Von Netflix, Bestseller-Algorithmen und Triggerwarnungen in Goethes Faust – Veranstaltungsrückblick von Anke Engelmann zum 4. Thüringer Fachtag Literatur 2022

Thema

Veranstaltungsrückblicke

Autor

Anke Engelmann

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Von Net­flix, Best­sel­ler-Algo­rith­men und Trig­ger­war­nun­gen in Goe­thes Faust
Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat fragte auf sei­nem Fach­tag nach Ver­än­de­run­gen in der Literatur

Von Anke Engelmann

 

Krieg, Kli­ma­ka­ta­stro­phe, Ener­gie­krise, Infla­tion, Migra­tio­nen: Unsere Welt gerät aus den Fugen. Wie wirkt sich das aufs Lesen und auf die Lite­ra­tur aus? Wel­che tech­ni­schen Ent­wick­lun­gen beför­dern wel­che Pro­zesse? Wel­che gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen bestehen, wel­che Vor­aus­set­zun­gen haben sich geän­dert und über­haupt: Brau­chen wir Lite­ra­tur? Und wenn ja – wofür?

Dass sie essen­ti­ell nötig ist, darin waren sich die Besu­cher des vier­ten Fach­ta­ges Lite­ra­tur einig, zu dem der Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat am 7. Okto­ber ins Erfur­ter Kul­tur: Haus Dacheröden gela­den hatte. Das Thema »Welt im Wan­del – Lite­ra­tur im Wan­del« hatte vor allem Men­schen ange­lockt, die von Berufs wegen mit Büchern und dem Schrei­ben zu tun haben, aber auch Lite­ra­tur-Inter­es­sierte und sol­che, die ver­fol­gen, wie sich der gesell­schaft­li­che Umbruch, in dem wir ste­cken, auf Spra­che und Schrei­ben aus­wirkt. Mit dem Unter­ti­tel »Lesen – Kri­tik – Maß­stäbe«, stand fest, um wel­che Aspekte das kom­plexe Thema krei­sen würde. Das Pro­gramm ver­sprach mit drei Vor­trä­gen und einer Podi­ums­dis­kus­sion viel Infor­ma­tion und Stoff für kon­tro­verse Debatten.

Nach Bern­hard Fischer, dem Vor­sit­zen­den des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes, begrüßte Elke Har­jes-Ecker, Abtei­lungs­lei­te­rin Kul­tur in der Thü­rin­ger Staats­kanz­lei, der Schirm­her­rin des Fach­ta­ges, die Anwe­sen­den. Im ers­ten Vor­trag des Tages erläu­terte anschlie­ßend der Lese­for­scher Axel Kuhn vom Insti­tut für Buch­wis­sen­schaft der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg, wie sich das Lesen im digi­ta­len Zeit­al­ter geän­dert hat. Ist es »stan­dar­di­sierte Pra­xis oder indi­vi­du­el­ler Lebens­stil?«, fragte er und kon­sta­tierte seit 1990 einen grund­le­gen­den Wan­del des Leseverhaltens.

Das Lesen, es ver­än­dert sich

Zwar bleibt das Lesen wei­ter­hin die Basis­kom­pe­tenz, die es ermög­licht, an sozia­len Pro­zes­sen teil­zu­neh­men. Doch wel­che Form des Lesens? Funk­tio­na­les oder lite­ra­risch-intel­lek­tu­el­les Lesen? Die bür­ger­li­che Vor­stel­lung einer ein­heit­li­chen Lese­kul­tur werde zuneh­mend obso­let, berich­tete Kuhn. So werde das »lineare Lesen« von Druckerzeug­nis­sen von vie­len Digi­tal Nati­ves als zu lang­sam empfunden.

Einer­seits machen digi­tale Medien eine Viel­falt von Tex­ten zugäng­lich. Ande­rer­seits wer­den die digi­ta­len Spu­ren aus den Lese­me­dien inten­siv aus­ge­wer­tet und das prägt den Markt. Rea­der Ana­ly­tics heißt es, wenn das Kauf‑, Nut­zungs- und Rezep­ti­ons­ver­hal­ten doku­men­tiert und ana­ly­siert wird: Wie viele Leser haben den Text fer­tig gele­sen? Wie schnell haben sie gele­sen? Haben sie Emp­feh­lun­gen gege­ben? Wel­che Mar­kie­run­gen haben sie gesetzt? Ver­lage prü­fen ein­ge­hende Manu­skripte, ob sie den dar­aus erstell­ten Algo­rith­men ent­spre­chen und fer­ti­gen Bücher nach Bau­plan für den idea­len Durchschnittsleser.

