Jens Kirsten im Gespräch mit dem Verlegerehepaar Dr. Katja-Cassing und Dr. Jürgen Stalph.
Frau Cassing, Herr Stalph, Sie sind die Inhaber des Cass-Verlages. Vor allem aber sind Sie beide ausgewiesene Japanologen. Wann und wodurch wurde Ihr Interesse an Japan, seiner Kultur und Literatur geweckt?
Katja Cassing: Japanisch war ein Glücksfall für mich. In Trier lehrte Prof. Irmela Hijiya-Kirschnereit, die einzige in Deutschland, die zu der Zeit moderne japanische Literatur unterrichtete. Da ich mich sehr für Literatur und Sprachen interessierte, war das die richtige Kombination für mich. Nach zwei Jahren ging ich nach Japan und hab dann die Hälfte meines Studiums dort absolviert. Noch während der Studienzeit begann ich im Wissenschaftsbereich zu arbeiten. Da nur sehr wenigen eine akademische Karriere möglich ist, die eine Stellung auf Lebenszeit bietet, überlegte ich, was ich beruflich machen kann. Warum also meine Liebe zur japanischen Sprache und zu seiner Literatur nicht miteinander verbinden und einen Verlag gründen? Japanische Krimis in deutscher Übersetzung gab es zum Zeitpunkt der Verlagsgründung so gut wie keine. So lag die Überlegung nahe, den Verlagsschwerpunkt auf Kriminalliteratur zu legen.
Und das Japanologie-Studium hat Ihnen dabei geholfen?
Katja Cassing: Der Erwerb der japanischen Sprache ist nur ein kleiner Bestandteil des Studiums, der vor allem auf das Lesen und nicht auf die Kommunikation ausgerichtet ist. Als ich nach zwei Jahren Studium in Japan ankam, war ich nicht in der Lage, mich zu verständigen. Ich scheiterte bereits beim Kauf einer Briefmarke. Und das nach zwei Jahren Spracherwerb, Klausuren und Prüfungen. Obwohl ich viele Zeichen lesen konnte, war es ein Schock, als ich den Einstufungstest nicht bestand, ja, nicht einmal die gestellten Fragen verstand. Ich konnte nur den leeren Fragebogen abgeben. Alle, die mit mir nach Japan kamen, wurden dann in den mittleren Sprachkurs geschickt. Nur ein oder zwei Studenten, die schon vorher einmal in Japan gelebt hatten, kamen in den Kurs für Fortgeschrittene. Im ersten Jahr habe ich gefühlt die gesamte erlernte Grammatik und alle gelernten Zeichen vergessen und dafür das Sprechen und das Verstehen der Sprache gelernt. Nach einem Jahr, als das Stipendium endete, wusste ich, dass mein Wissensstand überhaupt nicht ausreichend war. Also blieb ich gleich zweieinhalb Jahre in Japan. Nachdem ich etwas besser folgen konnte, durfte ich den einen oder anderen Kurs überspringen, so dass ich dann auch den Universitätsvorbereitungskurs absolvieren konnte. Das war ein hervorragendes Sprachtraining, um das mich mein Mann bis heute ein bisschen beneidet, weil ich dort auch die Höflichkeitssprache lernte.
Jürgen Stalph: Und jetzt ist sie auf Weltniveau.
Was studiert man neben dem Spracherwerb?
Katja Cassing: Im Grundstudium studiert man Politik, Geschichte, Kultur, Literatur. Es gibt in Deutschland nur wenige Japanologien, meist nur mit einer Professur. Für zeitgenössische Literatur war und ist die Koryphäe die schon erwähnte Professorin Hijiya-Kirschnereit. In Heidelberg wurde vormoderne Literatur gelehrt, überhaupt gibt es dort eine größere Japanologie.
