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Dirk von Petersdorff
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Als wir im Winter 2008 nach Jena zogen, war dies einer der ersten Eindrücke: Ein Gang aus dem Norden der Stadt durch ein Naturschutzgebiet, etwas planlos die Waldwege bergauf, Trampelpfade, gefrorenes Laub, an einer riesigen Eiche vorbei, auf einer hohen Ebene ankommen, Gras und niedriges Gebüsch, weiter gehen, bis sich plötzlich der Blick auf die Stadt unten, das Saaletal, Nebentäler öffnet, die Augen schließen gegen den pfeifend-kalten Wind, sich umdrehen, landeinwärts Dörfer verstreut, Kirchtürme, ein Neubaugebiet, Stallanlagen, gleißendes Winterlicht. Wo war ich hier?
Der Hügel heißt Windknollen, ist nicht einmal 400 Meter hoch, die Sicht täuscht, denn man fühlt sich enthoben, getrennt von der Stadt, obwohl man nur eine halbe Stunde gegangen ist. Fast immer weht es hier (daher der Name), die Luft frischer und rauer als im Tal, wo es meist still ist. Das heutige Naturschutzgebiet »Windknollen« war früher alles andere als eine Idylle: Hier begann an einem nebligen Oktobermorgen 1806 die Schlacht von Jena und Auerstedt, als Napoleons Truppen, die in einer abenteuerlichen Aktion nachts mit voller Artillerie den Hügel hinaufgezogen waren, die überraschten Preußen attackierten. An dem erhobenen Punkt, wo Napoleon gestanden und seine Truppen befehligt haben soll, steht heute ein Gedenkstein. Auf ihm sind die wichtigsten Orte seines Lebens mit Entfernungsangaben vom Windknollen aus verzeichnet.
Im 20. Jahrhundert diente die Hochebene der Wehrmacht als Übungsgelände für berittene Einheiten. Nach dem 2. Weltkrieg nutzte die Rote Armee sie als Übungsgelände für Panzereinheiten. An den Konturen des Bodens erkennt man noch, wo die Hauptrouten der Panzer verliefen. Eine Panzerrampe hat man nach dem Abzug der sowjetischen Truppen stehen gelassen, auch als Erinnerungsstück. Aus ihr heraus wächst Buschwerk, und Kinder balancieren herüber. Der Abzug ist gerade 25 Jahre her, und wenn man dort oben den Familien beim Drachensteigen zusieht, kann man sich schwer vorstellen, dass die Eltern sich noch daran erinnern, dass dies alles Sperrgebiet war. Gelegentlich fällt im Gespräch eine Wendung wie »ach, die alte Russenstraße«, womit die Straße unterhalb des Windknollens gemeint ist.
Dort, wo die Panzer fuhren, finden sich heute Senken und Mulden, in denen Molche und Wasserinsekten leben. Orchideenfreunde sieht man in gebückter Haltung herumschleichen. Der Muschelkalkboden speichert die Wärme vortrefflich. Im Frühjahr beim Joggen freue ich mich über die ersten Heidelerchen, die in der Luft stehen und ihre Töne herauspfeifen. Beim Laufen dort oben fühlt man sich frei, und manchmal kommt es mir seltsam vor, mit den gedämpften-leichten Laufschuhen über das Schlachtfeld zu laufen, in dem so viel Schwere gespeichert ist. Manchmal meditiert dort oben Einer, steht, die Arme weit ausgebreitet, der tiefstehenden roten Abendsonne gegenüber.
Einmal kam ich in ein plötzlich aufziehendes heftiges Gewitter. An Schutz war im flachen Grasland nicht zu denken. Aber neben einer Straße, die nach Cospeda führt, verlief ein Graben, in den ich mich, weil der Abstand zwischen Blitz und Donner immer kleiner wurde, hineinlegte. Dort entdeckte ich ein breites Betonrohr, das unter der Straße verlegt war, vielleicht als Ablaufmöglichkeit für Wasser. Da ich ohnehin schon lag, schob ich mich mit den Füßen zuerst in dieses Rohr hinein, bis auch der Kopf nicht mehr hinaussah. Draußen krachte es weiter, Blitze zuckten im Takt. Ich lag sicher geschützt und dachte an Napoleon, der jetzt oben donnernd über die Straße ritt.
Von Jena
hoch zur Ebene, ins große Wehn
der Gräser, heben, sinken, immerzu,
die Russenpanzerrampe ließ man stehn,
»und diese Orchidee heißt Frauenschuh«.
Aus Truppenübungsplatz jetzt Biotop,
die helle Gräserinnenseite, Wind –
auch niemals wissen, was uns zog und schob,
so wie Erkennungstakte, Song beginnt,
zum Tanzflur schnell im losen, weißen Hemd,
im Sog, wir Gräser, die vom Wind gekämmt.
Abb. 1-5, Fotos: Jens Kirsten.
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