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Frank Quilitzsch
aus: Frank Quilitzsch: Wilhelm, wie sieht der Wald wieder aus?, Verlag Tasten & Typen, Bad Tabarz 2021. Alle Rechte beim Verlag Tasten & Typen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.
»Kommen Sie mit, wir drehen eine Runde!«
Gerhard Weise humpelt zu seinem Minitraktor, wirft die Krücken in die Ladewanne und startet den Motor. Ich schwinge mich auf den Beifahrersitz. Schon tuckern wir, die Gänse aufscheuchend und von Hundegebell begleitet, hangaufwärts, vorbei an Wohnhaus, Scheune und Rinderstall, drehen scharf links, gewinnen auf dem abschüssigen Weg ins Dorf an Fahrt und biegen auf die Hauptstraße ab. Häuser und Bauernhöfe hinter uns lassend, nehmen wir Kurs auf den Wald.
Mir ist nicht ganz wohl bei dieser Spritztour. Mein Fahrer ist… Wie soll ich ihn beschreiben? Er hat sich eine Rheumadecke über die Knie gelegt, doch die ins Gesicht gezogene schwarze Kappe lässt ihn wie ein Rennfahrer aus den 1950er-Jahren aussehen. Und wenn er am Ende einer Kurve das Gaspedal durchtritt, möchte man meinen, es sitze ein Neunzehnjähriger am Steuer.
Doch Gerhard Weise ist, nein, ich kann es kaum glauben, neunzig Jahre alt!
Als mir Frank Weise die Nummer seines Großvaters gab, hatte ich mit manchem gerechnet. Nur nicht damit. Klar, dass mir der alte Weise sein Leben erzählen würde. Auf die Familiengeschichte war ich gespannt. Ich wollte wissen, wie Hof, Acker, Vieh und Wald vererbt und welche Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Doch hätte ich mir je träumen lassen, dass ich an einem nasskalten Novembertag mit dem Methusalem unter den Bauern von Dreba über Weg und Steg, Kies und Schotter in der Plothener Teichlandschaft brettern würde?
Großvater Weise stoppt vor einem grauen Gewässer. Seine Augen leuchten wie die eines Jungen.
»Der Teich hier gehört uns. Wir haben immer unsere Karpfen.«
Er gibt wieder Gas, und wir preschen auf dem Deich entlang.
Gegen die Frontscheibe klatschen Tropfen, doch Scheibenwischer gibt es nicht. Das Gefährt besitzt auch keine Türen, so dass mir der Wind von der Seite in die Knochen fährt. Während wir durch die Schlaglöcher rumpeln, klammere ich mich am Haltegriff fest und werfe verstohlene Blicke auf die Geschwindigkeitsanzeige: 30, 35, 40…
Jetzt hebt er auch noch gestikulierend beide Hände. Wir driften an den Rand. Im letzten Moment reißt er das Lenkrad herum.
Dann halten wir vor dem anderen Familienteich. Kein Wasser, nur ein schwarzes, schlammiges Bett.
»Den hat Matthias abgelassen und leergefischt. Eigentlich müsste er sich wieder mit Regenwasser füllen. Doch die Teiche brauchen immer länger, um voll zu werden. Kein Schnee, überhaupt immer weniger Niederschläge.«
Schon geht es die aus jahrhundertealtem Teichgrund gewonnenen Wiesen entlang und wieder in den Wald. In den Weise-Wald…
Aber der Reihe nach.
Am Morgen fahre ich zu Gerhard Weise in den ostthüringischen 250-Seelen-Ort Dreba und klingle an der Tür seines noch immer schicken Eigenheims.
Er öffnet und führt mich durch die Küche ins unbeheizte Büro. Wir reden über den von drei Genrationen geführten Familienbetrieb.
Bis zum Herzinfarkt vor anderthalb Jahren habe er jeden Tag im Stall und auf dem Hof mitgeholfen, sagt er. Nun mache er noch seine Kontrollgänge und sitze die meiste Zeit am Schreibtisch, auf dem ein Aktenordner und die Waldchronik von Thüringen-Forst liegen.
»Ich bin jetzt der schreibende Bauer«, sagt er mit einem Schmunzeln im runden, glatt rasierten Gesicht.
Gerhard Weise führt Buch über sein Leben. Schreibt die Orts- und Familienchronik. Jedes Wort mit der Hand, die Enkel sollen es mal in den Computer tippen.
Er öffnet den Ordner.