Jürgen Stalph: In Berlin gab es zwei Lehrstühle. Federführend war dabei die Japanologie der Humboldt-Universität im Osten, Lehrstuhlinhaber war Jürgen Berndt. Die Humboldt-Universität war im Bereich der Japanologie sehr gut. Das war das Aushängeschild. Deswegen hat man bei den älteren Literaturübersetzungen aus Japan zwei Schienen. Auf der einen Seite Oscar Benl in Hamburg, auf der anderen Jürgen Berndt aus Berlin. Jürgen Berndt war auch einer der ersten, der Japanisch sprechen konnte. Die älteren Professoren konnten Japanisch nicht sprechen. Es war für die deutschen Universitäten eine tote Sprache, die vermittelt wurde wie Latein und Altgriechisch. Die DDR hat viel mehr Wert auf die gesprochene Sprache gelegt als die Kollegen im Westen. Sie schickten regelmäßig Stipendiaten nach Tokio. Aus dem Westen gingen natürlich auch einige Studenten nach Japan.
Ich selbst habe mein Studium auf Linguistik ausgerichtet und ging dafür nach Bonn und später nach Bochum, weil der Bonner Lehrstuhl mit einem Ethnologen neu besetzt wurde und der Lehrstuhl in Bochum auf Sprache und Literatur ausgerichtet war. Bochum war damals das größte Zentrum für Japanologie in Europa. Man konnte Geschichte als Schwerpunkt wählen, Geographie, Politik, Ökonomie und ein interdisziplinär ausgerichtetes Studium, das sich auf Japan, Korea und China erstreckte.
Herr Stalph, wie erging es Ihnen mit dem Lernen der Sprache?
Als ich aus Bonn nach Japan kam, machte ich ähnliche Erfahrungen wie meine Frau. In Bonn war die Koryphäe Professor Zachert, der während des Krieges in Japan gelebt hatte und einer der wenigen war, die fließend sprachen. Als ich in den siebziger Jahren zu studieren begann – wir waren vielleicht fünf Neulinge – saßen alle Studenten vom ersten bis zum zwanzigsten Semester in seinen Lehrveranstaltungen. Als Anfänger konnten wir nicht einmal das Silbenalphabet lesen, von Zeichen ganz zu schweigen. Dennoch mussten wir bei Professor Zacherts Veranstaltungen sitzen und höflich nicken, obwohl wir überhaupt nichts verstanden. Als ich später, nach meinem ersten Aufenthalt in Japan, nach Bochum wechselte, sah ich, dass es dort Sprachkurse gab. Die gab Wolfram Müller-Yokota, der auch fließend Japanisch sprach. Ich konnte nach meinen ersten zwei Jahren in Japan schon mithalten. Weitere Aufenthalte in Japan folgten. Den Magister machte ich in Deutschland irgendwann nach und die Promotion schloss sich an. Insgesamt kam ich auf achtzehn Jahre in Japan, meine Frau auf zwölf Jahre. Im Gegensatz zu meiner Frau, die hervorragende Sprachkurse absolvierte, gehörte ich zu denen, die die Grammatik ganz gut beherrschten. Als ich mich um ein Promotionsstipendium bewarb, wurde ich in die Botschaft eingeladen. Beim Eignungstest fielen alle durch, außer mir – und das war schlecht. Da ich den Test gut bestanden hatte, durfte ich unmittelbar an die Universität gehen, während die anderen – wie meine Frau – zunächst einen Sprachkurs belegen mussten. Ich konnte in Japan ebenso wenig sprechen wie meine Frau, aber ich war direkt an der Uni. Japanisch lernte ich dann auf der Straße und in Kneipen. Mein Japanisch ist auch ziemlich gut, aber was die Höflichkeitssprache anbelangt, ist mir meine Frau weit überlegen.
Wie lange braucht man, um Japanisch sprechen zu können?
Katja Cassing: Wenn man Japanisch nur sprechen können möchte, nicht Lesen und Schreiben, dann ist das gar nicht so schwer, wie man denkt. Es ist keine Tonsprache, es gibt keine komplizierten Laute, es wird nicht flektiert, es gibt eine Präsensform, es gibt eine Vergangenheitsform, es gibt kein Futur, es gibt keine Artikel. Eine Reihe von lästigen Dingen, die etwa Lernern des Deutschen den Spracherwerb so schwer machen, fallen im Japanischen weg. Japanisch ist eine agglutinierende Sprache, was für uns etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber die Sprache als solche ist wirklich nicht so schwierig – wenn man sagt: Ich möchte nur ein wenig sprechen können. Ich habe an der TU in Ilmenau zum Spaß ein wenig Japanisch unterrichtet und meine Studierenden hatten sehr schnell Lernerfolge. Bereits nach einem Semester waren sie in der Lage, kleine Konversationen zu führen.
