­dig, kann in sei­nen ers­ten Jahre Urver­trauen auf­bauen. Die­ses Glück kann ich für mich in Anspruch neh­men. Und so steht der Begriff „Hei­mat“ für mich für den Ort, die Region der ers­ten Sozia­li­sa­ti­ons­er­leb­nisse, wei­tete sich wäh­rend Kind­heit und Jugend auf den Raum der DDR, streckte sich aus in die Ver­gan­gen­heit der deut­schen Geschichte und ließ mich deut­lich spü­ren, dass ich Deut­sche bin, deut­scher Mut­ter­spra­che. Eine Deut­sche, die ziem­lich gut Rus­sisch sprach, was mei­nen Hei­mat­be­griff tat­säch­lich ins Öst­li­che zog. Damals habe ich das nicht bemerkt, es geschah über die poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Beein­flus­sun­gen, denen wir aus­ge­setzt waren, aber auch über die Tat­sa­che, dass Aus­lands­rei­sen mich seit mei­nem 14. Lebens­jahr regel­mä­ßig in die Sowjet­union brach­ten. Ich war eine Ost-Ost­deut­sche … Nach 1989 wurde es sehr deut­lich spür­bar, dass sich meine frühe Prä­gung stark von der west­deutsch Gebo­re­ner unter­schied. Ich hatte kaum einen Zugang zur US-ame­ri­ka­ni­schen Bil­der­welt eines Lebens in der BRD, wie­wohl ich Jimi Hen­drix und Cat Ste­vens geliebt und mir Hosen und Klei­der genäht hatte, wie ich sie auf Bil­dern des Wood­stock-Fes­ti­vals gese­hen zu haben glaubte. (In mei­ner Stasi-Akte steht, dass „die Schmidt“ „hip­pie­mä­ßig“ geklei­det sei, „wahr­schein­lich selbst­ge­näht“.) Ich hatte viel zu ler­nen nach 1989. Unter der Hand meist, neben­bei, die Zeit war voll­ge­stopft mit den Not­wen­dig­kei­ten, die die Gleich­zei­tig­keit der Liebe zu einem Beruf und der Liebe zu fünf eige­nen Kin­dern mit sich brachte.

Dabei habe ich viel übersehen.

Zwar mach­ten sich mit dem ins­be­son­dere seit den 90ern im Sprach­ge­brauch auf­tau­chen­den Neo­li­be­ra­lis­mus, der damit ein­her­ge­hen­den Dere­gu­lie­rung des kapi­ta­lis­ti­schen Wett­be­werbs, mit Finanz­glo­ba­li­sie­rung, ver­stärk­tem Frei­han­del und zuneh­men­der Ein­he­gung staat­li­cher Zustän­dig­kei­ten soziale Unge­rech­tig­keit und man­gelnde Betei­li­gung der Bevöl­ke­rung an demo­kra­tisch gedach­ten Pro­zes­sen breit und brei­ter, aber die unge­heure Gefähr­lich­keit die­ser Ent­wick­lung erreichte mein Den­ken wohl nicht. Erst die in der soge­nann­ten Corona-Pan­de­mie zutage tre­ten­den, lei­der nur vor­läu­fi­gen Höhe­punkte die­ses Fort­gangs ent­frem­de­ten mich dem, was ich zuvor als Hei­mat ange­se­hen hatte: Dem Raum des Ver­trau­ten. In dem ich zu Hause bin, an des­sen Gestal­tung ich Anteil haben und in dem ich, ja, ein­mal in Frie­den ster­ben wollte. Das über uns gekom­mene Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war lange Jahre mein Hort der Sicher­heit gewe­sen, dass meine Würde unan­tast­bar blei­ben kann, selbst wenn ich sie wie­der und wie­der ein­for­dern müsste. Diese Sicher­heit kam mir unter­des­sen abhan­den, und damit auch das Ver­traut­sein mit der Gesell­schaft, in der ich lebe. Mit den Freun­den, die sich von mir abwand­ten, weil ich eine vom Gro­ßen Corona-Nar­ra­tiv oder von der medial befeu­er­ten deut­schen Kriegs­trei­be­rei abwei­chende Auf­fas­sung habe, die ja nicht unbe­grün­det ist oder so dumm, wie sie von Medien, Poli­ti­kern und Mit­men­schen nur zu gern dar­ge­stellt wird. Ich habe mich zum Bei­spiel seit lan­gem mit Psy­cho­neu­ro­im­mu­no­lo­gie beschäf­tigt und bin angst­frei, was Viren angeht. Angst­frei, was den Tod angeht, dem ich schon ein­mal buch­stäb­lich von der Schippe sprang. Aber Angst­frei­heit zählt nicht, wenn Angst­ma­che Pro­gramm ist. Selbst die Demut vor den Wun­der­wer­ken der Evo­lu­tion scheint nicht mehr ange­bracht, da unsere Kul­tur sich der Kon­trol­lier­bar­keit von allem und jedem anheim­ge­ge­ben hat und eine Krank­heit zum Vor­wand nimmt, alte Men­schen ein­sam ster­ben zu las­sen, ja sie gera­dezu in den Tod zu trei­ben durch ver­ord­nete Ein­sam­keit in den Alten- und Pfle­ge­hei­men. Ich möchte, falls ich im hohen Alter ange­kom­men sein werde, nicht ein Jahr, ja nicht ein­mal sechs Wochen län­ger leben um den Preis eines guten, freien Daseins. Als alter, gequäl­ter Mensch. Ich möchte vor dem Tod, der ja kom­men wird, so oder so, sagen kön­nen, dass es schön, dass es gut war.

