Harald Gerlach nicht zu vergessen – Von Wulf Kirsten

Personen

Harald Gerlach

Wulf Kirsten

Orte

Römhild

Rudolstadt

Erfurt

Thema

Nachrufe & Gedenken

Autor

Wulf Kirsten

Thüringer Literaturrat e.V.

Als ich im Mai 2013 mit Michael Wüs­te­feld zwei Tage in Süd­thü­rin­gen unter­wegs war, merkte ich, daß ich mein Wis­sen von den land­schaft­li­chen Gege­ben­hei­ten aus­schließ­lich Harald Ger­lach zu dan­ken habe, der mich in den sieb­zi­ger Jah­ren als kun­di­ger The­ba­ner dort ein­führte dank immenser Kennt­nisse, auf denen seine Ver­bun­den­heit grün­dete. Als wir vor dem Grab auf dem Röm­hil­der Fried­hof stan­den, erschrak ich in tiefs­ter Seele ob des Ster­be­da­tums. Seit zwölf Jah­ren nicht mehr am Leben. Bereits 2001 hatte ihn eine tücki­sche Krank­heit mit 61 Jah­ren aus dem Leben geris­sen. Auch er einer von den Kol­le­gen nächs­ter thü­rin­gi­scher Nähe, die wenige Jahre nach ihrem Tod der Erin­ne­rung, Ver­tei­di­gung bedür­fen, um nicht der Ver­ges­sen­heit anheim­zu­fal­len. Ich denke an Hanns Cibulka (1920–2004), an Wal­ter Wer­ner (1922–1995) und muß Harald Ger­lach hinzusetzen.

Von die­sem Autor aus Erfurt ver­nahm ich zuerst 1969, als die »Neue Deut­sche Lite­ra­tur« ihn mit acht Gedich­ten vor­stellte. Ein auf­fäl­li­ges Debüt, das mir nahe­ging. Die­sen Autor wollte ich sogleich ken­nen­ler­nen. Wie Ger­lach war auch ich erst mit drei­ßig öffent­lich auf­ge­tre­ten. Außer­dem gehörte ich im Auf­bau-Ver­lag zu einer Gruppe von Autoren, die vom Lek­to­rat für zeit­ge­nös­si­sche deut­sche Lite­ra­tur unter Stab­füh­rung von Gün­ter Cas­par beauf­tragt waren, nach neuen Autoren Aus­schau zu hal­ten. Für junge Autoren waren güns­tige Zei­ten ange­bro­chen, nach­dem der Stamm der aus dem Exil zurück­ge­kehr­ten Autoren das Ver­lags­pro­gramm nicht mehr füllte. So nahm ich mich rasch des neuen Autors aus mei­ner nächs­ten Umge­bung an, wie spä­ter­hin auch Anne­rose Kirch­ner und Ulrich Ber­kes. Leicht zu erken­nen, daß Harald Ger­lach einer war, der auf der Bob­row­ski-Welle schwamm. Ange­sta­chelt, ermu­tigt zur vir­tu­el­len Land­nahme einer bestimm­ten Land­schaft, in der er sich aus­kannte, die ihn auto­bio­gra­phisch geprägt hatte. Gerade diese ter­ri­to­riale Abgren­zung mit ihren Mög­lich­kei­ten, ins Detail zu gehen, fas­zi­nierte mich. Das sollte uns ver­bün­den. Wie für die meis­ten Stim­men unse­rer Genera­tion, die sich in den sech­ziger Jah­ren zu Wort mel­de­ten, war ein star­kes Geschichts­bewußtsein typisch. Bald ließ sich bei Ger­lach erken­nen, daß es neben den regio­na­len Bin­de­kräf­ten auch für einen, der aus­nahms­weise nicht Ger­ma­nis­tik stu­diert hatte, ein unge­wöhn­li­ches, sub­ti­les literar­his­to­ri­sches »Netz­werk« von Gestal­ten gab, in denen er Vor­bil­der sah. Für die zwei ers­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen inner­halb der Reihe »Edi­tion Neue Texte« des Auf­bau-Ver­la­ges fun­gierte ich mehr als Mentor

denn als Lek­tor. Danach hatte er sich so frei­ge­schwom­men, daß er die­ser Mitt­ler­dienste rasch ent­wach­sen war. Was nicht aus­schloß, daß wir über kom­mende Buch­pro­jekte rede­ten, debat­tier­ten, so wie ich ihm auch mal eins glatt aus­re­dete. Im Detail ent­sinne ich mich kaum noch an lang­wie­rige, aus­gie­bige Arbei­ten an den Tex­ten. Aber etwas ande­res, das unsere Freund­schaft fest wer­den ließ, gewann dann unver­se­hens die Ober­hand; die uns unge­ach­tet aller Ver­schie­den­heit bei­den glei­cher­ma­ßen antrei­bende pere­gri­ni­sche Lei­den­schaft, die Welt mit Füßen ab- und auszumessen.