Hätten sie eine Briefmarke auf der Post in Tokio kaufen können?
Katja Cassing: Und ob. Wenn man jedoch lesen und schreiben können möchte, dann ist es eine ganz andere Sache. Die japanische Schriftsprache gilt zu Recht als die schwierigste Sprache überhaupt. Das rührt daher, dass das Japanische drei Schriftzeichensysteme hat. Das Japanische hat sich nicht nur chinesische Schriftzeichen zu eigen gemacht, sondern für diese zugleich unterschiedliche Lesungen importiert. Im Chinesischen weiß man, dass ein bestimmtes Zeichen so und so gesprochen wird. Im Japanischen gibt es für ein Zeichen 100 oder 200 Lesarten, je nachdem, in welchem Kontext es erscheint.
Spracherfolge stellen sich etwa nach einem Jahr ein, aber dann spricht man noch kein gutes Japanisch, oder?
Jürgen Stalph: Wer wirklich gut sprechen können möchte, auch mit Blick auf die Höflichkeitssprache, der muss mindestens drei bis vier Jahre im Land gewesen sein. Natürlich gibt es auch Ausnahmetalente; ein normal begabter Lerner braucht jedoch diese Zeit. Nach fünf Jahren ist man gut. Das lässt sich aus europäischer Sicht nicht mit dem Erwerb einer romanischen Sprache vergleichen. Was die Lesarten der Zeichen anbelangt, erkläre ich das Deutschen gern mit dem Zeichen für Herz. Schreibt man »Ich ♥ dich.« liest man für Herz »liebe«. Im medizinischen Kontext stünde hinter dem ♥ »iologie« und man liest für Herz »Kard«(iologie). »Du bist mein ♥.« liest man als »Herz«. Damit ergeben sich schon drei Lesungen. Dazu kommen weitere mögliche Lesungen. Bei den Japanern kommt noch hinzu, dass sie viel von der Übermacht China entliehen haben. Diese Entleihungen erfolgten zu verschiedenen historischen Zeiten. Als die chinesische Hauptstadt in Chang’an und nicht in Peking war, war die Lesung eine ganz andere als zu einer anderen historischen Periode. So hat man oft drei Lesungen für ein Zeichen. Das alles ergibt eine riesige Mischung, die bis heute lebt. Als Sprachlerner beherrscht man relativ bald einen gewissen Wortschatz, auf den man aufbauen kann. Fremdwörter aus anderen Sprachen, wie Geographie oder Topographie aus dem Griechischen, werden in Japan genau so verwendet. Japanisch ist eine Sprache wie jede andere – mit gewissen Problemen. Viele, die nach Japan gehen, bleiben auf dieser Grundebene der gesprochenen Sprache stehen, wenn sie die Schriftsprache nicht erlernen. Sie können keinen Roman lesen, auch keine Zeitung. Es sind Analphabeten mit einer gewissen Grundkenntnis – wie Kinder im Grunde genommen. Wenn aus dem Parlament etwas übertragen wird, verstehen sie kein Wort. Es gibt auf Grund der zahlreichen Homophone – die Sprache ist relativ lautarm – Schwierigkeiten des Verstehens und bei den Nachrichten werden Untertitel eingeblendet. Beherrscht man 2.500 Zeichen, kann man Zeitung lesen.
Katja Cassing: Ich habe nach siebeneinhalb Jahren begonnen zu dolmetschen. Insgesamt hab ich viereinhalb Jahre in Deutschland studiert, dazu kamen dann die Aufenthalte in Japan.
