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Anne Gallinat
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Die Roland-Bühne in Saalfeld
In meinem Briefkasten finde ich eine Einladung. Eine merkwürdige Einladung. Darauf ist zu lesen: »Gesprächstermin in der Puppenstube«. Außerdem ein Datum und eine Uhrzeit. Sonst nichts.
Obwohl ich Zweifel an der Seriosität der Einladung habe, mache ich mich am genannten Tag auf den Weg. Zumindest der Ort – die Puppenstube – ist mir bekannt. Sie befindet sich im Stadtmuseum Saalfeld im ehemaligen Franziskanerkloster.
Ich nehme die Hintertür und durchquere das einstige Refektorium, den Speisesaal der Mönche. Dann steige ich die Treppe hinauf und erschrecke wie immer vor den Schaufensterpuppen, die neben dem oberen Treppenabsatz in historischen Schulbänken sitzen. Von dort biege ich in den kleinen Flur ab. Doch schon hier habe ich das Gefühl, dass nicht alles so ist, wie es sein sollte. Mir ist, als ob ich eine Stimme höre. Eine unheimliche Stimme: »Abra im Schuppen erwachen die Puppen.« Und dann sehe ich tatsächlich den Zauberer – eine unserer Marionetten von der Roland-Bühne – über den Flur huschen und in der naturkundlichen Sammlung von Emil Weiske verschwinden. Als ich weitergehe, höre ich noch andere Stimmen, die mir eigentümlich bekannt vorkommen.
Kasper sagt: »Mann, Mann, Mann. Ist das ein Durcheinander hier. Ein richtiges Kribskrabs-Gefitze.« Daraufhin ist ganz eindeutig Fräulein Morgenröte zu hören: »Das ist eine Zumutung.« Der Detektiv klingt entrüstet: »Ick weeß nich, wie ick hier meine Spur finden soll.« Teufelteufel sagt: »Teufelteufel noch mal.« Sein Söhnchen Beelzebübchen darauf streng: »Benimm dich, Papa.«
Die Puppenstube besteht aus drei Räumen: einem großen Raum mit vielen Regalen, auf denen Schachteln mit Marionetten stehen, die mit dem Foto der entsprechenden Puppe versehen sind. In der Mitte dieses Raums steht ein großer Tisch. Neben diesem Raum befindet sich ein kleinerer Raum, in dem weitere Puppenschachteln und unsere Requisiten stehen. Daran schließt sich eine kleine Kammer an, in der gewöhnlich die Puppen hängen, mit denen wir gerade spielen. Als ich die Puppenstube betrete, sitzen die Puppen, die ich eben gehört habe, auf dem großen Tisch. Fräulein Morgenröte, die ständig Angst um ihr weißes Kleid hat, sitzt auf dem Thron, der zum Requisitenbestand gehört, während Kapser auf den Zustand seiner Kleidung wieder einmal gar nicht achtet und es sich auf dem einzigen Dreckfleck bequem gemacht hat. Der Detektiv leidet unter Steifbeinigkeit und kann sich daher nicht setzen. Deshalb lehnt er an einer großen Kiste. Teufelteufel lehnt sich mit dem Rücken gegen die gleiche Kiste, während sein kleines Söhnchen Beelzebübchen ununterbrochen hin und her zappelt.
»Was macht ihr denn hier?«, frage ich. »Und du?«, fragt der Detektiv zurück.
Zunächst schauen wir uns stumm und ratlos an.
Dann aber wendet sich Kasper ziemlich provokant an mich: »Da wir heute offensichtlich nicht das nachquatschen müssen, was du uns in den Mund legst, könnten wir ja mal ein paar Dinge klären…«
Fräulein Morgenröte fragt: »Wie bist du überhaupt auf die komische Idee gekommen, Stücke für uns zu schreiben?«
Einen Moment lang werde ich verlegen. Dann gebe ich zu: »Eigentlich habe ich mich nie für Kasperletheater interessiert.«
»Das ist ja haarsträubend«, findet Fräulein Morgenröte.
»Teufelteufel noch mal«, sagt Teufelteufel.
Und Beelzebübchen erkundigt sich: »Warst du als Kind nie in einem Puppentheater?«
Ich bin peinlich berührt. Trotzdem muss ich den Kopf schütteln: »›Tri, tra, trallala. Der Kasper, der ist wieder da‹, klang in meinen Ohren nicht verlockend, sondern eher primitiv.«
»Na, hör mal«, sagt Kasper beleidigt. Um mir nicht auch noch von den anderen gekränkte Kommentare anhören zu müssen, fahre ich eilig fort: »Natürlich hatte ich ein paar Kasperpuppen zu Hause: eine Gretel, ein Schnatterinchen und vor allen Dingen den ›Heul-Uhu‹. Manchmal spielte mein Vater meiner Schwester und mir etwas vor. Doch in diesen Stücken war ›Heul-Uhu‹ die schillerndste Figur. Kasper dagegen…«
Ich werfe einen erschrockenen Blick auf Kasper und füge schnell hinzu: »Da war ich noch ziemlich klein und dumm.«
Der Detektiv meint: »Det find‹ ick aber och.«
»Und dann kam alles anders. Eines Tages rief mich meine Freundin Claudia – stellvertretende Museumsleiterin – an und erzählte mir, dass ihr nach langer Irrfahrt nach Saalfeld zurückgekehrt seid, dass sie euch wieder auf die Bühne bringen möchte und ob ich mir vorstellen könnte, für euch Marionettenstücke zu schreiben.«
Fräulein Morgenröte streicht bedächtig ihr weißes Kleid glatt und sagt gar nichts. Aber der Detektiv ist ganz aufgeregt: »Wie jeht es denn nu weiter.«
»Ich habe ihr gestanden, dass ich noch nie mit Marionetten zu tun hatte. Sie hat gesagt: Komm doch einfach her und schau sie dir mal an.«
»Und dann? Und dann? Und dann?« Beelzebübchen hüpft ungeduldig auf dem Tisch hin und her.