War auch meine Bio­gra­phie bis zum Herbst 1965 nicht eben gerad­li­nig-ziel­stre­big ver­lau­fen, stell­ten Ger­lachs Ab- und Umbrü­che, die Schlin­ger­be­we­gun­gen auf dem Weg zur Selbst­fin­dung meine Mäan­der weit in den Schat­ten. Seine Aus­brü­che mit exis­ten­ti­el­len Grenz­erfah­run­gen lie­ßen ihn mir als Aben­teu­rer erscheinen.

Auch wenn dann der unent­wegte Auf­stieg am Erfur­ter Thea­ter vom Hof­ar­bei­ter zum Dra­ma­tur­gen und fest ange­stell­ten Haus­dra­ma­ti­ker ihn bän­dig­ten oder nur äußer­lich zu bän­di­gen schie­nen, gab er mir auch spä­ter­hin Gele­gen­heit, ihn für einen Aben­teu­rer aus Lei­den­schaft fürs Unstete, Vagan­ti­sche zu neh­men, so daß unsere Freund­schaft mit­un­ter pau­sierte. Als wir in Kon­takt tra­ten, ich ihn des öfte­ren am Non­nen­rain sie­ben im Kreise sei­ner Fami­lie heim­suchte, war er wohl gerade zum Büh­nen­meis­ter mit ent­spre­chen­der Abschluß­prü­fung auf­ge­stie­gen. Er zog mich an sein Thea­ter, kaum eine Pre­miere, die ich ver­säumte, solange er ein Wort dort mit­zu­re­den hatte. Ger­lach ver­brauchte viel Kräfte, um sich als Thea­ter­au­tor wenigs­tens in Erfurt durch­zu­set­zen. Miß­trau­isch bearg­wöhnt als unsi­che­rer Kan­to­nist wurde so einer wie er a priori. Dra­ma­ti­ker der DDR hat­ten es gene­rell weit schwe­rer als Lyri­ker, denen ob der nied­ri­gen Band­auf­la­gen doch mehr oder weni­ger ein gewis­ser Spiel­raum von Narren­freiheit zuge­bil­ligt wurde. In die Insze­nie­run­gen hin­ge­gen rede­ten stän­dig Leute hin­ein, die vom Metier kei­nen blas­sen Schim­mer hat­ten, aber sich auf Wort­klau­be­reien spe­zia­li­siert hat­ten. Klein­ka­rierte Spieß­bür­ger, die sich als Hüter der rei­nen Lehre gerier­ten. Was Minderwertig­keitskomplexe an schlech­tem Gewis­sen her­vor­brin­gen, konnte sei­ner­zeit in Rein­kul­tur stu­diert wer­den. Wobei dann in Erfurt erschwe­rend hin­zu­kam, daß die bezirks­ge­lei­te­ten Duo­dez­fürs­ten­tüm­chen die bes­se­ren Ideo­lo­gie­wah­rer als die Ber­li­ner auf­zu­bie­ten trach­te­ten. So wie mir beschei­nigt wurde, es sei nicht erlaubt, eigen­mäch­tig Gedichte zu ver­fas­sen und zu ver­brei­ten. Ich hatte um eine Druck­ge­neh­mi­gung für Neu­jahrs­grüße nach­su­chen müssen.

Zehn Jahre lang gal­ten wir beide inner­halb der Bezirks­grenzen als geäch­tet. In rus­si­fi­zier­ter Sprach­ge­bung hieß das: »Mit denen wird nicht gear­bei­tet.« Erst nach einem Besuch von Minis­ter Klaus Höp­cke wurde die­ses Ver­dikt aufgehoben.

