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Anne Gallinat
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Winter. 2021. Flughafen Erfurt. Am Abend. Ein Flugzeug aus der Türkei ist gelandet. Unter den Passagieren ist A. Schwarzgraue Haare. Dunkle Augen. Hellbrauner Teint. Um die 40 Jahre alt. Er trägt einen dunkelblauen Rucksack und zieht einen kleinen Koffer hinter sich her. Er wirkt hilflos. Unsicher. Ja, desorientiert. Den nächsten Flughafenoffizier fragt er auf Englisch: »Wo bin ich?« Der Beamte lacht. »Sie sind in Deutschland.«
Ich habe keine andere Wahl, als zu akzeptieren, dass es hart wird, wieder auf meinen Füßen zu stehen und mein Leben wieder aufzubauen.
»A. ist schwierig«, sagt meine Chefin an der Volkshochschule vor der allerersten Unterrichtsstunde. Im Februar 2022 starte ich mit 15 Teilnehmern einen Deutsch-A1-Kurs.
A. ist tatsächlich schwierig. Es ist nicht so schwierig, dass er sich im Minutentakt meldet: »Entschuldigung, ich habe eine Frage«. Schwierig ist seine extreme Geräuschempfindlichkeit. Das Klicken von Kugelschreibern macht ihn nervös. Er hört Handys im Kursraum, wo niemand mehr ein Handy hört. »Ich kann mich nicht konzentrieren«, moniert A. Immer wieder. Schon in der ersten Woche gibt es das erste Drama. Der Kurs ist sehr bunt zusammengesetzt: meine Schüler kommen aus Nigeria, Russland, der Ukraine, dem Irak, dem Iran, Afghanistan und der Türkei. Und meine Schüler bringen die unterschiedlichsten Voraussetzungen mit. Die Besten haben studiert. Andere sehen in dieser Schule das erste Mal ein Klassenzimmer von innen.
Meine beiden Nigerianerinnen essen gern und viel. Noch wichtiger ist ihnen ihr Outfit. Jeden Tag wird der Kurs mit neuen Frisuren und Haarfarben überrascht. Doch Arbeit am Outfit kostet Zeit, die man morgens nicht hat. Wenn sie nicht zu spät kommen, sitzt die Frisur nicht. Meistens kommen sie zu spät. Dann sehe ich in A.s Gesicht, dass er Mühe hat, sich zusammenzureißen.
Und eines Tages kommt eine der beiden Frauen nicht nur zu spät. Keine Entschuldigung als sie zwei Stunden nach Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer betritt. Sie telefoniert. Temperamentvoll und laut. Bevor ich etwas sagen kann, brüllt A. Springt auf. Die Nigerianerin brüllt zurück. Sie rücken aufeinander zu. Die jungen Männer im Klassenzimmer springen jetzt ebenfalls auf. Stimmengewirr. Persisch, kurdisch, englisch, russisch. Ich verstehe gar nichts mehr und befürchte, dass jeden Augenblick eine Prügelei im Gange ist. Und schließlich brülle ich auch. »Ruhe!« Ich muss zweimal brüllen…
In den ersten zwei Kurswochen wünsche ich mir manchmal, dass A. nicht wiederkommt. Schon wenige Tage nach dem ersten Vorfall kommt es zu einem zweiten Vorfall. Wieder muss ich brüllen. Ich bin entnervt. Ich will Ruhe in meinem Kurs. Ich will nicht brüllen.
Am Ende der zweiten Kurswoche kommt A. mit einem Schreiben zu mir.
»Entschuldigung, ich habe eine Frage«. Sagt er und drückt mir das Schreiben in die Hand. »Morgen habe ich Interview beim BAMF. In Hermsdorf. Hilft mir der Brief?«
Der Brief enthält die Diagnose eines Arztes. Chronische Schmerzen in den Schultern. Im Rücken. Schlaflosigkeit. Alpträume. Bluthochdruck… Eine ganze Liste. Folgen einer zweijährigen Folterhaft in seinem Heimatland. Ich bin schockiert. Irritiert über sein Vertrauen. »Der Brief wird helfen«, sage ich.
Ich sage nie »was wäre wenn«, sondern versuche immer zu sagen: »Was kommt als Nächstes?« Aber der Richter und der Übersetzer in Hermsdorf behandelten mich wie Dreck und ich hasste mich, vor diesen steinherzigen Leuten zu stehen und über meine zwei Jahre im Gefängnis zu reden. Und ich bin mir sicher, dass der Übersetzer viele Teile falsch oder gar nicht übersetzt hat.
