Franziska Wilhelm – »Dreisam«

Person

Franziska Wilhelm

Ort

Erfurt

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Franziska Wilhelm

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Als ich mei­nen Kopf an die Wand des War­te­häus­chen lehne, erin­nere ich mich an den Ekel, den ich frü­her auf Rei­sen ver­spürt habe, sobald ich die erste Nacht auf einem frem­den Kis­sen schlief. Selbst wenn die Laken frisch gewa­schen rochen, musste ich immer nur daran den­ken, wer wohl schon alles auf die­sem Kis­sen, in die­sem Bett über­nach­tet hatte und meine Kopf­haut begann zu jucken. Mit der Zeit, die ich in einem Hotel­zim­mer oder in einer Feri­en­woh­nung ver­brachte, legte sich die­ser Ekel und ich beru­higte mich. An sich war ich schon frü­her kein beson­ders pin­ge­li­ger Mensch, was Sau­ber­keit betraf. Ich ver­spürte nur immer die­sen Anfangsekel.

Wäh­rend der raue Putz des War­te­häus­chens an mei­nem Nacken kratzt, über­lege ich, wann ich auf­ge­hört habe, mich zu ekeln. An den genauen Zeit­punkt kann ich mich nicht mehr erin­nern. Aber es muss erst Monate nach unse­rer Ent­schei­dung gewe­sen sein, nicht mehr län­ger als zwei Nächte an einem Ort zu blei­ben. Diese Ent­schei­dung tra­fen wir irgend­wann Anfang der Drei­ßi­ger Jahre. Davor hat­ten wir noch ver­sucht, neue Wur­zeln zu schla­gen, eine Gemein­schaft zu fin­den, die uns auf­nahm. Es war eine trau­rige Zeit. Mein Mann und ich waren damals schon fast fünf­zig gewe­sen und den weni­gen Leu­ten, die noch etwas auf­bauen woll­ten, waren wir ein­fach zu alt. Mit fünf­zig begin­nen die Krank­hei­ten und nie­mand kann es sich leis­ten, sich mit Kran­ken zu belas­ten, nicht mal die Gutmütigen.

Motor­ge­räu­sche. Ein Wagen fährt auf der holp­ri­gen Ebene vor dem War­te­häus­chen vor­bei. Aus Reflex drü­cken wir uns fes­ter gegen die Wand, das Kind halb hin­ter, halb zwi­schen uns. Wir hal­ten den Atem an. Das Auto zieht lang­sam vor­bei. Wir atmen aus.

Als unsere Toch­ter ein klei­nes Baby war und wir noch in unse­rer Woh­nung leb­ten, haben mein Mann und ich gern eine Sen­dung geschaut, in der Häu­ser geret­tet wur­den. Oder genauer gesagt, die Fami­lien, die in ihnen leb­ten und sich mit der Reno­vie­rung über­nom­men hat­ten. In der Sen­dung rückte immer ein Ret­ter-Team an, das inner­halb von weni­gen Tagen alles sanierte, umbaute und schö­ner machte.

Wir lieb­ten den Moment, wenn die Fami­lie durch ihr neu gestal­te­tes Zuhause geführt wurde.

Ein­mal waren eine schwan­gere Frau und ein zukünf­ti­ger Vater mit einer sehr gro­ßen Zahn­lü­cke dabei. Schon im Flur musste sich der Mann vor Rüh­rung hin­set­zen. »Ich freu mich so«, sagte er schluch­zend von der neuen Flur­bank aus. »Ich wollte ja immer, dass es der Kleine mal bes­ser hat als wir.«