Als es galt, den für die Buch­reihe erfun­de­nen »Nach­satz« zu lie­fern, bot seine Vita über­reich­lich Stoff. Allein das ille­gale Ver­las­sen der DDR und der win­ter­li­che Römer­zug bis hin zu dem miß­glück­ten Ver­such, wie­derum ille­gal in die ange­stamm­ten thü­rin­gi­schen Gefilde zurück­zu­keh­ren, konnte von mir nur in einer Kurz­fas­sung gebo­ten wer­den. Der Band erschien 1973. Im Jahr zuvor war ihm bereits das »Poe­sie­al­bum« 56 gewid­met wor­den. In der Folge sollte Ger­lach kon­ti­nu­ier­lich mit Ver­öf­fent­li­chun­gen und Auf­führungen auf sich auf­merk­sam machen. Erstaun­lich die Zahl der Bücher. Bereits mit dem zwei­ten Gedicht­band »Mau­er­stü­cke« (1979) war er deut­lich über die Anfänge hin­aus­ge­wach­sen. Die Fülle der Ein­flüsse hatte er einge­schmolzen in einen unver­kenn­bar eige­nen Schreib­stil, wie er dies dann auch in den fol­gen­den Gedicht­samm­lun­gen ein­legte. Mit dem ers­ten Pro­sa­band »Das Grau­pen­haus« führte er mich in Süd­thü­rin­gen ein. Um den Nach­satz schrei­ben zu kön­nen, mußte ich selbst nach­se­hen, um mir ein Bild von die­sem Schau­platz machen zu können.

Wenn mich meine Erin­ne­run­gen nicht täu­schen, baute dar­auf eine Viel­zahl gemein­sa­mer Wanderungen.

Unter den Pro­sa­stü­cken der DDR-Lite­ra­tur sticht Harald Ger­lachs Powestj (Lang-Erzäh­lung oder Kurz-Roman) »Das Grau­pen­haus« als Uni­kat her­aus, Die­ses Pro­s­a­de­büt bleibt ein gro­ßer Wurf seitab der gän­gi­gen Mus­ter. Mich begeis­terte und über­zeugte, wie er sei­nen von Krieg und Hun­ger­jah­ren des Nach­kriegs gezeich­ne­ten Gestal­ten­zug in eine poe­ti­sche Spra­che umge­setzt hatte. Sicher haben seine gro­ßen Vor­bil­der Bob­row­ski und Babel als Anre­ger, Bestär­ker mit­ge­wirkt. Aber viel stär­ker trug ihn selbst­er­leb­tes Leben durch die­ses Figu­ren-Tableau von den Erzie­hern des Jugend­werkhofes im Röm­hil­der Stadt­schloß Glücks­burg und ihren Schütz­lin­gen, als Strand­gut des Krie­ges von den Stra­ßen auf­ge­le­sen. Ger­lachs krie­ge­ver­sehr­ter und hei­mat­los gewor­de­ner Vater lebte mit sei­ner Fami­lie in dem Schloß, so daß Harald Ger­lach inten­siv Anteil nahm am Ver­hal­ten der bunt zusammen­gewürfelten und gebeu­tel­ten Exis­ten­zen, aller­dings per Distanz. Die ent­schei­dende Posi­tion, um dar­über frei schrei­ben zu kön­nen. Dabei blieb eine Nähe bestehen, als sei er selbst einer der Auf­ge­le­se­nen gewe­sen. Das Aben­teu­er­li­che, das dann spä­ter­hin in Ger­lach viru­lent rumorte, dürfte zu einem Gut­teil auf die Erleb­nisse im Schloß zurück­ge­hen, in dem die Insas­sen vor­wie­gend mit Grau­pen ernährt wur­den. Als ich mich in Ger­lachs Grau­pen­haus-Welt ein­füh­ren ließ, hatte die aus der Not gebo­rene, an Pes­ta­lozzi und Falk er­innernde, Ein­rich­tung ihre Auf­gabe erfüllt. Das Schloß diente längst ande­ren Zwe­cken. In der Klein­stadt domi­nier­ten die Grenz­be­wa­cher des Grab­feld­schlauchs, der bis kurz vor Mellrich­stadt ins Bay­ri­sche hin­ein­reichte. Nor­mal Sterb­li­chen streng ver­wehr­tes Sperr­ge­biet, so.daß wir uns auf das Gleich­berg-Gebiet kon­zen­trier­ten. Auf­stieg auf den Klei­nen Gleich­berg wie vor uns Höl­der­lin, als er 1793/94 in Wal­ters­hau­sen nahe­bei bei Char­lotte von Kalb als Haus­leh­rer ange­stellt war. Wir stapf­ten bei win­ter­li­chem Wet­ter auf die kel­ti­sche Flieh­burg. Die drei­fach abrie­geln­den Basalt­wälle unwie­der­bring­lich vor­zei­ten von Banau­sen zerstört.