Irra­tio­na­les wie Brü­che und Abwei­chun­gen, die Texte erst span­nend machen, wer­den so nicht erfasst. Folge: eine Homo­ge­ni­sie­rung, die bis ins Self­pu­bli­shing zu spü­ren sei. So ste­hen den gewach­se­nen indi­vi­dua­lis­ti­schen Lese­prak­ti­ken Ein­griffe in die krea­tive Frei­heit des Schrei­bens gegen­über – und das, obwohl bis­lang noch kein Algo­rith­mus einen Best­sel­ler vor­her­ge­sagt hat.

Unterm Auf­merk­sam­keits­ra­dar der Feuilletons

Doch wer »macht« die Best­sel­ler? Daran knüpfte der nächste Vor­trag an. »Was darf Lite­ra­tur­kri­tik, was kann Lite­ra­tur­kri­tik?«, fragte Bet­tina Balt­schev vom Säch­si­schen Lite­ra­tur­rat. Jeden­falls könne sie keine große Lite­ra­tur schaf­fen, so die MDR-Lite­ra­tur­re­dak­teu­rin und ‑kri­ti­ke­rin. Aber min­dere erken­nen und ver­hin­dern, dass sie sich als große eta­bliert. So viel zur Theo­rie, dachte man­cher Autor im Publi­kum, den die regio­na­len Medien rou­ti­ne­mä­ßig igno­rie­ren. Doch wie schafft es ein Buch in den Auf­merk­sam­keits­ra­dar der Feuilletons?

Genau da sieht Bet­tina Balt­schev die Lite­ra­tur­kri­tik in der Ver­ant­wor­tung: Sie müsse Sper­ri­ges plat­zie­ren. Texte genau betrach­ten. Selbst­los und unab­hän­gig eigene Aus­wahl­kri­te­rien fest­le­gen, sich zum Bei­spiel auf regio­nale Autoren oder unab­hän­gige Ver­lage kon­zen­trie­ren. Sich den Markt­me­cha­nis­men ent­ge­gen­stel­len und nicht ledig­lich Wer­be­for­mat für Bücher sein.

Nicht alle Lite­ra­tur­kri­ti­ker kön­nen sich ein sol­ches Enga­ge­ment leis­ten. Vor allem auf freien Jour­na­lis­ten las­tet exis­ten­ti­el­ler Anpas­sungs­druck: Nicht leicht, sich dem all­ge­mei­nen Wohl­fühl­trend ent­ge­gen­zu­stel­len oder sich nicht als Waden­bei­ßer, der aus Prin­zip zuschnappt, zu gerie­ren. Ohne­hin ist die Wirk­macht der Lite­ra­tur­kri­tik über­schau­bar. Das Inter­net macht den klas­si­schen »Gate Kee­pern« Kon­kur­renz. Der Ein­fluss der Buch­blog­ger auf den Buch­markt ist immens gewach­sen, und mit der Pro­fes­sio­na­li­tät büßt die Kri­tik ihre lite­ra­ri­sche Exper­tise und Sprach­kunst ein. Balt­schevs Resü­mee klang ernüch­tert: »Wir müs­sen auf­pas­sen, dass die Lite­ra­tur­kri­tik als Gat­tung nicht völ­lig wegrutscht.«

Sta­bi­ler Umsatz, weni­ger Leser

Wie aber fin­det ein Buch seine Leser? Immer schwe­rer, so die Ant­wort von Thors­ten Ahrend, Lei­ter des Lite­ra­tur­hau­ses Leip­zig und Pro­gramm­lei­ter Bel­le­tris­tik beim Wall­stein Ver­lag. »Wozu Ver­lage? – Dienst­leis­ter – Ver­triebs­ma­schine – Kul­tur­in­sti­tu­tion?«, lau­tete der Titel sei­nes Vor­tra­ges. Ver­lags­pro­gramme zwei­mal jähr­lich, Pres­se­ar­beit und Mar­ke­ting, Prä­senz und Bei­la­gen zu den Buch­mes­sen: Die klas­si­schen Metho­den, mit denen die Ver­lage bis vor weni­gen Jah­ren ihre Bücher sicht­bar mach­ten, lau­fen heute oft ins Leere.
71.640 Neu­erschei­nun­gen im Jahr 2021, davon 63.992 Erst­auf­la­gen – das klingt viel. Doch seit 2013 geht die Pro­duk­tion der Titel ste­tig zurück, so der Bör­sen­ver­ein des deut­schen Buch­han­dels. Zwar blieb der Umsatz in der Buch­bran­che in den letz­ten 15 Jah­ren sta­bil – doch die Zahl der Leser schmilzt. Die Leute gucken lie­ber Net­flix-Serien. Durch die täg­li­che Reiz­über­flu­tung und ver­än­derte Gewohn­hei­ten der Medi­en­nut­zung sei Bücher­le­sen in vie­len Frei­zeit­si­tua­tio­nen keine oder nur eine Option unter vie­len, hat der Bör­sen­ver­ein in einer Stu­die herausgefunden.