»Hier, übers Teichgebiet, über die Gasleitung, die Feldwege… Sind ja alle weggekommen…« Er blättert ein paar Seiten weiter und fährt fort: »Hier die Bisamratte, die die Deiche kaputt gemacht hat… Das weiß ja kein Mensch mehr. Ich habe alles gesammelt. Und ich sage immer zu meinen Enkelsöhnen: Wenn ihr mal hier einzieht, schmeißt nichts weg! Lest euch alles durch!«
Kindheit und Jugend im sechs Kilometer entfernten Steinbrücken. Die Lehrjahre und die Hochzeit mit der Tochter des angesehenen Bauern Blöthner in Dreba. Ersterwähnt wurde die Blöthnersche Wirtschaft unter dem Namen Jakob 1517.
Gerhard Weise ist Jahrgang 1930 und unterteilt sein Leben in drei Abschnitte: Von der Nazizeit bis 1959, die LPG-Zeit und die Jahre von 1990 bis heute. »Das sind meine erfolgreichsten. Nach der Wende haben wir unsere eigene Landwirtschaft wieder aufgebaut.«
An die Zwangskollektivierung erinnert ein Denkmal vorm Haus, das er eigenhändig aus herumliegenden Grenzsteinen gemauert hat.
Auch den Familienwald mussten sie damals abgeben.
Er reicht mir den dicken Ordner, und ich lese laut:
»Herbst 1972: Nach Bucha geladen. Dort wurde der Vorschlag unterbreitet, den gesamten privaten Wald in eine Waldgenossenschaft zu überführen. Wir waren zwar noch Besitzer unseres Waldes, durften aber nicht mehr verfügen…«
Wie groß war der Wald?
»Wir hatten 15 Hektar. Als ich 1979 gebaut habe, musste ich das Bauholz aus unserem Wald klauen. Der Schwiegervater hat mich erwischt und hat mich angeschrien: Bist du verrückt?! Das ist euer Erbe. Das sollt ihr nur rausmachen, wenn ihr mal in Geldnot seid…«
Ich lese weiter: »Wenn man in seinen eigenen Wald gehen wollte, um Holz herauszuholen, musste man einen Antrag stellen.« Und schaue Gerhard Weise fragend an.
»Ja, genau. Wir haben zum Beispiel drei Festmeter zugesprochen gekriegt. Dafür mussten wir das Drei- bis Fünffache an Schadholz aufarbeiten. Ich hatte großes Glück. Wir waren mit dem Revierförster gut dran. Der war zwar Genosse, aber kein gefährlicher. Ich sagte zu ihm, ich brauch‘ Bauholz, zehn, zwölf Festmeter. Nein, sagte er, das kriegen wir nicht durch.« Dann ging alles ganz schnell. Sohn Matthias lief mit der Motorsäge in den Wald, der Förster organisierte einen W50 und ließ das Holz am Wochenende heimlich ins Sägewerk schaffen, von wo sich Gerhard die Bretter dann holte.
»Bestimmt kennen Sie«, sagt er, »diesen Spruch: In der DDR gab’s nischt, aber jeder hatte was. Alle haben geklaut, doch nischt hat gefehlt.«
Er mustert mich verschmitzt mit seinen kleinen Schelmenaugen, von denen eines weit- und das andere kurzsichtig ist.
Doch die Lage in Dreba blieb angespannt, wie ich weiter aus seinen Aufzeichnungen erfahre:
»1979 wurde die Waldgenossenschaft vom staatlichen Forstbetrieb übernommen. Hiermit war es fast unmöglich, Nutzholz zu kriegen…«
Gerhard Weise sinnt einen Moment über die einundvierzig Jahre alten Worte nach, eh er sich zu einem Kommentar entschließt: »Also, Brennholz konnte man sich schon noch ein bisschen rausmachen, das wurde vom Förster zugewiesen. Allerdings gegen Bezahlung und Selbstaufarbeitung.«
Und schließlich: »Nach der Wende wurde der gesamte Wald wieder an die Besitzer zurückgeführt. Uns wurden von unseren 15 Hektar Eigentumswald acht Hektar abgeholzt, mit einem Gesamtwert von zirka 240.000 D‑Mark, wofür wir nichts bekommen haben.«
»Man hat ja immer mit 30.000 D‑Mark pro Hektar gerechnet, dort, wo durchgeforstet war«, erinnert sich Großvater Weise. »Wissen Sie, nachdem Sie mich vorgestern angerufen hatten, habe ich die Forst-Chronik vorgeholt, die ich mal geschenkt bekommen habe, und da steht drin, dass die DDR-Forstgemeinschaften überschüssiges Geld an die Waldeigentümer auszahlen sollten. – Ach ja? Wir haben nie was gekriegt…«
Nach der Wende hat Sohn Matthias von der Treuhand noch Wald dazugekauft, jetzt sind es über 100 Hektar.
Geht er noch hin und wieder in den Familienwald?
»Gucken, ja.«
Was ist das für ein Gefühl?