Jürgen Stalph: Die jungen Leute heute sind viel besser als die Lerner zu unserer Zeit. Die haben keine Berührungsängste. Sie schulen sich über Filme, Animes, Mangas, sind phonetisch viel besser als die Studenten der siebziger Jahre. Leider werden jedoch keine literarischen Übersetzer ausgebildet. Wir suchen händeringend gute Übersetzer, weil wir nicht alle Bücher selbst übersetzen können. Bestünde nicht diese Hürde der qualitativ guten Übersetzung, dann könnten wir gut und gern 20 Titel im Jahr verlegen.
Sie haben beide lange in Japan gelebt und gearbeitet. Wann und weshalb haben Sie sich entschieden, nach Deutschland zurückzukehren?
Katja Cassing: Normalerweise wären wir jetzt noch immer in Japan. Wir arbeiteten beide am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio. Unser mittlerer Sohn, der Fußball spielt, wollte mit 16 in Deutschland Fußball spielen, weil es in Japan ein Ligasystem nicht gab. Aus dem Aufenthalt bei seiner Tante im Rheinland entstand der Wunsch, das Abitur in Deutschland abzulegen.
Ihre Kinder sind zweisprachig aufgewachsen?
Jürgen Stalph: Ja, die Kinder gingen auf die Deutsche Schule Tokio-Yokohama. Alle drei sprechen akzentfrei Japanisch. Unser ältester Sohn lebt in Japan. Er ist gerade Trainer eines Profifußball-Vereins geworden – als jüngster Trainer der japanischen Fußballgeschichte, der mittlere Sohn hat an der Kölner Sporthochschule studiert und lebt in Deutschland; für unsere Tochter ist Deutsch nur die zweite Sprache, sie ist ganz in Japan zuhause. Da unser mittlerer Sohn in der 12 Klasse nicht mehr wechseln konnte, kamen wir also 2005 nach Deutschland. Dafür gab ich eine Lebensstellung am Deutschen Institut für Japanstudien auf, das in den achtziger Jahren gegründet wurde, weil Deutschland von Japan lernen wollte. Das Institut ist eines von acht Auslandsinstituten der Bundesrepublik.
Sie arbeiten beide seit vielen Jahren an einem großen mehrbändigen Japanisch-Deutschen Wörterbuch. Wie sind sie dazu gekommen, eine solche Herausforderung anzunehmen?
Jürgen Stalph: Das Lexikon war ein deutsch-japanisches Projekt. Zunächst war es am Deutschen Institut für Japanstudien angesiedelt, später hat es dann die FU Berlin übernommen, an der wir bis heute über Drittmittel angebunden sind. Beteiligt sind vier Herausgeber und drei Redakteure. Zwischenzeitlich gab es weit mehr Beiträger, aber inzwischen arbeiten wir zu dritt an den Beiträgen. Der dritte und letzte Band wird im Herbst 2019 erscheinen. Wir haben noch drei, vier Buchstaben vor uns. Die Stelle unserer Augsburger Kollegin läuft im Sommer aus, dann müssen wir den Endspurt allein bewältigen. Wir haben noch eine ganze Menge zu tun, eigentlich zu viel. Nach Abschluss dieser Arbeit können wir uns ganz auf den Verlag konzentrieren.
Apropos Verlag: Seit wann gibt es den Verlag, dessen Sitz bis vor kurzem noch im ostwestfälischen Löhne lag?
Katja Cassing: Den Verlag haben wir im November 2000 gegründet. Wir lebten in Yokohama und brauchten für den deutschen Verlag eine deutsche Adresse. Also habe ich meine Heimatadresse genommen. Das erste Buch ist dann 2003 erschienen. Am Anfang haben wir – bedingt durch die Arbeit am Lexikon – relativ wenige Titel produziert. In den letzten fünf Jahren sind wir bei drei bis vier Titeln pro Jahr angelangt, Tendenz steigend. Da wir zunächst nicht wussten, ob wir in Deutschland bleiben werden, blieb die Verlagsadresse Löhne in Ostwestfalen, obwohl wir schon in Bad Berka wohnten. Wir sind zwar immer noch regelmäßig in Japan, aber jetzt, wo wir wissen, dass wir hier leben werden, sind wir mit dem Verlag nach Thüringen umgezogen.
Weshalb haben Sie sich für Thüringen entschieden?