Das Gelände bis in die Gegen­wart von Grab­räu­bern geplün­dert. Eine bewun­derte Vor­bild­ge­stalt hauste am Nord­fuß des Ber­ges. Ger­lachs Schil­de­run­gen von die­sem Ober­förs­ter im Ruhe­stand Emil Gun­del­wein, den ich nie zu Gesicht bekam, erhiel­ten einen lite­ra­ri­schen Glanz, der sich in mei­nem von Ger­lach genähr­ten Erin­ne­rungs­fun­dus nie ver­lor. Erst als ich im Mai 2013 mit Michael Wüs­te­feld unter­wegs war, dran­gen wir auf Umwe­gen bis zu dem Anwe­sen vor, inzwi­schen in ein wohl-behü­te­tes, moder­ni­sier­tes Wochen­end­grund­stück ent­zau­bert. Auch was ich von dem Dorf Bed­heim mit der Schwal­ben­nest­or­gel und dem kaum noch als Schloß zu erken­nen­den Land­sitz der Rühle von Lili­en­st­erns im Gedächt­nis bewahrt hatte, danke ich dem gelän­de­kun­di­gen Wege­meis­ter der sieb­zi­ger Jahre, der mir gerade die süd­thü­rin­gi­sche Region so ver­traut machte, als wäre ich wie er dort hei­misch. Die Ver­glei­che, die ich nach lan­ger Abwe­sen­heit zog, bestärk­ten mich

nun erst recht aufs neue in die­sem Verbundenheitsgefühl.

In der Folge bau­ten wir aus und unter­nah­men gemein­same Wan­de­run­gen, meist eher Tages­mär­sche, wofür uns Thü­rin­gen wie auch meine säch­si­schen Ter­ri­to­rien zahl­rei­che Spiel­räume boten, ohne dabei auf Sen­sa­tio­nen und Rekord­leis­tun­gen aus zu sein. Uns tru­gen die jewei­li­gen landschaft­lichen Gege­ben­hei­ten, die Mög­lich­keit, bei die­sen Oku­lar-Inspek­tio­nen klein­tei­lig-gründ­lich auf­zu­neh­men. Mit­un­ter waren wir eine Woche unter­wegs. Ger­lach stets mit Zelt aus­ge­rüs­tet für den Fall, keine Her­berge zu fin­den, in der für eine Nacht Quar­tier zu bekom­men gewe­sen wäre. So lie­fen wir ein­mal von Grimma aus, nach­dem uns Seume in Hohn­städt den Rei­se­se­gen gespen­det hatte, an der Mulde ent­lang via Klos­ter Nim­b­schen, Col­ditz, Roch­litz bis Penig, um von dort mit­tels öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel von Frei­berg aus die Fuß­tour ent­lang der Bob­ritzsch fort­zu­set­zen, um dann von mei­nen ange­stamm­ten meiß­ni­schen Gefil­den aus die Elb­ne­ben­tä­ler zwi­schen Mei­ßen und Dres­den aus­zu­mes­sen. Unsi­cher bin ich, ob wir damals auch nach Batz­dorf und Schloß Schar­fen­berg gelang­ten. Damals noch in der fes­ten Annahme, in dem ehe­ma­li­gen Tee­haus hoch über der Elbe habe

sich 1799 Nova­lis auf­ge­hal­ten. Was aber bei genaue­ren Recher­chen wohl auf Monica von Mil­titz zurück­geht, wenn nicht bereits vor ihr von Otto Edu­ard Schmidt in die Welt gesetzt wurde, um diese Ört­lich­keit als Neben­schau­platz säch­si­scher Roman­tik literar­his­to­risch bedeu­ten­der zu machen, als er in Wirk­lich­keit war. Was aber nicht geflun­kert ist. Von unser bei­der Auf­ent­halt vor dem ver­schlos­se­nen Tee­haus, wie vor Schloß Schar­fen­berg und vor der Kir­che zu Con­stap­pel bei Gau­er­nitz exis­tierte eine Serie von Ger­lach-Fotos, die unsere Tou­ren glaub­haft zu unter­mau­ern ver­mö­gen. Eines der Fotos dürfte auch in einen Lite­ra­tur­ka­len­der des Auf­bau-Ver­la­ges Ein­gang gefun­den haben. Eine Zeit­lang tru­gen wir uns mit dem Gedan­ken, dem Leben Fried­rich Lam­ber­tys, genannt Muck (1891 Straß­burg – 1984 Bru­cher­mühle bei Ober­lahr im Wes­ter­wald), legen­den­um­weh­ter Fla­gel­lant der Jugend­be­we­gung, auf die Spur zu kommen.

