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Matthias Biskupek
Erstdruck: Palmbaum 2/2018 / Thüringer Literaturrat e.V.
Gelesen von Matthias Biskupek
Klug wie ein Esel
Es gibt Kinderbücher, die tun auch Erwachsenen gut und es gibt Werke für nicht kindliche Kunden, die man Kindern auf den Nachttisch legen sollte. Sofern es noch buchlesende Kinder mit Nachttischen gibt.
Ingrid Annel ist von jeher eine Autorin für jung und alt, weil sie sich den kindlichen, also naiven Blick bewahrt hat. Oder müsste es nicht eher heißen: Die den Blick der Kinder sich neu angeeignet hat? Und in einfacher wie auch doppelsinniger Weise kongenial zu nutzen weiß?
Um die große Zeit Erfurts zu erzählen, als es erstmals dort eine Universität gab, die berühmten Dunkelmännerbriefe erschienen, als Luthers Karriere dort begann, als Dr. Faustus und Till Eulenspiegel die braven und die fleißigen Bürger belehrten und narrten, hat Ingrid Annel den Esel Erasmus erfunden. Genauer: Eulenspiegel hat den gelehrten Namen für einen wissbegierigen Esel erfunden. Das kluge Grautier, hinter dessen Ohren sich Erfurts Silhouette auf dem Buchumschlag zeigt, hat nämlich beim Eulenspiegel Lesen gelernt – nur sprechen kann er nicht. Jeder Gedanke, jeder Spruch, alle Weisheit hört sich bei ihm immer nur an wie Ia. Was, wenn man zu lesen versteht, auch Eins A! bedeutet.
Erasmus lungert meist irgendwo am Ufer der Gera herum, dort, wo das Handwerker- und Studentenleben im mittelalterlichen Erfurt pulsiert. Mal hungert er, mal darf er sich den Bauch mit Hafer vollschlagen, vor allem dann, wenn jemand das Tier zum Säcketransport nutzt. Und immer beobachtet Erasmus scharf, was diese Menschen so reden und schreiben, treiben und sich gegenseitig antun. Er hat quasi den Annelschen Durchblick.
Die großen Geschehnisse in der Stadtgeschichte, die nicht selten Weltgeschichte abbilden, hat Erasmus alle miterlebt: Luthers Blitz-Erkenntnis, die ihn zum Mönch werden ließ. Gutenbergs Buchdruck-Segnungen. Faust, der Wein aus dem Tisch zapft. Da darf Leipzigs Auerbach-Kellerei gern mal ausgeborgt werden. Auch den Dichter Hans Sachs trifft er – gewiss, es geht mit den Zeiten ein bisschen durcheinander, aber ein literarisches Esel-Leben währt nun mal länger als ein Jahrhundert. Studentische Sitten aus ebenjener Blütezeit Erfurts werden eindringlich beschrieben, wenn die tierische Natur im Wortsinne aus den Pennälern herausgeprügelt wird. Und wer den Rechenmeister Adam Ries bislang eher ins Erzgebirge nach Annaberg verlegte, wird lesen müssen: Auch der wirkte segensreich eine zeitlang in Erfurt. Als schließlich ein Mädchen, begeistert von der Schwarzen Kunst, das Buchdruckgewerbe erlernen möchte, was zwar im Sinne der Emanzipation wünschenswert wäre, muss das dann doch über den damals üblichen Umweg geschehen: Sie wird einen Drucker heiraten und mithelfende Ehefrau …
Wer bislang nicht glauben mochte, dass Erfurt nicht nur wichtig, sondern überaus wichtig für die Weltgeschichte ist, der wird nach dieser Lektüre dran glauben müssen. Denn am Ende der Geschichte steht ein Bild: Ein aufgeschlagenes Buch, hinter dem die Zipfel einer Narrenkappe hervorlugen.
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