Thema
Marie Annett Moser
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Marie Annett Moser
Tunnelflucht in ein anderes Leben
Mascha ist alleinerziehende Mutter von Tinka. Den beiden fehlt es an allen Stellen an Geld. Die Heizung ist kaputt und sie versuchen, sich gegenseitig warm zu halten, weswegen sie sich eine kleine Deckenhöhle bauen und dort übernachten. Mutter und Tochter sind für einander zentrale Fixpunkte und Mascha versucht, Tinka kindliche Erlebnisse zu ermöglichen. So beschreibt sie, wie sie im Sommer ins Schwimmbad schlichen und Tinka, viel zu ehrlich, die beiden dabei verriet. Mascha ist auf Sozialleistungen angewiesen und muss deswegen regelmäßig zu Vorstellungsgesprächen. Sie fängt in einem Altersheim an und scheint gut mit den alten Menschen auszukommen. Über Weihnachten zieht sie dann mit Tinka dort ein, denn die Heizung bleibt kaputt und draußen wird es immer kälter. Was als Übergangslösung bezeichnet wird, zieht sich einige Wochen. Bald schleust Mascha auch ihren Freund Enders ein, der ebenfalls am Rande des Existenzminimums lebt. Die beiden führen eine merkwürdige Beziehung, geprägt von einer Ambivalenz aus Nähe und Distanz. Im Altersheim lernen Mascha und Tinka auch Herrn Tomsonov kennen, einen alten Mann, der an manchen Tagen in der Schwebe steht zwischen der tatsächlichen und seiner eigenen Realität.
Es wird spürbar, wie unterschiedlich der Umgang der Charaktere mit ihrer Lebenswelt ist. Die Gemeinsamkeit, die sie jedoch alle haben, ist die Sehnsucht und der damit einhergehende Gedanke an Flucht. Enders flieht manchmal in Erinnerungen an Zeiten, zu denen er noch nie Kontakt mit dem Amt hatte, Mascha sitzt zu Beginn des Romans in der Badewanne und stellt sich andere Welten vor, wo sie zur Kämpferin wird, und Herr Tomsonov flieht vor seinem Altern gedanklich in andere Lebensphasen, als er noch Auto fahren und wirklich frei entscheiden konnte. Flucht ist es auch, was Mascha und Herrn Tomsonov zusammenführt, denn der alte Mann entdeckt im Keller einen abgesperrten Raum, in dessen Wand er ein Loch graben will. Mascha schließt sich ihm an. Für Herr Tomsonov ist es eine wörtliche Flucht. Das Altersheim ist ihm ein Gefängnis, das er auf keinem anderen Weg allein verlassen kann, für Mascha scheint es eher eine symbolische Flucht zu sein, heraus aus der Armut und der harten Arbeit in ein anderes Leben. Aus dem Loch wird ein Tunnel und Mascha weiß nur eines: Sie muss weitergraben. Sie beginnt, sich regelmäßig dorthin zurückzuziehen, nur um Ruhe zu haben, denn die Arbeit im Heim ist körperlich hart und dabei ein immer wiederkehrendes Muster, das weder Mascha noch die Menschen dort wirklich wollen.
Enders, den Mascha immer Tröster nennt, scheint auch für die Menschen im Heim ein realer Trost zu werden, denn er ‚geistert‘ umher und lässt sich ihre Geschichten erzählen. Dabei ist vor allem die Bewohnerin Elfi Küff eine Anlaufstelle für Enders. Sie erzählt oft von ihrem Bruder und fragt, ob schon Sommer ist; auch bei ihr ist Sehnsucht ein zentrales Motiv.
Tinka sehnt sich ebenfalls nach etwas – sie will zurück nach Hause. Ihr fehlt ein Stück Kindheit und Mascha weiß es; an einer Stelle entschuldigt sie sich, denn ihre Tochter hilft im Heim, anstatt ihre Freundinnen zu besuchen wie andere Kinder, und sieht ihre Mutter nur selten zwischen der vielen Arbeit. Um sie nicht zusätzlich zu belasten, stiehlt Tinka im Heim Geld für ihre neuen Sportschuhe. Sie weiß bereits, dass es im Monat Zeiten gibt, zu denen sie nicht mehr nach Geld fragen sollte. Dabei wird den Leser:innen vor Augen geführt, dass auch Kinder schneller erwachsen werden müssen, wenn ihre Lebensrealität so aussieht. Der Tunnel wird immer wichtiger für Mascha, sodass ihre Tochter sie ermahnen muss, besser auf sie aufzupassen. Das Ende bleibt weitestgehend ungeklärt: Mascha steigt zusammen mit Herr Tomsonov immer weiter hinab in die Tiefen des gegrabenen Tunnels – und kehrt nicht zurück. Es ist ein klarer Bruch mit dem Erwartungshorizont an den Roman, da der Tunnel als Symbol für die Flucht und den Weg in ein besseres Leben ohne harte Arbeit und Armut einbricht. Ist diese Hoffnung zum Scheitern verurteilt? Ein Einbruch ist zwar auf realistischer Ebene erwartbar bei der Art, wie der Tunnel gegraben wurde, für den Tunnel als Metapher aber würde man sich wohl ein hoffnungsvolles und klareres Ende wünschen. Vielleicht wird so auf die Problematik reflektiert, dass vielen Menschen die Flucht nicht gelingt – dass es nicht immer ein gutes Ende geben kann?
Der Erzählstil des Romans schafft Sympathien für die handelnden Charaktere. Mascha, Tinka, Enders und Herr Tomsonov bilden die wichtigsten Figuren, denn die Kapitel wechseln zwischen ihren Perspektiven. Dabei gelingt es der Autorin sehr gut, diese Wechsel nachvollziehbar zu gestalten. Sprachcharakter und Stil ändern sich jeweils. Krüger bleibt auf den gut 200 Seiten außerdem nicht an einen klassischen Erzählmodus gebunden. Sie probiert sich in verschiedenen Stilen aus, indem sie beispielsweise Zwischenkapitel wie Nachtlieder oder auch chorische Liedeinschübe in den Roman integriert. Trotzdem gelingt durchweg eine Balance zwischen poetisch-rhythmischem Stil und lebensnaher, sachlicher Nüchternheit, die beinah zwanglos und leicht Themen wie Armut, Existenzängste, das Vergessen im Alter und den Pflegenotstand sprachlich einbettet, ohne ihnen dabei Ernsthaftigkeit zu nehmen. Der verblüffende Schluss jedoch lässt die Leser:innen ratlos zurück.
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