Mir war er als Gestalt aus Kin­der­ta­gen geläu­fig. Die engste Freun­din mei­ner Mut­ter war bei ihm Dienst­mäd­chen, als er in Naum­burg als Drechs­ler Fuß gefaßt hatte, eher als Inha­ber eines Betrie­bes, der Dür­er­häu­ser mit Drechs­ler- und Galan­te­rie­wa­ren be­lieferte. Die Bezie­hun­gen zu ihm gestal­te­ten sich so auf- und ein­dring­lich, daß sie rasch die Flucht ergrei­fen mußte. Was wir bei unse­ren Recher­chen von alten Drechs­lern erfuh­ren, die Muck belie­fert hat­ten, warf ob sei­ner Prak­ti­ken bei den Han­dels­be­zie­hun­gen kein gutes Licht auf die von uns ange­steu­erte Bio­gra­phie. Was letzt­lich dazu führte, Abstand von unse­rem Pro­jekt zu neh­men. Dies bestärkte dann auch die Begeg­nung mit einer Frau, die zu sei­ner Schar auf der Leuch­ten­burg gehört hatte und mit ihm im Win­ter 1920/21 über die Dör­fer gelau­fen war, um bei Bau­ern um Lebens­mit­tel zu bet­teln. Als ich dem hoch­be­tag­ten Muck schrieb, war im Grunde nur zu ver­neh­men, daß er lie­bend­gern noch ein­mal auf die Leuch­ten­burg zurück­ge­kehrt wäre. Jedoch ver­fügte ich nicht über die nöti­gen Arm­län­gen, um dies Vor­ha­ben in die Tat umzu­set­zen. Ein Kapi­tel für sich, das nun unge­schrie­ben bleibt. In Ger­lachs Aben­teu­rer-Gale­rie hätte sich die­ser ent­sprun­gene Marine­soldat, der zum anar­chis­ti­schen Revo­lu­ti­ons­hei­li­gen mutierte, wun­der­bar ein­fü­gen lassen.

Von Seb­nitz aus müs­sen wir auf einer unse­rer Wan­de­run­gen in den hin­ters­ten Win­kel Sach­sens vor­ge­drun­gen sein, über Schä­fer­räu­micht, Bam­mel­weg ins men­schen­leere Hei­del­bach­tal bis zur Kir­nitzsch, via »Im Loch« (Zwei­häu­ser­wald­wei­ler) nach Hin­terherms­dorf, wo eine mei­ner Groß­müt­ter her­stammt. Ein mir seit 1948 ver­trau­tes Dorf, das sich als Appen­dix in tsche­chi­sche Wald­ge­biete hin­ein­drängt, also weit­ge­hend von ihnen umge­ben ist. Über­nach­tung zel­t­über­dacht in einem Dorf­gar­ten, allwo uns freund­li­cher­weise »Bau­frei­heit« gewährt wurde.