Auch des­halb betrachte ich, wie damals, in Thü­rin­gen, seit zwei­ein­halb Jah­ren Blät­ter. Ihr Wer­den, ihr Ver­ge­hen. Ahorn, Eiche, Wal­nuss, Birke. Sie wach­sen an den Bäu­men vor mei­nem Ber­li­ner Haus. Ein jedes ist eine Wirk­lich­keit, die nicht künst­lich geschaf­fen wer­den kann. Kein Rezept kennt die Bestand­teile, sie her­zu­stel­len, kein 3D-Dru­cker kann sie zum Leben erwe­cken. Ich staune, ich ver­folge die Blatt­adern mit den Fin­ger­kup­pen, ich streichle die Gal­len und brau­nen Fle­cken und freue mich. Das brau­che ich offen­bar, um mich vom For­dern abzu­hal­ten, denn es wird mir geschenkt, mit dem Ein­tau­chen in die Natur die Erde unter den Füßen zu spü­ren. Ich for­dere nichts, von nie­man­dem. Statt des­sen sage ich, ich mache nicht mit, zum Bei­spiel, wenn es darum geht, dem Men­schen über einen Impf­pass zu einer digi­ta­len Iden­ti­tät zu ver­hel­fen oder eine App auf einem Smart­phone zur Bedin­gung für eine Ein­reise in andere Län­der zu machen. Auch wenn ich ein Recht auf ein ana­lo­ges Leben für sinn­voll, ange­bracht und am Beginn des Lebens für gebo­ten halte, for­dere ich es nicht ein. Es bestärkte den, der das Gegen­teil anstrebt und es durch­set­zen kann, ohne­hin nur in der Abwehr mei­ner Per­son. Ich aber möchte Ver­bin­dung zu ande­ren Men­schen, über Gesich­ter zum Bei­spiel, die ich lesen lernte seit mei­nem Lebens­an­fang. In mei­ner Heimat.

Eine Hei­mat als Raum größt­mög­li­chen Ver­trau­ens kann heute klein sein, sehr klein. Sie kann sich auf ein Haus beschrän­ken, oder auch nur auf ein Zim­mer, in dem man mit Men­schen zusam­men ist, mit denen man spre­chen kann, ohne sich oder sie scho­nen zu müs­sen. Frei, mensch­lich, strei­tend. Eine Park­bank, ein Wald­stück, ein Gar­ten. Auch heute noch finde ich, wenn ich ihn brau­che, solch einen Raum und bin damit bes­ser bedient als viele andere. Bes­ser auch als meine Urgroß­mutter, der von mei­nen Eltern ver­bo­ten wor­den war, mir über ihre Flucht aus Ost­preu­ßen 1945, zum Ende des vor­erst letz­ten Krie­ges auf deut­schem Boden, zu erzäh­len. Ihr fehlte ein Raum, aus­zu­spre­chen, was sie dachte. Dass sie dadurch dop­pelt hei­mat­los war, wird weder ihr noch mei­nen Eltern bewusst gewe­sen sein …

Die Urgroß­mutter war es auch, die mich als Kind ins Bett brachte. „Nu jei man hei­ern!“, sagte sie dann, und sie las noch zur Nacht, die wir im glei­chen Zim­mer ver­brach­ten. “Hei­ern“ war in mei­ner Umge­bung ein weit ver­brei­te­tes Wort für schla­fen. Sicher nicht ost­preu­ßi­schen Ursprungs. Der Schlaf mäht alle Nächte den wuchern­den Tag­wuchs, damit ich nach dem Erwa­chen besänf­tigt auf­ste­hen kann. Darum liebe ich die Hei­er­mahd, träume wäh­rend­des­sen. Von Blät­tern, Pup­pen, Heu­mahd und – Hei­mat. Im Unge­wis­sen bleibt all­abend­lich, ob ich sie am Mor­gen wie­der­fin­den kann.

 

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»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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