Klar ist: Mit Bel­le­tris­tik oder Lyrik wer­den heut­zu­tage weder die Ver­lage noch die Autoren reich – die Aus­nah­men kann man an weni­gen Hän­den abzäh­len. Zwar liegt der Anteil der Bel­le­tris­tik am Gesamt­um­satz der Buch­bran­che mit 31,9 Pro­zent immer noch rela­tiv hoch, dazu kom­men noch ein­mal 18,8 Pro­zent für Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur. Die ande­ren ver­kauf­ten 49,30 Pro­zent set­zen sich aus Sach­ti­teln zusam­men: Rat­ge­ber, Reise- und Sach­bü­cher, Schul­bü­cher und geistes‑, natur- und sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Texte.

Auch kleine Ver­lage müs­sen Gewinn machen. Als Fir­men, die Mar­ken­ar­ti­kel ver­trei­ben, errei­chen sie ihre Leser mit Push-Mar­ke­ting, das heißt, ihre Pro­dukte müs­sen sie in das Bewusst­sein der Kun­den regel­recht »hin­ein­drü­cken«, erläu­terte Ahrend. Anders als Her­stel­ler ande­rer Mar­ken­ar­ti­kel hal­ten sie die Preise nied­rig, obwohl sie nur in klei­ner Serie pro­du­zie­ren. Zudem exis­tiert ein grauer Markt, denn ein gele­se­nes Buch kann mehr­fach wie­der­ver­kauft werden.

Keine Bücher zu lesen, wird immer gesell­schafts­fä­hi­ger. Sie ver­schwin­den aus dem öffent­li­chen Dis­kurs und dem per­sön­li­chen Umfeld der Men­schen, hat der Bör­sen­ver­ein in einer Umfrage fest­ge­stellt. Bücher bil­den kein Gesprächs­thema mehr, die Bekannt­heit von Autoren lässt nach. Das Ange­bot der Buch­lä­den erschöpft und über­for­dert die poten­ti­el­len Leser. Im Buch­han­del fin­den sie keine Ori­en­tie­rung. Also grei­fen sie zur Fern­be­die­nung und kon­su­mie­ren Serien statt Lek­türe. Das wie­derum wirkt sich auf die Ver­lage aus. Immer schwe­rer wird es für Autoren, einen zu fin­den, der ganz klas­sisch Mit­tel für die Pro­duk­tion eines Buches »vor«-legt.

Kur­zer Pro­zess und eine lange Mängelliste

In den letz­ten Jah­ren haben wir viele neue Schlag­wör­ter gelernt: Gen­der und Diver­si­tät, Wokeness, Iden­ti­täts­po­li­tik, Can­cel Cul­ture, alte weiße Män­ner, #metoo. Gleich­zei­tig muss­ten wir viele Wör­ter ver­ler­nen, was bei man­chen zu Unsi­cher­hei­ten und per­ma­nen­ten Ver­ge­wis­se­run­gen führt: Darf man das so noch sagen? Genau darum kreiste nach der Mit­tags­pause eine Podi­ums­dis­kus­sion, die Bet­tina Balt­schev mode­rierte. Unter der Über­schrift »Was darf gesagt wer­den und was darf nicht gesagt wer­den?«, dis­ku­tier­ten Kers­tin Hen­sel, Bet­tina Kas­ten, Thors­ten Ahrend und Jens-Fietje Dwars über eine Genera­tion, die neue Prio­ri­tä­ten setzt – mit neuer Spra­che und einer neuen Vor­stel­lung, was Kunst soll und darf.