Es ver­wirrte mich, dass jemand die­sen alten Satz gebrauchte. Mir war damals bereits klar­ge­wor­den, dass nichts mehr bes­ser wer­den würde. Ganz im Gegen­teil. Stumm schaute ich mir die Whats­App-Bil­der mei­ner Eltern an, auf denen sie in Hafen-Restau­rants saßen, Open­air-Kon­zerte besuch­ten oder mit ihren E‑Bikes den Saale-Rad­weg ent­lang­fuh­ren. In einer Art vor­aus­schau­en­der Trau­rig­keit spürte ich dabei, dass es das alles für mich und mei­nen Mann nicht mehr geben würde und für unsere Toch­ter schon gar nicht. Und so ist es auch gekom­men. Aber jetzt, wo ich den Unter­schied nicht mehr nur ver­mute, son­dern real vor Augen habe, beun­ru­higt er mich viel weni­ger. Auf eine selt­same, stille Weise haben wir uns mit unse­rem Schick­sal arran­giert. Wir sind nicht unglück­lich, aber auch nicht froh.

Das Auto ist außer Hör­weite. Mein Mann reicht unse­rer Toch­ter ein Stück Sand­wich­toast. Schon hun­dert Mal hat sie uns gesagt, dass wir ihr nicht mehr immer den ers­ten Bis­sen geben müs­sen, sie sei ja nun nicht mehr im Wachs­tum. Die­sen Win­ter wird sie fünf­und­zwan­zig. Wir machen es trotz­dem wei­ter so. Es ist selt­sam, an so viele Ver­än­de­run­gen im Leben habe ich mich gewöh­nen kön­nen, aber nie daran, dass unser Kind kein Kind mehr ist. Viel­leicht hat es damit zu tun, dass uns die Mei­len­steine feh­len. Die Ein­schu­lung haben wir noch gemacht, aber nach ihren ers­ten Som­mer­fe­rien wur­den die Schu­len nicht wie­der auf­ge­macht. Zu viele Men­schen hat­ten die Stadt ver­las­sen. Nicht nur unsere, son­dern die gro­ßen Metro­po­len im Allgemeinen.

Heute kom­men wir nur noch sel­ten durch wirk­li­che Städte hin­durch. Ich meine sol­che, die immer noch bewohnt sind. Es hat sich gezeigt, dass das Sys­tem Stadt mit den Ver­än­de­run­gen, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten ein­ge­tre­ten sind, nicht mehr gut funk­tio­niert. Heute ist es bes­ser, wenn man Abstand hal­ten kann und einen guten Blick in die Weite hat. Hohe Bau­ten ver­sper­ren die Sicht auf den Hori­zont und auf das, was da kommt. Außer­dem sind sie gefähr­lich, wenn sie einstürzen.

Wie­der Moto­ren­ge­räu­sche. Der Wagen ist zurück. Wir hören seine Räder auf dem stei­ni­gen Boden. Es ist ein alter Jeep. Wir ducken uns erneut in unser Ver­steck. Es ist bes­ser, nachts nicht mit Frem­den zu spre­chen. Tags­über wür­den wir viel­leicht aus dem Häus­chen tre­ten und ver­su­chen, mit den Fah­ren­den ein biss­chen zu han­deln. Mein Mann hat immer ein gutes Gespür, wem man etwas anbie­ten sollte und wem bes­ser nicht. Meine Toch­ter hat das von ihm über­nom­men. Ich bin nie so gut gewor­den, wie sie beide. Dafür finde ich die rich­ti­gen Blät­ter und die Pilze am schnells­ten von allen. Ich ent­de­cke immer als erste die Stel­len, wo sie wach­sen. Jetzt, wo meine Augen immer schlech­ter wer­den, glaube ich sogar, dass sie mich rufen, bevor ich sie sehen kann.

Die Blät­ter und die Pilze dre­hen wir zu klei­nen Pake­ten, die man rau­chen oder kauen kann. Je nach­dem, was man lie­ber mag. Für uns neh­men wir sie nur, wenn die Nächte extrem unwirt­lich sind. Ansons­ten las­sen wir die Fin­ger davon. Sie sind nicht unge­fähr­lich. Aber sie sind gut zu Ver­kau­fen und unsere Toch­ter ist ein extrem gute Ver­käu­fe­rin. Sie hat diese Ver­schla­gen­heit, zu der ihr Vater und ich es nie gebracht haben. Sie ist über­haupt in vie­len Din­gen in die­sem Leben so viel bes­ser als wir.