Dann in Eil­mär­schen quer durch die Säch­si­sche Schweiz bis Bad Schandau. Ich weiß nur, daß ich auf dem Schramm­stein-Grat­weg anfing zu schu­s­peln, nicht mehr weg­fest war, stürzte, mir das Knie auf­schlug und ich dabei knapp einem Sturz in die Tiefe ent­ging. Ein ander­mal ver­such­ten wir das Fern­weh mit einer Thü­rin­gen-Que­rung zu besänf­ti­gen, ohne daß meine Erin­ne­rung zu berich­ten weiß, wer uns diese Route ein­gab. Von Stadt­roda pil­ger­ten wir bis zu den Plothe­ner Tei­chen. In einer Jugend­her­berge ver­brach­ten wir die Nacht. Andern­tags setz­ten wir fort, hiel­ten Kurs auf Cris­pen­dorf, Schloß Burgk, Blei­loch­tal­sperre bis Saal­burg, wo Harald kur­zer­hand ein Ver­steck suchte, um das Zelt auf­zu­schla­gen. Was ihm zu mei­ner Bewun­de­rung stets im Hand­um­dre­hen gelang. Der dritte Tag sollte uns über das abge­dankte reu­ßi­sche Duo­dez­fürs­ten­tüm­chen Ebers­dorf und Schön­brunn bis in das grenz­nahe Städt­chen Loben­stein füh­ren. Glück­li­cher­weise müs­sen wir sehr gute Süd­sicht gehabt haben. So beka­men wir recht­zei­tig Wind von einer jagd­ähn­li­chen per­so­nen­rei­chen Aktion. Wie bald zu rekon­stru­ie­ren war, daß da nach einem oder meh­re­ren »Grenz­ver­let­zern« gefahn­det wurde. Die Gefahr, Ver­däch­ti­gun­gen mit zeit­spie­li­gem unge­wis­sem Aus­gang auf uns zu zie­hen, ließ uns schleu­nigst ab­biegen, seit­wärts in die Büsche Rich­tung Sormitztal.

Zu lange lie­fen wir dann auf Asphalt, was unser bei­der Füßen nicht bekam, so daß wir in Leu­ten­berg abbra­chen und uns der Bahn bis Saal­feld anver­trau­ten. So leicht konnten

zwei fried­fer­tige Thü­rin­gen-Enthu­si­as­ten per pedes apos­to­lo­rum mit den poli­ti­schen Gege­ben­hei­ten kol­li­die­ren, nahezu jeden­falls, um ein Haar.

Jah­re­lang tru­gen wir uns mit dem Gedan­ken, mit einer Wan­de­rung von Fran­ken­hain bei Cra­win­kel am Rande des Thü­rin­ger Wal­des nach Erfurt eine Jakob-van-Hod­dis­-Gedenk­wan­de­rung ein­zu­le­gen (30 bis 40 km Tages­marsch). Von 1915 bis 1922 war van Hod­dis bei dem Leh­rer Sieg­ling und sei­ner Fami­lie in pri­va­ter Pflege. Wie von einer in Arn­stadt leben­den Sieg­ling-Toch­ter und alt­ein­ge­ses­se­nen Dorf­be­woh­nern zu ermit­teln, die sich des »Schnell-Läu­fers« erin­ner­ten, unter­nahm er in jenen Jah­ren regel­mä­ßig in eige­ner Regie aus­ge­dehnte Fuß­mär­sche, wobei er auch ein­mal als Spion ver­däch­tigt wurde. Zwei­mal brach er bei mise­ra­blem Wet­ter aus, um nach Erfurt zu gelan­gen, wo er Freunde wußte, die er in Ber­lin im »Neuen Club« ken­nen­ge­lernt hatte. Ein Wun­der bleibt, daß und wie er sie tat­säch­lich fand. Sie sorg­ten dann dafür, daß er nach Fran­ken­hain zurück­gebracht wurde. Ohne genau zu wis­sen, wie ziel­stre­big oder auf wel­chen Umwe­gen er diese Tour steeple-chase durch den Erden­schlamm bewäl­tigte, woll­ten wir mit der Wan­de­rung an den mir beson­ders nahen visio­nä­ren Expressio­nisten erin­nern. Immer wie­der auf­ge­scho­ben, konnte die­ser lang­ge­hegte Vor­satz end­lich 1998 in die Tat umge­setzt wer­den. Nun als Pro­jekt in Gruppe. Jeder Teil­neh­mer war ver­gat­tert wor­den, sich in einem Bei­trag zur Wanderung

oder zu dem Dich­ter zu äußern. So kam als Doku­men­ta­tion die­ser Unter­neh­mung der Band »Wan­dern über dem Abgrund. Jakob van Hod­dis nach­ge­gan­gen« (1999) zustande. Dies sollte meine letzte Wan­de­rung mit Harald Ger­lach bleiben.