»Wissen Sie, wir haben einen Kleinsttraktor, der ist wie geschaffen für die Waldwirtschaft. In den setze ich mich manchmal und fahre los. Durch die Flur zu fahren, ist meine größte Freude. Und wenn mir unterwegs was auffällt, wenn ich etwas Schönes oder irgendwelche Mängel sehe, gebe ich das weiter…«
Er sei, erzählt er, gestern erst wieder in dem Waldstück gewesen, wo am 26. August 2018 der Sturm die Fichten umgeworfen hat, und der Anblick habe ihn traurig gestimmt: »Du fährst da lang und siehst, das Holz ist weg. Frank hat mir gesagt, er hatte am Naherholungsgebiet am Teich, wo wir die Hütte haben, 600 Festmeter Schadholz. Damals hat man dafür wenigstens noch mehr Geld gekriegt…«
Ich frage Gerhard Weise, ob er sich Sorgen um den Familienwald macht, falls es noch wärmer und trockener wird.
Sein Blick verfinstert sich.
Wenn er das im Fernsehen verfolge und dort, wo er noch hinkommt, bedrücke ihn das sehr. Da sei schon etwas dran, an der Erderwärmung. »Wir hatten diesen Sommer bis 38 Grad! Ich führ‘ ja auch Tagebuch. Ich messe die Temperatur und den Regen und dokumentiere das.«
Und was sagen seine Messungen?
»Die letzten beiden Jahre waren ganz beschissen. Dieses Jahr haben wir schon 611 Liter Niederschlag. Aber auch 2020 waren die ersten Monate viel zu trocken. Ich würde sagen, der Regen kam gerade noch zur rechten Zeit. Er hat unserer Ernte noch ein bisschen gut getan, wir hatten eine Durchschnittsernte. Aber die Wärme…« Er bricht ab, weil hinterm Fenster Sohn Matthias eine Schaufelwanne Laub vorbeifährt, und nimmt den Faden sofort wieder auf: »Und dann, das merke ich auf meinen Spaziergängen, haben wir immer so eine scharfe Ostluft. Ich sage, wir kriegen Wüstenklima! Am Tage heiß, in den Nächten kühlt sich’s ab, und der scharfe Wind, der Ostwind, trocknet die Böden aus. Das hatten wir früher nicht.«
Wieder geht mein Blick zum Fenster. Diesmal kommt die Frau, auch schon über 80 und noch außerordentlich agil, in Gummistiefeln mit der Schubkarre vorbei. Die Tochter des Blöthner-Bauern, den seinerzeit alle den »Teich-Hans« nannten.
Viel könnten sie ja in ihrem Alter auf dem Hof nicht mehr machen, gesteht Gerhard Weise. Dafür helfen sie jetzt bei der Kinderbetreuung. Jeden Dienstagnachmittag seien die Urenkel-Zwillinge Alma und Selma bei ihnen, ein quirliges Pärchen. »Das ist wie Flöhe hüten.«
Als ich sage, dass ihn sicherlich viele um seine robuste Gesundheit beneiden, verrät er mir sein Geheimrezept: »Täglich Arbeit an der frischen Luft und einmal pro Woche in die Sauna.«
Die Sauna in Hummelshain besucht Großvater Weise seit 50 Jahren. Der Arzt habe es ihm verboten, doch er hält sich an den Rat, den ihm ein 95-jähriger Förster, der noch beim Herzog gedient hatte, einst gab: »Jeder Saunagang verlängert dein Leben um einen Tag.« Da kommen nach geschätzten mehr als 2000 Saunabesuchen sicher ein paar Jährchen zusammen.
Der Alte führt über alles Buch. Kürzlich hat er ausgerechnet, dass er mit 90 jedes Jahr die Strecke von Dreba bis zur Ostsee zurücklegt, mit dem Rollator! »Der gibt mir Kraft, weil ich mich beim Gehen abstützen kann. Mit dem dreh‹ ich täglich meine Zwei-Kilometer-Runde…«
Nach mehrstündigem Plausch erhebt er sich, um mich erst durch die Ahnengalerie in der Veranda, dann mit Hilfe seiner Krücken über den Vierseitenhof und schließlich zum Angus-Rinderstall zu führen. Alles ist in Schuss, nur die prächtige Tanne, die er beim Hausbau pflanzte und die inzwischen das Dach überragt, vertrocknet.
Großvater Weise hat die Wirtschaft 1989 an seinen Sohn Matthias überschrieben, und gemeinsam haben sie den Familienbetrieb nach 30-jähriger Unterbrechung zu neuer Blüte geführt. In zehn, zwanzig Jahren wird er an die Enkel gehen.
»Was du ererbt hast von den Vätern…« Auch Großvater Gerhard kennt den Goethe-Spruch.
»Wir haben alles zusammen aufgebaut«, lautet das Fazit des 90-Jährigen. »Ich weiß, dass es läuft. Matthias und die Enkel harmonieren miteinander. Ich kann mit ruhigem Gewissen abtreten.«
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