Katja Cassing: Der Zeitpunkt war kein Zufall. Unser Sohn begann nach dem Abitur zu studieren, hatte eine eigene Wohnung und wir mussten nicht mehr ständig in seiner Nähe sein. Wir waren plötzlich frei und konnten so unseren Wohnsitz überall wählen. Das begünstigten zudem unsere Telearbeitsplätze. Und Thüringen hat uns einfach sehr gut gefallen. In Bad Berka können wir in alle Richtungen direkt in den Wald gehen. Das war in Tokio nicht möglich. Für uns stand nur die Überlegung: entweder eine ganz große Stadt oder eine ganz kleine. Wir haben uns für letzteres entschieden. Außerdem sind wir passionierte Wanderer, da kam uns Thüringen sehr zupass.
Ein Verlag, der ausschließlich japanische Literatur in deutscher Sprache ediert, wie geht das? Sind die großen Verlage in Deutschland, die auch japanische Literatur im Programm haben, keine zu starke Konkurrenz?
Katja Cassing: Es ist immer gut, ein klares Profil zu haben. Sei es Kriminalliteratur, sei es eine andere thematische Nische. Es gibt eine relativ breite Schicht, die sich für Japan und seine Kultur interessiert. Das geht gerade bei den jüngeren Leuten von Mangas über Animes bis zu anderen Filmen und die japanische Kultur überhaupt. Und damit gibt es auch Interesse für japanische Literatur. Diese Erfahrung machen wir beispielsweise bei der Nippon Connection, einem japanischen Filmfest in Frankfurt am Main, wenn wir dort mit einem Verlagsstand vertreten sind.
Was die großen Verlage angeht, habe ich überhaupt keine Angst. Ganz im Gegenteil. Die suchen zwar alle Titel aus Japan, um die gängigen Klischees zu bedienen. Wir machen in erster Linie gute Literatur, dass es japanische Literatur ist, spielt dabei nicht die wichtigste Rolle. Literatur, die ihren Wert unabhängig von jeglicher Kirschblütenromantik hat und sich im internationalen Vergleich behaupten kann. Im Gegensatz zu uns, die japanisch lesen können, hat man in den Lektoraten der großen Verlage niemanden, der Japanisch lesen kann.
Wie gehen die großen Verlage dann vor?
Katja Cassing: Ein Verlag wie Dumont hat Haruki Murakami, an dem er Jahr um Jahr festhält. Die großen Verlage können ohne das Vermögen, die Literatur im Original lesen zu können, nicht so viele Autoren und Titel neu entdecken. Wir können dagegen in die Breite gehen. Die japanische Literatur ist eine unglaubliche Schatzkiste, die Bücher für mehr als einen Verlag bereithält. Aber man muss diese Schätze für den deutschen Markt erst heben und sie übersetzen. Choukitsu Kurumatani, der ein großartiger Schriftsteller ist, leider inzwischen verstorben, hatte keinen Agenten, der Exposés auf Englisch geschrieben und keinen Verlag, der seine Bücher deutschen Verlagen angeboten hätte. Die großen Verlage in Deutschland orientieren sich entweder an Übersetzungen ins Französische oder Englische oder sie lesen englische Exposés der japanischen Verlage.
Jürgen Stalph: Wir lesen auch Exposés, aber wir können daneben auf die direkte Schiene gehen und die Bücher im Original lesen. Dann entscheiden wir, ob wir einen Titel übersetzen und verlegen möchten. Hier gibt es die schöne Anekdote mit dem Roman »Der Sonnenschirm des Terroristen« von Iori Fujiwara, den wir verlegt haben. Der Roman war drei Monate auf der Krimi-Bestenliste der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und des Deutschlandfunks. Die Zeitungen sprachen von einer fulminanten Entdeckung. Diese Entdeckung hätten wir fast auch nicht gemacht, ebenso wenig wie die anderen. Hätte der japanische Verlag nicht so ein schlechtes Exposé angeboten, wäre der Roman bereits vor 20 Jahren bei einem anderen renommierten Verlag in Deutschland erschienen. Wir lasen das Exposé, aus dem man nichts entnehmen konnte, und warfen es umgehend in den Papierkorb. Dann waren wir in Japan auf der Messe beim Verlag Kôdansha, den wir gut kennen, und der Verleger gab uns den Roman im Original mit. Bei der Lektüre erschloss sich, was für ein spannender Roman das ist. Der Rest ist die Erfolgsgeschichte des Titels in Deutschland.