Später erzählt er mir, dass er nach dem Gespräch beim BAMF stundenlang durch den Wald gelaufen ist. Es war kalt und regnerisch. Und A. hat geweint und geweint.
Sie haben mich aufgehängt. An den Schultern. Manchmal auch an den Füßen. Wie einen Boxball. Und wie bei einem Boxball haben sie auf mich eingeschlagen. Nicht einer. Drei. Vier. Ich konnte sie nicht sehen. Sie haben mir die Augen verbunden. Es hat ihnen Spaß gemacht.
Wenn A. am Morgen in den Unterrichtsraum kommt, begrüßt er mich mit einem kleinen Diener. Er ist ehrgeizig. Er schreibt alles mit.
Streiten: argue
kämpfen – fight.
Wessen Kuli ist das?
Höflichkeitsform: polite form
Hausfrau/Hausmann
mein Hase/Kater
Kinder müssen zur Schule gehen.
Wir kochen gern. Die Spaghetti sind super.
Ich kann schon gut Deutsch.
Machen Sie bitte das Handy im Unterricht aus.
Sind Sie bereit zu bestellen?
Wollen wir im Frühling ein Kursfest machen?
Feuer im Wald ist nicht erlaubt.
Ich bin verliebt.
Ich wache um vier Uhr auf.
Ich sehe dich um sieben Uhr im Park…
In seinem Heimatland war A. Lehrer. Er erzählt gerne von dieser Zeit. Humorvolle kleine Geschichten. Bei manchen Geschichten kann ich trotzdem nicht lachen.
In einer Unterrichtsstunde habe ich mich über den Propheten Mohammed lustig gemacht. Der große Prophet hatte – wie man weiß – vierzig Frauen. Und ich habe meine Schüler gefragt: »Vierzig Frauen. Also mindestens 100 Kinder. Wahrscheinlich mehr. Wie kann so ein Mann ein guter Vater sein? Wann spielt er mit seinen Kindern? Wann macht er mit ihnen Sport oder hört ihren Sorgen zu?« Die Schüler haben gelacht.
Nach der Unterrichtsstunde hat mich die Schulleitung zu 30 Ohrfeigen und 30 Schlägen verurteilt. Vollzug sofort. Danach durfte ich ein halbes Jahr nicht als Lehrer arbeiten und nach dem halben Jahr musste ich eine Prüfung ablegen, um zu beweisen, dass ich wieder für den Lehrerberuf geeignet bin. Sie haben mir gesagt: »Sprich nicht über den Propheten. Nicht kritisch über Religion.« Ich habe es trotzdem immer wieder gemacht.
A. lernt schnell. Ist aber ständig mit sich unzufrieden. A. ist Perfektionist. Wenn er schlechte Laune hat, sagt er laufend: »Ich verstehe nicht.« Dabei presst er trotzig die Lippen zusammen. Trotzdem habe ich nach zwei Wochen einen Fan gewonnen – A. Er bringt mir Obst und Nüsse mit, die er mir in den Pausen auf dem Spielplatz in der Nähe der Schule wie ein heimliches Geschenk verstohlen zusteckt. Die kleinen Geschenke, sind für ihn offensichtlich ein Alibi dafür, die Pausen mit mir zu verbringen. Ich gewöhne mich schnell daran.
Vor dem Gefängnis und bevor mir all diese schlimmen Dinge passierten, hatte ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Jetzt ist mein Gedächtnis so schlecht, dass ich das Gefühl habe, an der Alzheimer-Krankheit zu leiden und dass ich mich zurückgeblieben fühle.
Ich war viele hundert Tage in Einzelhaft. Die Zelle war kleiner als dein Bad und das Fenster winzig. Keine Sonne. Eine endlos lange Zeit. Immer Angst vor denen, die in meine Zelle kamen.
Am letzten Schultag schreibt er mir:
I miss you so much. Können wir treffen und wandern gehen oder schwimmen oder ein bisschen Wein trinken?
Der Sommer ist heiß. Wir gehen schwimmen. Wir lachen. Wir werden zu Kindern. Rutschen auf der Rutsche im Freibad. Am Ende des Tages sagt A.: »Das war mein erster glücklicher Tag in Deutschland.
