Dingelstädt, ein kleines Landstädtchen – Goethe und das Eichsfeld
1 : Reise mit Carl August nach Braunschweig

Personen

Johann Wolfgang von Goethe

Carl August v. Sachsen-Weimar-Eisenach

Charlotte von Stein

Ort

Dingelstädt

Thema

Literarisches Thüringen um 1800

Autor

Ulrich Kaufmann

Dichters Worte - Dichters Orte: Von Goethe bis Gerlach. 30 Versuche, Glaux-Verlag, Jena 2007.

Nachtquartier im »Gasthof zur Sonne«( heute: Geschwister-Scholl-Straße)

 

Die erste Begeg­nung mit Din­gel­städt, am 8. August 1784, war kei­nes­wegs beab­sich­tigt. Goe­the beglei­tete als Geheim­se­kre­tär wider­stre­bend sei­nen Her­zog Carl August auf einer Reise nach Braun­schweig. Dort kam der Fürs­ten­bund zusam­men, für den Goe­the wenig Sym­pa­thie hegte. Die dies­mal geringe Rei­se­lust des fast Fünf­und­drei­ßig­jäh­ri­gen erklärt sich auch dar­aus, dass er sich in jenen Tagen ungern von Char­lotte von Stein ent­fernte. Zudem fühlte er sich aus einem regen Gedan­ken­aus­tausch mit Johann Gott­fried Her­der geris­sen, der an sei­nen »Ideen« arbeitete.

Am Abend des sel­bi­gen Tages teilte er dem Freunde Her­der nach Wei­mar mit: »Zwi­schen Mühl­hau­sen und hier brach uns heute die Axe des schwer­be­pack­ten Wagens, da wir hier lie­gen blei­ben muss­ten machte ich gleich einen Ver­such wie es mit einem ver­sproch­nen Gedichte gehn mögte, was ich hier schi­cke ist zum Ein­gang (für ein Epos – U.K.) bestimmt, statt der her­ge­brach­ten Anru­fung und was dazu gehört.

Es ist nicht alles wie es seyn soll ich hatte kaum Zeit die Verse abzu­schrei­ben…« Das Zitat fin­det sich in Karla Mül­lers ver­dienst­vol­lem Buch »Thü­rin­gen kreuz und quer durch­wan­dernd…« (1999), in dem akri­bisch alle Auf­ent­halte des Dich­ters doku­men­tiert wer­den. Liest man jedoch in den Brief­aus­ga­ben gründ­li­cher nach, sieht man zwei­er­lei: Goe­the bat Her­der darum, er möge den in einem Zuge nie­der­ge­schrie­be­nen Din­gel­städ­ter Gedicht­ent­wurf »aufs bal­digste« an Char­lotte von Stein wei­ter­lei­ten. Zudem teilte Goe­the der Freun­din noch am glei­chen Abend das Miss­ge­schick mit der Kut­sche eben­falls mit. In dem Brief heißt es außerdem:

Anstatt dir so offt zu wie­der­ho­len daß ich dich liebe schi­cke ich dir durch Her­der etwas das ich heute für euch gear­bei­tet habe.(…) Um mich zu beschäf­ti­gen und meine unru­hi­gen Gedan­ken von dir abzu­wen­den habe ich den Anfang des ver­spro­che­nen Gedichts gemacht,…lebe wohl ich werde nur einige Stun­den schla­fen kön­nen. Alles schläft schon um mich. Adieu. Din­gel­städt d. 8. Aug. 1784 Abends 10 Uhr. – G.

Der Dich­ter ver­brachte somit kei­nen gesel­li­gen Tag, son­dern einen eher har­ten Arbeits­abend in Din­gel­städt. Der in Din­gel­städt ent­stan­dene Text »Zueig­nung«, das zeigt das Zitat klar, exis­tierte in sei­nem Kopf längst. Kei­nes­wegs reagierte Goe­the in dem Gedicht auf land­schaft­li­che Reize und Beson­der­hei­ten des Eichsfelds, auch wenn man­cher Lokal­his­to­ri­ker dazu neigte, den Text so auszulegen.