Manch­mal muss ich dar­über lachen, wenn ich daran denke, dass ich frü­her ein­mal die Befürch­tung hatte, sie könne zu einem ver­wöhn­ten, unselbst­stän­di­gen Ein­zel­kind her­an­wach­sen, weil ich als späte Mut­ter zu weich und zu nach­gie­big bin. Aber da sind mir die Umstände zuvor gekom­men. Unsere Toch­ter ist der unver­wöhn­teste Mensch, den ich kenne. Sie ist tüch­tig. Sie ist zäh. Sie beklagt sich nie. In den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren habe ich sie nicht ein ein­zi­ges Mal wei­nen sehen. Manch­mal beängs­tigt mich ihre Stärke. Dann sage ich mir ganz leise im Kopf, dass es gut so ist.

Von frü­her erzähle ich ihr nur ungern. Aber manch­mal bohrt sie doch nach. Eine Zeit­lang ging es viel darum, wie ihr Vater und ich uns ken­nen­ge­lernt haben. »Auf eine sehr alt­mo­di­sche Art und Weise«, erklärte ich ihr, »über das Internet«.

Genauso aus­dau­ernd wie für unser Ken­nen­ler­nen hat sich unsere Toch­ter auch für unsere frü­here Woh­nung inter­es­siert. Sie selbst hat kaum noch Erin­ne­run­gen daran.

Des­halb sind wir mit ihr die ver­schie­den Zim­mer durch­ge­gan­gen und haben ihr alle Sachen darin auf­ge­zählt, die uns noch ein­fie­len, egal wie groß oder klein. Damit wurde es zu einer Art Spiel. Im Kopf lehr­ten mein Mann und ich ganze Schränke und Schub­la­den aus, um uns gegen­sei­tig zu über­trump­fen. Jedes Ding gab einen Punkt. Unsere Toch­ter fand es lus­tig, jeden Mor­gen den aktu­el­len Stand zu verkünden.

»Was ver­misst ihr aus unse­rer Woh­nung am meis­ten?«, fragte sie ein­mal, als wir schon ziem­lich viele Punkte ange­sam­melt hatten.

Wir konn­ten es gar nicht so genau sagen.

»Dass man ver­traute Dinge um sich hat«, ant­wor­tete mein Mann schließ­lich. Es klang wie eine Mut­ma­ßung. Ich habe lange über seine Ant­wort nach­ge­dacht. Teil­weise hat er Recht. Natür­lich ver­misse ich sol­che Dinge wie mein eige­nes Bett oder unsere große Couch. Aber viel mehr noch ver­misse ich das Gefühl, durch unsere Straße zu lau­fen oder von irgend­wo­her in die hüge­lige Land­schaft ein­zu­fah­ren, in der ich auf­ge­wach­sen bin. Die­ses ganze Gefühl von Zurück­kom­men fehlt mir sehr, aber es ist schwie­rig, ihr das zu erklären.

In der Welt, die unsere Toch­ter kennt, hat man keine Zeit, sein Gefühl an einer bestimm­ten Land­schaft fest­zu­ma­chen. Alles ist stän­dig in Bewe­gung. Nicht nur wir, son­dern auch unsere Umge­bung. Flu­ten, Stürme und Brände set­zen sie ste­tig neu zusam­men. Selbst wenn wir schon mal an einer Stelle waren, erken­nen wir sie beim nächs­ten Besuch meist nicht wie­der. Meine Toch­ter ver­un­si­chert das nicht. Sie kommt gut damit klar. Wenn sie an einen Ort gelangt, son­diert sie die Mög­lich­kei­ten, die sich ihr bie­ten und schöpft sie sofort aus. Nie schiebt sie etwas vor sich her. Denn intui­tiv weiß sie, dass alles nur in kur­zen Zeit­fens­tern existiert.