Alle Titel, die ich in den letzten Jahren aus Ihrem Verlag gelesen habe, begeisterten mich: »Gezeichnet« von Osamu Dazai beispielsweise oder »Vom Versuch, einen Glücksgott loszuwerden« von Ko Machida. Ich denke, die wichtigsten literarischen Entdeckungen aus Japan der letzten Jahren hat der Cass-Verlag gemacht.
Katja Cassing: Die Neuübersetzung von »Der Schlüssel« von Junichiro Tanizaki gehört dazu oder Nanae Aoyamas Bücher. Gerade erschien »Die Rache« von Shugoro Yamamoto. Wir sind uns bewusst, dass wir ein kleiner Verlag sind und wir würden eine Autorin wie Nanae Aoyama auch gern bei einem großen Verlag unterbringen.
Jürgen Stalph: Durch die deutsche Übersetzung ihrer Texte wurde eine englische Literaturzeitschrift auf die Autorin aufmerksam und brachte auch eine ihrer Erzählungen heraus. Das sind sehr schöne Nebeneffekte unserer Bemühungen um die japanische Literatur. Mittlerweile gibt es auch japanische Autoren, die gern bei Cass verlegt werden möchten.
Wie steht es dabei um die Vermarktung Ihrer Titel?
Es ist für uns ein großes Problem, dass wir für die Vermarktung oft zu wenig Zeit haben. Wir kaufen einen Titel ein, übersetzen ihn und dann rückt der Termin der Veröffentlichung heran. Wenn die Vertreter auf Verkaufsreise gehen, haben sie das Buch noch nicht lesen können und sind für die Verkaufsgespräche auf unsere Exposés angewiesen. Auch für die Einbandgestalter ist es schwierig, sich nur auf solch ein Exposé stützen zu können. Dann gehen wir mitunter nach Japan, weil ein Künstler dort den Text im Original lesen und direkt an die Arbeit gehen kann.
Die Leser in Deutschland beurteilen nicht das Original, sondern die Übersetzung. Ihren Büchern merkt man an, dass sie sprachlich hervorragend gearbeitet sind.
Katja Cassing: Das höre ich heute schon zum zweiten Mal. Nanae Aoyama schrieb mir das heute morgen in einer Antwort auf eine Nachricht, in der ich ihr gestern mitteilte, dass sie für den LiBeraturpreis 2019 nominiert ist. Nanae Aoyama war übrigens vor einiger Zeit im Rahmen einer Lesereise mit uns in Weimar. Als sie das Goethe- und Schiller-Denkmal sah, fragte sie, was es mit dem Baumstamm auf sich habe, vor dem die Dichter stehen. Mein Mann benutzte ein sehr antiquiertes Wort, das nur noch in einem Sprichwort lebt.
Jürgen Stalph: Das heißt kuize o mamoru – den Baumstamm bewahren oder den Baumstamm bewachen. Das kommt aus China und geht auf eine Anekdote zurück. Ein Bauer macht beim Bestellen seines Ackers eine Pause und lehnt sich an einen Baumstamm. Aus dem Wald jagt in panischer Angst vor einem Jäger ein Hase heran, läuft vor den Baumstamm und fällt tot um. Der Bauer bereitet ihn hocherfreut über das Geschenk zu und verspeist ihn. Fortan stellt er sich an den Baumstamm, lässt das Feld Feld sein und wartet auf den nächsten Hasen. kuize o mamoru bedeutet im übertragenen Sinn: Sinnlos an Traditionen, an Überliefertem festhalten. Über die Weimarer »Wächter des Baumstammes« hat Nanae Aoyama dann eine Glosse für die Zeitung geschrieben.
Der Cass-Verlag ist der einzige Verlag aus Thüringen, der zum Freundeskreis der Kurt Wolff Stiftung gehört. Wie wird man Mitglied des Freundeskreises?