Nicht sel­ten pflegte Goe­the im Tage­buch sein Nacht­quar­tier zu ver­mer­ken. Im Falle Din­gel­städts hat er es nicht getan. Mögen die Hei­mat­for­scher in die­ser Frage das letzte Wort behal­ten. Da es sich bei den Zufalls­gäs­ten um einen regie­ren­den Her­zog mit sei­nem Gefolge han­delte, ist davon aus­zu­ge­hen, dass wohl das best­mög­li­che Quar­tier bevor­zugt wurde. Die meis­ten Dar­stel­lun­gen spre­chen davon, es sei der Gast­hof »Zur Sonne« (in der heu­ti­gen Geschwis­ter-Scholl-Straße) gewe­sen. Die Quel­len­lage zu die­ser Frage ist schwie­rig, da Din­gel­städt nicht nur ein­mal von schwe­ren Brän­den heim­ge­sucht wurde.

So zufäl­lig Din­gel­städt als Ent­ste­hungs­ort des Gedichts auch sein mag, die Bedeu­tung des hier in sei­ner Urfas­sung ent­stan­de­nen Tex­tes für das Goe­thi­sche Gesamt­werk ist kaum zu über­schät­zen. Mehr­fach hat Goe­the das alle­go­ri­sche Erzähl­ge­dicht »Zueig­nung« sei­nen Werk­aus­ga­ben vor­an­ge­stellt, auch noch bei der »Aus­gabe letz­ter Hand«. Die Verse seien, meint der Ger­ma­nist Her­mann August Korff, »der schönste Kom­men­tar zu Goe­thes gesam­tem Dich­ten.« Das vier­zehn­stro­phige Lang­ge­dicht war als Ein­lei­tung zu dem Frag­ment geblie­be­nen Epos »Die Geheim­nisse« gedacht. Die Stan­zen­form, mit ihren jeweils acht Vers­zei­len, ver­wen­dete Goe­the sel­ten, meist wenn es ihm um Lebens­bi­lan­zen und große Refle­xio­nen zu tun war.

Das lyrisch Ich begeg­net uns zunächst in der Mor­gen­fri­sche, noch von Nebel umhüllt, »in Däm­me­rung ein­ge­schlos­sen«. Ein ers­ter Höhe­punkt des Gedichts ist in der vier­ten Stro­phe erreicht, als dem Ich mit der auf­ge­hen­den Sonne ein Frau­en­bild erscheint.

Da schwebte, mit der Wolke her­ge­tra­gen
Ein gött­lich Weib vor mei­nen Augen hin-
Kein schö­ner Bild sah ich in mei­nem Leben!
Sie sah mich an und blieb ver­wei­lend schweben.

Nun wei­sen zwar die oben zitier­ten Brief­se­quen­zen auf Char­lotte von Stein zurück, doch ist der Text weit mehr als eine Eloge auf die Wei­ma­rer Freun­din. Besun­gen wird die Muse, die Göt­tin der Poe­sie, die zugleich auch die Göt­tin der Wahr­heit ver­kör­pert. Die­ses gött­li­che Wesen weiht das Ich zum Dichter.

Dem Glück­li­chen kann es an nichts gebre­chen,
der dies Geschenk mit stil­ler Seele nimmt:
Aus Mor­gen­duft gewebt und Son­nen­klar­heit,
Der Dich­tung Schleier aus der Hand der Wahrheit.

»Für den Dich­ter der ‚Zueig­nung’«, schreibt Hans-Diet­rich Dahnke im Goe­the-Hand­buch tref­fend, »sind Dich­tung und Wahr­heit nicht getrennt von­ein­an­der zu den­ken. Wahr­heit ist gewiß das Ursprüng­lichste, aber ihre mensch­lichste Erschei­nungs­weise ist in der Poe­sie gegeben,…«

In der Goe­the-For­schung gilt das Gedicht als ein Text des Über­gangs von der beweg­ten Peri­ode des Sturm und Drang zu einer neuen Klar­heit in früh­klas­si­scher Zeit.

 Dingelstädt, ein kleines Landstädtchen – Goethe und das Eichsfeld:

  1. Reise mit Carl August nach Braunschweig
  2. Dingelstädt im Vorüberfahren
  3. Dingelstädt und Weimar
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