Ich habe längst nicht an alle unsere Fuß­mär­sche erin­nert. Es könnte so schon der Ein­druck ent­ste­hen, unsere Freund­schaft sei eine rein füßi­sche Ange­le­gen­heit gewe­sen. Von der Hod­dis-Wan­de­rung abge­se­hen, tra­ten wir nie mit dem Vor­satz an, eine der Exkur­sio­nen Text wer­den zu las­sen. Das blieb dem Zufall über­las­sen. Aber die land­schaft­li­che Ver­bun­den­heit fes­tigte, bestärkte ebenso lite­ra­ri­sche Gleich­ge­stimmt­heit. Wenn Harald Ger­lach auch Mas­sen­zu­sam­men­künf­ten mit Vor­liebe aus dem Weg ging, so wie sich unser Aus­tausch am kon­struk­tivs­ten auf den Wan­de­run­gen bewährte, im Thea­ter­mi­lieu war dies anders. Da lebte er in einer Welt für sich. War einer sei­nes­glei­chen, so wie ich dies per Distanz aus der Warte eines Ver­lags­mit­ar­bei­ters erlebte. Aber ich nahm an den Que­re­len und Kämp­fen teil, die er als Dra­ma­ti­ker zu bestehen hatte und wußte, daß er zumin­dest inner­halb des Thea­ters bis zum Inten­dan­ten hin­auf immer wie­der Rücken­deckung erhielt. Lei­der drang er als Dra­ma­ti­ker außer­halb sei­nes Thea­ters nicht recht durch. Ich konnte den­noch von Erfur­ter Auf­füh­run­gen zeh­ren. So unter ande­rem von zwei glanz­vol­len Urauf­füh­run­gen sei­ner Stü­cke bezie­hungs­weise Bear­bei­tun­gen. Poe­ti­sches Thea­ter, das von dem Anar­cho-Außen­sei­ter Alfred Matu­sche inspi­riert war. Mich begeis­terte das Johann-Chris­tian-Gün­ther-Stück »Die Straße« und erst recht die tur­bu­lente Komö­die »Held Ulys­ses« (1982) nach Lud­vig Hol­berg. Über den mei­ner­seits angeb­lich allzu-reich­lich gespen­de­ten Bei­fall wis­sen von der Gauck-Behörde ver­wahrte Hin­ter­las­sen­schaf­ten Ein­schlä­gi­ges zu berichten.

Harald Ger­lach erwies sich in den drei Jahr­zehn­ten sei­nes Schaf­fens als ein in allen Gen­res ver­sier­ter Autor. Er suchte sich immer wie­der thü­rin­gi­sche Schau­plätze. Vor allem die bio­gra­phi­schen Sta­tio­nen, von denen er seine Boden­haf­tung bezie­hen konnte, beflü­gel­ten ihn zu einer Viel­zahl von Tex­ten und Büchern, dar­un­ter Erzäh­lun­gen, Romane, Gedichte, Stü­cke, Opern­li­bretti in Zusam­men­ar­beit mit dem Leip­zi­ger Kom­po­nis­ten Karl Otto­mar Treib­mann, eine Lebens­ge­schichte Fried­rich Schil­lers, die erst nach sei­nem Tod erschien, Hör­spiele, Funk­sen­dun­gen, bio­gra­fi­sche Abrisse auf CD-ROM, weit ver­streut zahl­rei­che Beiträge

zu Sam­mel­bän­den, schwer zu über­schauen. Am bes­ten den Band »Dich­ter und Thea­ter­mann« von Kai Agthe und Lothar Ehr­lich zu Hilfe neh­men, dem eine gründ­li­che Biblio­gra­phie bei­gege­ben ist. Am auf­fäl­ligs­ten, für mich der erstaun­lichste Zuge­winn sei­nes letz­ten Lebens­jahr­zehnts die Essay­is­tik. All dies ver­einigt sich zu einem impo­nie­ren­den Werk, das nicht nur inner­halb des kleins­ten deut­schen Frei­staa­tes zu den­ken und deu­ten wäre. Lei­der geht es ihm wie so manch anderer/anderem sei­nes Metiers, die Rezep­tion läßt zu wün­schen übrig. So teilt er auch die Gefahr, vom Rand ins Ver­ges­sen gedrängt zu wer­den, als ob eine nur noch auf Novi­tä­ten erpichte Gesell­schaft von Her­kunft nicht viel hält. So hat sich auch sein Ver­lag, der ihm so lange die Treue hielt, von ihm abge­wandt. Wie welt­hal­tig gerade »Pro­vinz« sein kann, hat Harald Ger­lach in einem sub­stan­zi­ell über­zeu­gend kom­po­nier­ten Stu­fen­bau hinterlassen.

Wei­mar, Novem­ber 2013

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