Katja Cassing: Man muss mindestens vier Titel im Jahr produzieren, muss Mitglied im Börsenverein sein, der Verlag muss eine professionelle Auslieferung haben.
Jürgen Stalph: Und es gibt eine Deckelung des Umsatzes, die bei 5 Millionen Euro im Jahr liegt. Man kann alle Kriterien auf der Website der Stiftung nachlesen. Über den Antrag auf Mitgliedschaft entscheidet der Vorstand. In den jährlich erscheinenden Katalog der Stiftung werden 65 Verlage aufgenommen. Wir freuen uns, dass wir darunter sind.
Was wünschen Sie sich als Verleger für die Zukunft – nicht nur mit Blick auf den Verlagsstandort Thüringen?
Katja Cassing: Da wir gerade über die Kurt Wolff Stiftung sprachen: Abgesehen von Verlagen wie Matthes & Seitz, der zu den größten des Freundeskreises gehört, können die kleinen Verlage kaum von ihrer verlegerischen Arbeit leben. In der Schweiz gibt es eine Strukturförderung, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Eine kleinere Förderung wäre ein Verlagspreis, den ich mir sehr für Thüringen wünsche. Alle Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, die gewinnorientiert arbeiten. Im Gegensatz zu einem anderen Wirtschaftsunternehmen leisten die Verlage jedoch einen erheblichen Kulturbeitrag, der sich nicht in Gewinnzahlen ausdrücken lässt.
Jürgen Stalph: Ich wünsche mir einen kompetenten Übersetzer, der frei und bezahlbar ist. Das wäre für unsere Arbeit eine große Hilfe.
Katja Cassing: Man sollte die Japanisch-Ausbildung in Deutschland ausbauen. Wer in Thüringen Japanisch studieren möchte, findet hier keine Universität. Die nächste Japanologie ist in Leipzig.
Jürgen Stalph: Einem jungen Übersetzer würden wir gern eine Chance geben, gesetzt, er bringt die notwendigen Fähigkeiten mit. Es wäre schön, wenn wir einmal ein Manuskript nicht selbst übersetzen, sondern nur redigieren müssten.
Mit Blick auf den Kultur- und Wirtschaftsstandort Thüringen erscheint mir die von Ihnen erwähnte Strukturförderung sehr sinnvoll. Für einen Thüringer Verlagspreis haben wir uns nach der Gründung des Literaturrates sofort eingesetzt, jetzt hat Monika Grütters mit dem deutschen Verlagspreis einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Allerdings hat der mit einer strukturellen Förderung der Thüringer Verlagslandschaft nur wenig zu tun.
Katja Cassing: Wir bemühen uns immer, mit regionalen Firmen zusammenzuarbeiten, in Thüringen drucken zu lassen. Aber perspektivisch werden wir vielleicht gezwungen sein, im europäischen Ausland Aufträge zu vergeben. Auch der Druck der Frühjahrs- und Herbstvorschauen ist mit großen Kosten verbunden, die nicht 1:1 wieder eingespielt werden.
Jürgen Stalph: Vielleicht könnte man sich einmal mit Vertretern der Staatskanzlei und des Wirtschaftsministeriums zusammensetzen und gemeinsam über eine Strukturförderung für Thüringer Verlage nachdenken. Wir haben Kontakte zu Akteuren in der Schweiz, die über ihre Erfahrungen mit der Strukturförderung berichten könnten. In dem Zusammenhang ließe sich Für und Wider abwägen und auch über einen Verlagspreis sprechen. Mit Blick auf die Kosten für die Vorschauen, haben wir die regionale LEADER – Aktionsgruppe Weimarer Land – Mittelthüringen um Unterstützung gebeten. Das Paradoxe ist, dass zum einen Geld vorhanden ist und dass auch der Druck förderbar wäre, zum anderen sind drei vergleichende Angebote einzureichen. Damit landen wir wieder bei Saxoprint oder einem anderen Billiganbieter, der seinen Sitz nicht in Thüringen hat. Das führt den Gedanken regionaler Förderung ad absurdum.
Frau Cassing, Herr Stalph, herzlichen Dank für das Gespräch.
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