Auf posi­tive Fol­gen des neuen Zeit­geis­tes wies Bet­tina Kas­ten hin, die das Part­ner- und Pro­jekt­ma­nage­ment im ARD Kul­tur Team lei­tet. »Span­nend, was die Debat­ten aus­ge­löst haben.« Dem lässt sich nicht wider­spre­chen. Wir sind dünn­häu­ti­ger im Hin­blick auf Sexis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung und sen­si­bler für die Belange von Min­der­hei­ten gewor­den. »Man darf auch nicht ver­ges­sen: Immer­hin kön­nen wir heute alles sagen«, ergänzte Jens-Fietje Dwars, Her­aus­ge­ber, Lite­ra­tur­kri­ti­ker und Chef­re­dak­teur der Zeit­schrift »Palm­baum«. »Das war nicht immer so.« Und dass die Demo­kra­tie eigent­lich emp­find­lich auf eine unde­mo­kra­ti­sche »Sprach­po­li­zei« reagie­ren müsse.

Warum sie es nicht oder nur zöger­lich tut? Kers­tin Hen­sel schil­derte ein Genera­tio­nen­pro­blem, das sie als bei ihrer Arbeit als Pro­fes­so­rin an der Hoch­schule für Schau­spiel­kunst »Ernst Busch« erlebt. Tem­pe­ra­ment­voll star­tete die Dich­te­rin, die »Deut­sche Vers­spra­che und Vers­ge­schichte« unter­rich­tet, mit einer umfang­rei­chen »Män­gel­liste« und fasste zusam­men, wie inner­halb weni­ger Jahre der Zeit­geist ihre Arbeit ver­än­dert hat, wobei auch ihre Kol­le­gen an ande­ren Uni­ver­si­tä­ten und Fakul­tä­ten sowie an Schu­len Ähn­li­ches erleb­ten: kata­stro­phale lite­ra­ri­sche Kennt­nisse bei den Stu­den­ten – bis auf wenige Aus­nah­men. Keine Bereit­schaft, Autoren in ihren his­to­ri­schen Kon­tex­ten zu ver­or­ten. Kein Ver­ständ­nis für Ironie.

Kur­zer Pro­zess statt Neu­gier und Offen­heit. Da wür­den kur­zer­hand Worte in Stü­cken und Gedich­ten aus­ge­tauscht und die Kom­ple­xi­tät der poe­ti­schen Spra­che redu­ziert. Den his­to­ri­schen Tex­ten würde kul­tu­relle Aneig­nung vor­ge­wor­fen, und ver­langt, kon­flikt­rei­che Stel­len wie die Gret­chen-Szene im Faust mit Trig­ger­war­nun­gen zu ver­se­hen, um sich pro­ble­ma­ti­schen Erfah­run­gen ande­rer zu ent­zie­hen, statt sich mit ihnen aus­ein­an­der­zu­set­zen. »Ich warne davor, sich mit Lite­ra­tur zu beschäf­ti­gen, die keine Trig­ger­war­nung braucht«, warf Thors­ten Ahrend ein. »Wenn ein Autor über­legt, was er sagen darf, hat er schon verloren.«

Dabei gehört das Ein­füh­len in fremde, viel­leicht schmerz­hafte Erleb­nisse und das Sich-Aneig­nen ande­rer Lebens­wel­ten essen­ti­ell zur Kunst, darin waren sich Podium und Publi­kum einig. »Das ist eine Total­ver­ken­nung des Gen­res Kunst«, schimpfte Kers­tin Hen­sel im Hin­blick auf aktu­elle Debat­ten zur »kul­tu­rel­len Aneig­nung«. »Da kann man’s auch ganz lassen!«

Keine Wohl­fühl­dis­kus­sion, auch wenn sich alle mehr oder weni­ger einig waren. Ein­zi­ges Manko: Man sprach über, nicht mit der her­an­wach­sen­den Genera­tion. Obwohl der Fach­tag für alle offen war, saßen im Publi­kum über­wie­gend Ältere. Die meis­ten von ihnen lehn­ten die aktu­el­len Debat­ten nicht grund­sätz­lich ab. Doch deut­lich wurde: Wer mit Spra­che und Schrift umgeht, hat die Ver­ant­wor­tung, sich mit unde­mo­kra­ti­schen Ten­den­zen aus­ein­an­der­zu­set­zen, so dass ein Kor­rek­tiv ent­steht und Moderne und Tra­di­tion sich gegen­sei­tig befruch­ten kön­nen. Und so brachte der Fach­tag vor allem Ant­wor­ten auf über­ra­schende Fra­gen und viele Ein­sich­ten. Man­che setz­ten sich als Häk­chen fest und wer­den viel­leicht schrei­bend gelöst.

Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/anke-engelmann-von-netflix-bestseller-algorithmen-und-triggerwarnungen-in-goethes-faust/]