Person
Ort
Thema
Dirk Rose
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Der Ort ist ein Weg, und seine Gegenwart immer dagewesen. Hinter dem Heimatdorf, jenseits des Bahndamms, durch die Unterführung und einmal links einmal rechts herum, steigt er schnurgerade hügelan, Obstbäume an der Seite, aus der meist der Wind weht. Wer um die letzte Ecke biegt und diese Linie plötzlich vor sich sieht, könnte meinen, sie verlängere sich direkt in den nördlichen Himmel hinein. Inmitten des Berglandes ein freier offener Horizont. Die Ahnung von Küstenstreifen, wo das Blau dunstig zu werden beginnt. Ein Ort, an den man zurückkehrt, um von dort wieder aufzubrechen.
Wie in dem Sommer am Ende der Schulzeit, als die Weizenfelder tiefgelb waren und nach Ernte rochen. Der Birnbaum mit dem Hochstand daran, jede zweite Sprosse schon gebrochen, war der natürliche Grenzposten, von dem aus man in die Fremde hinein sehen konnte. Das Unheimliche, das in der Dämmerung Gebüsch wird. Im tiefen Schatten saßen sie dort unter dem Baum, müde von der Arbeit auf den Feldern, und doch noch nicht müde genug, um nach Hause zu gehn, wohin die Arbeit schon vorausgelaufen war und auf sie wartete: die Ochsen ausschirren, das Korn verladen, die Schweine füttern. Lieber saßen sie noch ein Weilchen hier, rauchten das Kraut vom Feldrand, schauten der Sonne beim Untergehen zu, redeten vielleicht. Das Gras unter dem Baum, das die Abdrücke ihrer Körper bewahrt: der Ort der Freiheit für ein Leben, das keinen anderen Ort kannte (außer man wurde hingeschickt). Von oben, aus den kleinen runden Fenstern des Flugzeugs, das gerade zur Landung auf dem nahe gelegenen Flughafen ansetzt, sind sie wohl kaum zu erkennen; so wenig wie der Junge im hellen T‑Shirt auf dem staubigen Weg, neben den tiefgelben Weizenfeldern, der dem Flugzeug nachschaut, als trüge es ihn in ein anderes Leben, das schon morgen beginnt.
Mit dem Rad hatte er an dieser Stelle immer kehrt gemacht. Absteigen und schieben mußte er meistens schon vorher, denn der Feldweg (so war sein Name) wurde von dem hügelab strömenden Wasser nach jedem Regen stärker ausgewaschen, lauter blanke Steine, die schon dem Schotterweg des Bahndamms ähnelten. Nur ohne Schienen. Dafür die Geleise der lauten, mit einem Eisenring umspannten Wagenräder von Ochsenkarren, die Kartoffeln, Rüben, Getreide hinunter ins Dorf brachten. Abgelöst später vom Zackenmuster der Traktorreifen, Menne am Steuer. Zum Verschwinden brachte den Weg nur der Winter, wenn der Wind aus Nordost über den Feldern die Schneeflocken sammelte, so daß die Ordnung der Landschaft einem gleichtönenden Schweigen wich, das nichts als den Unterschied von Hell und Dunkel kannte: Wie die kurzen Tage und die langen Nächte, in denen man nicht weiß, wohin mit sich. Schneewehen türmen sich in dem Graben am Wegrand, lassen aufwachsen, was sonst vertieft ist. Hier kommen höchstens noch Panzer durch. Die Krone des Birnbaums gleicht einer um Hilfe flehenden Hand.
Und als dann endlich der Frühling kam, fielen Bomben auf die Bahnstrecke, damit kein Nachschub mehr westwärts gelangen könne. Und als der Krieg dann endlich aus war, im längsten Sommer ihres Lebens, räumten die anderen die wertlos gewordene Munition aus den steckengebliebenen Zügen, schafften sie in die Mitte der Felder, weitab vom Weg, und als die Explosion das Dorf und seine Bewohner ein letztes Mal erzittern ließ, stoben die Blüten des Birnbaums zu Boden. Der Kratersee, mit Pappeln am Ufer und Hagebuttensträuchern und einem Stacheldrahtzaun rundherum, sieht aus, als müsste er schon auf alten Karten zu finden sein; so selbstverständlich gehen die Wellen über ihn hinweg. Drüben, den Weg hinunter, kamen die Männer aus dem Krieg und hinauf verschwanden in den Nächten davor die in fremden Sprachen flüsternden Arbeiter, die in den Scheunen schlafen durften, oder beim Vieh, an dem sie sich wärmten.
Der Blick aus dem Gutshaus am Rand jenes Dorfes, das oben auf der hügeligen Ebene liegt, sieht noch keine Pappeln. Ungestört schweift er über das Tal, kaum vom Dampf einer Lokomotive vernebelt, bis hinüber zu den Bergrücken des Thüringer Waldes, den drei Burgen davor, von denen er nicht einmal den Namen weiß. Dafür gibt es Kupferstiche an den Wänden von Schlössern, in die man einmal eingeheiratet hatte. Hinter den Fenstern verweilt die Zeit, irgendwo spielt immer jemand Klavier, bei schönem Wetter stehen die Fenster offen, dann das Dorf darf zuhören oder sich die Ohren zuhalten. Das Leben ist so lang, ist so endlos lang. Man schaut hinüber zu dem Weg, der schnurgerade aus dem Flußtal herauf steigt, und wartet auf Besuch, der niemals kommt. Ab und zu reitet man hinüber zu den Bauern auf den Feldern, über deren Köpfe hinweg man von Dingen spricht, die sie – Gott sei Dank! – viel besser verstehen. Bis die explodierende Munition die Scheiben zerspringen läßt, und wenig später das Gutshaus Stockwerk für Stockwerk sich in Luft auflöst. Gerüchte von Blindgängern halten sich hartnäckig. Von der Toreinfahrt zur LPG leuchtet wohlgenährt eine barocke Sonne mit Schnurrbart. Und aus dem Pfarrhaus gegenüber klingt durch die dichten weißen Blüten der Kastanien im Mai manchmal Musik nach draußen, und hinter den hohen Fenstern der Kirche daneben lauscht die Zeit und fällt in Schlaf, von niemandem mehr gestört.
Doch wo Geld ist, muß es arbeiten. Also wurde der Feldweg in den letzten Jahren asphaltiert, damit die Maschinen des Landwirtschaftsunternehmens schneller auf die Felder gebracht werden können, und damit sie im Herbst oder Frühling nicht mehr im Schlamm stecken bleiben. Auf diese Weise ist eine Abkürzung von der Bundesstraße hinunter ins Tal entstanden, und von dort auf die Autobahn nach Frankfurt oder Dresden. Ein Schleichweg, sagen die Leute, aber auf der schnurgeraden Straße schleicht keiner. Sobald Scheinwerfer oben an der Hügelkuppe aufblitzen, rast das Auto auch schon vorbei. Und weil die Straße schmal ist, tut man gut daran, sich auf sie zu konzentrieren, und bemerkt wahrscheinlich nicht, daß der Hochstand nicht mehr an dem Birnbaum lehnt, dafür ein Haufen Holz darunter liegt, und drüben im Schnee die schwarzen Punkte eine Handvoll Rehe sein könnten, die aus Gewohnheit einen weiten Bogen um den See machen.
Der Weg ist noch da, nur der Ort ist verschwunden. Und mit ihm jede Gegenwart.
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