Nach diesem Tag gehen wir oft schwimmen. Wir laufen durch Wälder und gehen an der Saale spazieren. A. erzählt mir Geschichten, von den Bäumen, denen wir unterwegs begegnen.
Wir fahren zusammen nach Potsdam. Auch die Atlanten am Schloss Sanssouci haben Charaktere und sind Teil von Phantasiegeschichten, die A. mir erzählt.
Ich wünsche mir immer mehr Menschen wie dich auf dieser Welt. Du erinnerst mich an meine Mutter.
Warum ist deine Mutter gestorben?, frage ich.
A. schweigt. Lange. Ein paar Tage. Eine Woche.
Dann kommt unerwartet eine Antwort: »Meine Mutter ist nicht gestorben. Die Polizei hat sie ermordet. Bei meiner Verhaftung. Sie haben wie besessen an die Tür geklopft. Meine Mutter hat sich schützend vor mich gestellt. Ein Polizist hat sie brutal weggestoßen. Sie ist mit dem Kopf gegen eine Kante gefallen. Ein paar Tage später ist sie gestorben.«
Flughafen Erfurt. Winter 2021.
»In Deutschland?«, fragt A. »In Deutschland.«
A. scheint überrascht zu sein: »Nicht in England?«
Der Polizist schüttelt den Kopf.
Auch A. schüttelt den Kopf: »Deshalb spricht hier niemand Englisch.«
Der Polizist lacht.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragt A. »Nein«, sagt der Polizist.
Er wird in ein Polizeibüro geführt. A. ist mit einem falschen Pass nach Deutschland eingereist. Die Polizisten kassieren nicht nur die fällige Strafe, sondern A.s gesamtes Bargeld und sein Handy.
Die Nacht verbringt er auf Erfurter Straßen. Es ist kalt. A. ist hungrig, durstig. Friert.
Ohne Zuhause. Ohne Heimat.
Nach dem Erstaufnahmelager kommt A. in eine Gemeinschaftsunterkunft. Nach ein paar Wochen bekommt er ein Einzelzimmer. Klein. Sehr klein. Ohne Bad. Ohne Toilette. Miete: 220 Euro im Monat. Die Miete bezahlt das Jobcenter. Ansonsten bekommt er – wie alle Ankömmlinge ohne Bleiberecht – 330 Euro Sozialgeld zum Leben. A. beschwert sich nicht. »Ich kann rechnen«, sagt er, »ich komme klar.«
In seinem Heimatland hat er oft 12 Stunden am Tag an der Universität und verschiedenen Schulen gearbeitet. Er hat gut verdient. Er hatte ein Haus und ein Auto. Das Haus kann jetzt niemand mehr betreten. Die Polizei hat das Schloss gewechselt. Selbst der Vater von A. und die Geschwister haben keinen Zutritt mehr. Sein Konto wurde vom herrschenden Regime eingefroren. Aber A. stört es nicht, wenig Geld zu haben. Dass er plötzlich arm ist, belastet ihn trotzdem. »Man wird nicht ernst genommen. Nicht respektvoll behandelt«, sagt er. Schnell fühlt er sich angegriffen und verletzt.
In der GU fühlt er sich nicht wohl. Nicht sicher. A. ist Atheist. Für ihn gilt kein Rhamadan. Kein islamischer Feiertag. Doch Moslems werden als Moslems geboren. Man nimmt es ihm übel. Nachts wird an seine Tür geklopft. Nachts wird an seine Tür gespuckt.
Manchmal fürchtet A., sie sind Spitzel seines Regimes. Hat Angst, dass sie ihn holen könnten, zurückholen in sein Heimatland. Ins Gefängnis.
Als ich aus meinem Land geflohen bin, dachte ich, ich würde in Sicherheit gehen. Aber jetzt fühle ich mich angegriffen, weil ich umrundet von Moslems bin. Manchmal habe ich Angst, die Dusche zu benutzen oder auf Toilette zu gehen. Ich bekomme immer wieder böse Blicke.
Angst ist A.s ständiger Begleiter. Angst um seine Familie. Angst davor, von Spitzeln geholt zu werden. Aber vor allem Angst vor den eigenen Erinnerungen, die sich nicht einfach wegwischen lassen.
