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Kathrin Groß-Striffler
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Kathrin Groß-Striffler
Das verlorene Paradies
Hier scheint eine andere Sonne von einem anderen Himmel. Selbst an heißen Tagen spannt er sich kühl und gleichgültig über das Land, in dem wir jetzt leben. Er schert sich nicht um die Menschen, die dort unten herumzappeln und ihren Geschäften nachgehen wie aufgezogene Uhrwerke und die niemals Zeit haben, um sich wie in Syrien unter einen Baum in den Schatten zu setzen und miteinander zu reden, was die Familie macht und die Gesundheit und welches unserer Kinder wen zu heiraten gedenkt, am besten einen Cousin oder eine Cousine, und wie die Hochzeit ausgerichtet werden wird, zu dem man natürlich das ganze Dorf einlädt, und am nächsten Tag werden die Reste der üppigen Mahlzeiten den Nachbarn und den Armen gegeben, so will es unsere Religion. Ich erinnere mich daran, wie sich abends immer die Männer des Dorfes getroffen und miteinander geredet haben; auch die Frauen haben sich gegenseitig besucht. Frauen und Männer waren nie in demselben Raum. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind abends beim Einschlafen den leisen Stimmen der Frauen gelauscht habe und wie geborgen ich mich fühlte, und wie drei meiner sieben Geschwister mit mir im selben Raum geschlafen haben in unserem großen, schönen Haus. Wie im Sommer die gelben Äpfel vom Apfelbaum im Innenhof gefallen sind und wie wir ihnen nachjagten, wer als erster einen in der Hand hatte, hatte gewonnen. Hier ist der Himmel keine Kuppel, und was nachts an Sternen glitzert, ist ein Witz. So ein schwaches Funkeln! So wenige Sterne! Und der Stoff, in den sie gestickt sind, ist nicht weicher Samt, sondern aus dünnem, fadenscheinigen Gewebe. Würde ich es in die Hand nehmen, würde es zerbröseln, und was auf dem Boden liegen bliebe, wären winzigste Glassplitter. Bloß nicht darauf treten! Das Geräusch würde mir eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Die Sonne wärmt mich nicht, sie erhitzt meinen Körper entweder oder sie kitzelt ihn mit blassen, müden Strahlen. Ich denke an unser Dorf. Ein kleines, ruhiges Dorf. Ein Bach, der in den Bergen entspringt, mündet in einen Teich, der bis heute die einzige Wasserquelle ist. Die Frauen tragen das Wasser noch immer zu ihren Häusern. Auf den Feldern ringsum werden Gemüse und Weintrauben und Granatäpfel angebaut, und es gibt Olivenhaine. Gehen Sie doch aus dem Weg!, schimpft eine erboste Frau. Entschuldigung, murmele ich, Entschuldigung. Sie hat es eilig, diese Frau, sie muss sicher zu einem Termin. Bei uns gibt es keine Termine. Man setzt sich einfach hin und wartet, auch in einer Behörde, auch beim Arzt, und wartet, und manchmal passiert es, dass man am späten Abend unverrichteter Dinge nachhause geschickt wird. Kommen Sie morgen wieder, heißt es. Hier, und das ist viel besser, hat man einen Termin und kommt irgendwann an die Reihe. Wenn ich auf einem Stuhl im Gang einer Behörde sitze und warte, sind alle still und starren vor sich auf den Boden oder auf ihr Handy. Ich hole dann meines heraus und spreche leise mit meinem Neffen, der aus Syrien anruft, oder mit meiner Schwägerin, die meine alte Mutter betreut. Ich bin dort und nicht hier. Ich lache und möchte weinen. Ich möchte wieder der Direktor der Dorfschule sein, der gleichzeitig Lehrer und Freund und Bruder und Vater ist. Hierzulande bin ich wieder Schüler, und zwar ein schlechter. Die deutsche Sprache ist so schwierig! Ich mache kaum Fortschritte, auch, weil ich mit dem Herzen nicht hier bin, sondern bei meiner Frau und meiner Tochter. Seit sechs Jahren sind wir getrennt. Sechs lange Jahre haben wir einander nur auf dem Handydisplay gesehen. Wir hatten mit ein paar Wochen gerechnet, doch unsere Tochter ist 28 und somit zu alt, um ein Visum zu bekommen, und da sie im Rollstuhl sitzt, kann sie nicht ohne ihre Mutter sein. Ich bin mit meinen drei Söhnen hier. Sie kommen voran. Sie sind nicht krank vor Heimweh wie ich. Ich trete aus der Behörde, aus der Schule, und die Sonne scheint. Inshallah, murmele ich. Ich muss Geduld haben. Ich muss daran glauben, dass alles gut wird. Ich muss meinen Söhnen ein guter Vater sein, doch ich fürchte, ich bin die alte Lok auf dem Abstellgleis, und sie sind in einem schnellen ICE Richtung Zukunft unterwegs. Worüber sollen wir noch reden. Im Grunde leben wir nebeneinander, nicht zusammen. Unsere Wohnung ist ziemlich schmutzig. Ich habe nicht die Kraft, mich um Ordnung und Sauberkeit zu kümmern. Nächstes Jahr werde ich sechzig Jahre alt sein.