Wir war­ten dar­auf, dass der Jeep wie­der ver­schwin­det. Er parkt jetzt schon eine Weile ein paar hun­dert Meter von uns ent­fernt. Mein Mann beob­ach­tet die Leute, die aus­ge­stie­gen sind und um den Wagen lau­fen. Es sind drei. Die Licht­ke­gel ihrer Taschen­lam­pen bewe­gen sich has­tig hin und her. Eine Per­son kniet sich auf den Boden. Viel­leicht ist irgend­et­was kaputt. Wir ver­hal­ten uns ruhig und drü­cken uns wei­ter gegen den Putz des War­te­häus­chens. Dicht neben mir steht meine Toch­ter. Sie atmet leise und ruhig. Ich spüre die Wärme ihrer Hand an mei­nem nack­ten Arm.

Manch­mal denke ich dar­über nach, was pas­sie­ren wird, wenn mein Mann und ich nicht mehr da sind. Ob sie das gut ver­kraf­ten wird. Ich beru­hige mich damit, dass sie noch jung und gesund ist und kräf­tig mit anpa­cken kann. Wenn sie dem­nächst allein zu einer Gemein­schaft geht, wer­den sie sie viel­leicht auf­neh­men. Nur mit uns im Schlepp­tau pas­siert das nicht. Schon zwei Mal, haben wir sie darum gebe­ten, uns zu ver­las­sen. Sie hat jedes Mal nur den Kopf geschüt­telt. Frü­her haben wir sie beschützt, jetzt fühlt sie sich für uns ver­ant­wort­lich. Das ist das Problem.

Die Leute vom Jeep leuch­ten in Rich­tung unse­res War­te­häus­chens. »Ob die uns viel­leicht doch gese­hen haben?«, flüs­tert mein Mann aus sei­ner Ecke her­aus. »Ich gehe da jetzt hin«, sagt meine Toch­ter und nimmt das Säck­chen mit den Pilz­pa­ke­ten mit. »Viel­leicht haben die Was­ser für uns.«

Wir hal­ten sie nicht auf. Es hätte kei­nen Zweck. Mit fes­ten Schrit­ten geht sie über die stei­nige Ebene, die frü­her viel­leicht mal ein Fluss­bett war, auf den Wagen zu. Die rechte Hand in der Tasche, wo sie das kleine, scharfe Mes­ser auf­be­wahrt, den Arm mit dem Pilz­beu­tel zum Gruß in die Luft gestreckt. Ihr Stimme klingt klar und fest, als sie »Hallo ihr da!« in die Nacht ruft.

Wäh­rend sie so geht und ruft, wird mir die Kluft wie­der bewusst, die zwi­schen ihr und mir klafft. Meine Toch­ter würde sich nie vor frisch­ge­wa­sche­nen Hotel­kis­sen ekeln. Ich glaube, es gibt nichts, das ihr fer­ner läge. Ich war das ver­wöhnte Kind, dass sie nie gewor­den ist. Ich bin es auch, die immer noch in der Welt her­um­irrt und nach einer Hei­mat sucht. Meine Toch­ter hat sie anschei­nend schon gefun­den. Viel­leicht in den weni­gen klei­nen Din­gen, die sie mit sich her­um­trägt, viel­leicht in den Wei­ten des Hori­zonts, von dem sie abliest, wie das Wet­ter wird und wie lange sie an einem Ort noch sicher ist.

Inzwi­schen ist sie beim Jeep ange­kom­men. Die drei Insas­sen ste­hen ihr gegen­über. Einer rich­tet seine Taschen­lampe auf ihr Gesicht. Meine Toch­ter redet ruhig auf sie ein. Schließ­lich reicht sie ihnen den Beu­tel her­über. Mein Mann seufzt erleich­tert und auch ich mache eine klei­nen Schritt aus dem War­te­häus­chen heraus.

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