»Eines Tages im Gefängnis haben die Polizisten zu mir gesagt: »Wir sind heute freundlich zu dir. Sehr freundlich.« Auf dem Tisch lag eine Wassermelone. »Du darfst die Melone ganz alleine essen.« A. lehnt ab. Er will die Melone nicht essen. Ein Polizist sagt: »Wir sind freundlich zu dir. Also iss die Melone.« A. muss die Melone essen. Danach kommt ein Verhör. Stundenlang. Die Polizisten haben vorher den Harnausgang verschlossen.
So oft es geht, telefoniert A. mit seiner kleinen Schwester. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Schwester hat ein nicht registriertes Handy. Mit dem offiziellen Handy zu telefonieren, wäre zu gefährlich für A.s Familie. Sie könnten abgehört werden. Mit seinem Vater kann A. nur sprechen, wenn der bei der Schwester zu Besuch ist. Am Telefon ist A. oft lustig und macht Späße mit seinen Neffen. Nach dem Telefonieren weint er oft. Er zeigt mir Bilder von den schönen Parks in seiner Heimatstadt. Von den Bergen. Früher war er Bergsteiger. Seine Freunde haben ihn »Bergziege« genannt, weil keiner so gewandt zwischen den Felsen herum klettern konnte, wie er. Das kann er nicht mehr. 700 Tage Einzelhaft und Folter gehen an niemandem spurlos vorbei. Aber wenn er von den Parks und den Bergen erzählt, merke ich, dass er Heimweh nach seiner Heimat hat. Und niemand weiß, ob er sie jemals wiedersehen wird.
Manchmal frage ich mich, wohin ich gehe und wie ich ende? Und ich schaue in den Himmel und frage den falschen Gott, der angeblich die Menschen geschaffen hat: Warum ich?
Oft sprechen wir über Politik. Über das Regime in seinem Heimatland. Über andere Diktaturen. Über die Welt.
Niemand ist so taub wie die, die nicht hören wollen, und keiner so blind wie die, die nicht sehen wollen. Die Menschheit ist in vielen von Religionen heimgesuchten Teilen der Welt in einen tiefen Schlaf gefallen und hat unschuldige, gutherzige Menschen in einem ewigen Abgrund der Verzweiflung zurückgelassen.
Oft telefoniert A. mit Freunden. Manche waren früher seine Schüler. Sie diskutieren am Telefon. Ich kann nicht verstehen, worüber sie sprechen. Aber ich ahne es. In seinem Land gibt es Unruhen, Demonstrationen gegen das islamische Regime. Manchmal teilt A. kleine, eigene Texte in den sozialen Medien. Texte, die sich gegen das Regime richten.
Wir wollten Glück,
ihr Trauer.
Wir wollten Wissen,
ihr Religion.
Wir wollten Wissenschaftler,
ihr falsches Recht.
Wir wollten Fortschritt,
ihr Reaktion.
Wir wollten eine freie Frau,
ihr gehorsame Ehre.
Was auch immer wir wollten,
ihr wolltet es nicht.
Und was auch immer ihr wolltet,
das wollten wir nicht.
Aber es ist unser Platz.
Unser Platz.
Was ist, wenn die eigene Heimat keine mehr ist und die Fremde zu fremd, um Heimat zu werden?
A. liebt das Lied eines Sängers aus seinem Heimatland. Wenn er es hört, weint er …
Der Wald ohne Wurzeln
In unserer Heimat nennen sie uns die Untreuen, die Ausreißer.
Im Ausland behandeln sie uns wie Kriminelle.
Wir besitzen keine Heimat mehr und außerhalb unserer Heimat nennen sie uns Terroristen.
Die Heimat ist zur Hölle geworden. Für die, die folgsam sind mit einem Visum ins Paradies. Irgendwann. Am Ende der Tage.
Die nicht folgsam sind, werden ins Abseits getrieben, sind Gefangene des eigenen Pessimismus.
Unsere Wurzeln werden nicht wieder wachsen.
Es gibt keine Alternative. Wir müssen akzeptieren, dass wir wandern müssen, reisen,
von keiner Heimat zu keiner Heimat.
Es ist uns ins Gesicht geschrieben, dass wir ewig reisen müssen und nirgendwo stehenbleiben können.
Wir sind für immer ein Wald ohne Wurzeln.
(freie Übersetzung)
Einzelne Informationen wurden geändert. Name und korrekte Orte werden aus Sicherheitsgründen für die Person nicht genannt.
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»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
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