Eine deutsche Frau versetzt Himmel und Berge. Eines Tages heißt es, sie dürfen endlich kommen! Sie und eine Freundin bürgen für sie, und plötzlich geht alles ganz schnell. Als ich meine Frau und meine Tochter am Flughafen in Frankfurt in die Arme schließe, bleibt die Welt stehen. Eine ganze lange Weile dreht sie sich nicht weiter. Wir alle weinen, und durch einen Tränenschleier schaue ich hoch zum Himmel und danke Allah, voller Inbrunst. Wir sind wieder vereint. Wir sind nach sechs Jahren wieder vereint und finden keine Worte und laufen gemeinsam durch unser Dorf und halten uns an den Händen, und vor den Toren stehen keine Truppen der syrischen Armee, und es duftet, oh, wie köstlich es nach reifen Orangen duftet und nach Rosen und Feigen! Ich kann meine Frau gar nicht loslassen. Sie hat mir unser Dorf mitgebracht und alle, die ich liebe. Wir spazieren durch Olivenhaine, in unseren Herzen eine Wärme, wie ich sie so lange vermisst habe. Sie sind da. Es ist kaum zu glauben, und ich muss meine Frauen immer wieder berühren. Ihren Ältesten hat seine Mutter nicht mehr erkannt. Ihren einstigen Liebling. Erst, als er sie hoch gehoben und um sich herum gewirbelt hat, hat sie gewusst: das ist er. Dieser stattliche große Mann war einst mein Baby. Jetzt hat er seine Haare hinten zusammengebunden und ist Student. Und ihre beiden anderen Söhne, wie glücklich und gleichzeitig etwas ratlos sie dastehen! Ein bisschen fremd sind sich alle geworden. Doch das wird sich bald ändern, ganz sicher.
Meine Frau erobert ihre neue Welt im Sturm. Sie besucht Deutschkurse und spricht schon besser als ich nach sieben Jahren. Wir renovieren die kleine Wohnung, in der wir zu fünft leben, unser Ältester wohnt in einer WG. Wir kochen und essen miteinander, wir erzählen und lachen und weinen. Wir laden die beiden deutschen Frauen ein, die längst Freundinnen geworden sind. Ich arbeite als Bufdi in einer Schule. Die Stadt, in der wir leben, gefällt uns. Der Fluss, die schönen Häuser, die Berge. Unsere Tochter muss keine Angst mehr haben vor Luftalarm und aufsteigenden Flugzeugen. Nicht alle Menschen mögen uns, besonders das Kopftuch meiner Frau und meiner Tochter wird oft argwöhnisch betrachtet. Einmal will eine Deutsche es meiner Frau herunterreißen. Wir hören Sätze wie: geht doch in euer Land zurück! Doch die meisten Deutschen sind freundlich und hilfsbereit. Wir sind glücklich. Sind wir glücklich?
Meine Frau hat ein Gedicht geschrieben, auf Deutsch, für ihren Deutschkurs. Es heißt: Mein Dorf. Es besteht aus drei Teilen. Im ersten beschreibt sie ihren Gang zum Teich, das tönerne Gefäß auf dem Kopf, wie sie dort andere Frauen trifft, die Wasser holen, wie sie ihnen erzählt, dass ihr Jüngster und sein Cousin sich so heftig gestritten haben, dass man sie schier auseinander reißen musste. Die Frauen gackern wild durcheinander wie aufgeregte Hennen. Im zweiten Teil schreibt sie über den arabischen Frühling, wie die meisten Dorfbewohner auf die Straße gegangen sind und demonstriert haben, die Luft erfüllt von irrwitziger Hoffnung. Ihr Mann war auf einmal ein Schuldirektor ohne Schüler! Im dritten dann, wie sie ihren Söhnen und ihrem Mann hinterher winkt, als sie sich gemeinsam auf den Weg Richtung Deutschland machen, wie sie Bäche von Tränen weint und krank ist vor Kummer und Sorge. Der letzte Satz ihres Gedichts lautet: Ich habe Heimweh nach meinem Dorf.
Es gibt die Welt, in der wir jetzt leben, und es gibt die andere Welt, in der wir einst gelebt haben und die wir in unseren Herzen tragen. Wir geben uns Mühe. Ich meine damit, wir passen auf, dass der Riss, der durch uns geht, nicht sichtbar in unseren Augen ist, und wir sagen niemandem, dass die Sonne hier anders scheint und dass der Himmel uns nicht beschützt. Vielleicht sind wir hier auch erst erwachsen geworden, wer weiß. Wir beide, meine Frau und ich, wollen alles in unserer Macht Stehende dafür tun, dass unsere Söhne sich hier ein gutes Leben aufbauen können. Wir kümmern uns liebevoll um unsere Tochter. Wir haben zu tun. Aber ich bin überzeugt davon, dass durch unser aller Träume ein Land geistert, das, allen Horrorberichten aus Syrien zum Trotz, immer mehr zu einem verlorenen Paradies wird, das wir alle nie mehr betreten werden. Deswegen scheint die Sonne hier anders, deswegen kann der Himmel keine Kuppel sein, deswegen sind die Sterne nur Glassplitter, die uns eine Gänsehaut über den Rücken jagen, wenn wir darauf treten.
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»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
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