Teufelteufel wird ungeduldig: »Lass doch endlich mal das Rumgehüpfe!«
Beelzebübchen hüpft unverdrossen weiter: »Ich übe Fliegen. Damit du’s weißt: Wenn ich groß bin, werde ich sowieso ein Engel.«
Kasper sagt zu mir: »Erzähl weiter.«
»Dann habe ich euch gesehen. Vor allem eure Gesichter. Da habe ich euch gleich ins Herz geschlossen und gesagt: Ich schreibe für euch.«
Die Marionetten klatschen. Fräulein Morgenröte bewegt nur ganz zart ihre Hände dabei, ohne dass sie sich berühren.
»Und jetzt seid ihr dran«, sage ich, »wir wissen bis heute nicht alles über eure Irrfahrt.«
»Was weißt du denn?«, fragt Kasper.
»Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurde Roland Freyer in Saalfeld geboren. Der wäre gerne Puppenspieler geworden. Doch nach dem Tod des Vaters musste Roland dessen Textilgeschäft übernehmen. Er konnte das Geschäft allerdings nicht halten und verkaufte es kurze Zeit später.«
»Teufelteufel noch mal«, sagt Teufelteufel.
Der Detektiv schüttelt den Kopf, wobei ihm seine Baskenmütze über die Nase rutscht: »Da kann ma ja vollends aus die Spur jeraten.«
»Und dann hat er angefangen einen Roman zu schreiben und wollte eine Seidenraupenzucht gründen.«
Ich nehme im Gesicht von Fräulein Morgenröte ein winziges Lächeln wahr, was mich ein wenig irritiert. Sie sagt: »Der Roland hatte schon immer so reizende Ideen.«
»Trotzdem war unser Roland ein richtiger Pechvogel«, erzählte ich weiter, »eigentlich gelang ihm nichts, was er in Angriff genommen hat. Nach einem schweren Unfall lag er zwei Jahre im Krankenhaus. Dort lernte er die Witwe des Marionettenspielers Helebrandt kennen. Wisst ihr noch? Der Herr Helebrandt hat euch geschnitzt. Also… äh… sozusagen zur Welt gebracht. Vor knapp einhundert Jahren.«
Kasper kichert: »Oh ja, das war ein kitzliges Gefühl. Ich bin mit einem Niesen auf die Welt gekommen. Deshalb ist meine Nase noch heute so rot.«
»Das war eine Chance«, fahre ich fort, »Roland Freyer hat euch gekauft und die Roland-Bühne Saalfeld gegründet. Innerhalb von Kraft durch Freude ist er ab 1944 in ganz Mitteldeutschland aufgetreten.«
»Das war eine turbulente Zeit«, sagt Kasper.
»Ich kam aus dem Lampenfieber gar nicht mehr raus«, sagt Fräulein Morgenröte.
»Aber irjentwie is unser Roland irjentwie och aus de Spur jeraten«, meint der Detektiv, »manchet mal mussten ma schon komische Nazi-Dinge sagen.«
»Teufelteufel noch mal«, erklärt Teufelteufel.
»Nach dem zweiten Weltkrieg durfte Roland Freyer als NSDAP- Mitglied nicht mehr mit der Bühne auftreten. Das angeblich linientreue KPD-Mitglied Eugen Schmitt hat euch 1947 ins Rheinland entführt. Na ja. Den Rest kennt ihr ja besser als ich.«
Alle Marionetten seufzen tief.
»Sechzig Jahre lang habt ihr als verschollen gegolten.«
Wieder seufzen die Marionetten tief.
»Wo wart ihr denn?«
Auf diese Frage wollen alle gleichzeitig antworten. Es entsteht ein gewaltiges Stimmengewirr in der Puppenstube: »Dachboden… Spinnweben… Koffer… Keller… Kaputt… Staub…«
Ich kann beim besten Willen nichts verstehen. Und so weiß ich nach wie vor nur, was ich nach wie vor weiß: 2009 tauchten die Puppen überraschend in einem Auktionshaus in Königswinter wieder auf und wurden von dort durch die Stadt Saalfeld wieder in ihre Heimat geholt.
Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um. Es ist Claudia, die stellvertretende Museumsleiterin.
»Was machst du denn hier?«, fragt sie verwundert.
»Ich denke mir gerade ein neues Marionettenspiel aus«, sage ich und beschreibe ihr bewusst weitschweifig den Inhalt, damit sie die Puppen nicht bemerkt, die still und leise zurück in ihre Kammer schleichen. In der Tür winkt mir der Zauberer zu. Ich hebe meine Stimme, damit Claudia den letzten Zauberspruch nicht hört:
»Abra im Brei, das Stück ist vorbei.«
Ganz leise höre ich trotzdem Beelzebübchen: »Ich kann fliegen. Bin ein Engel. Ich kann fliegen.«
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