Anke Engelmann – »feierabend zelebriert im nirgendwo«

Person

Anke Engelmann

Ort

Weimar

Thema

Schriftsteller lesen

Autor

Anke Engelmann

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

fei­er­abend zele­briert im nirgendwo 

Ber­lin 1987

 

Auf den Schul­tern drückte der Ruck­sack und in Han­nas Bauch die Auf­re­gung. In der Hand hielt sie den Zet­tel mit der Adresse. »Lyche­ner Straße 61«, der Kugel­schrei­ber hatte geschmiert und Schweiß hatte die Farbe ver­wischt. Doch an der Abfolge der Buch­sta­ben war nicht zu zwei­feln, L‑y-c-h-e-n-e‑r. Auch die Haus­num­mer stimmte zwei­fels­frei. Seit min­des­tens einer Stunde irrte sie schon dies­seits und jen­seits der Dimitroff­straße herum, sie schwitzte, sie ärgerte sich über sich selbst. Null Ori­en­tie­rungs­ver­mö­gen! Duncker. Sene­fel­der. Hier musste es doch sein! Wenn sie schon mal in Ber­lin war! Im Prenzl.berg! Und dann ver­tat sie ihre wert­volle Zeit!

In einem Gemü­se­la­den kaufte sie sich einen Bana­nen­ap­fel und eine Papier­tüte mit klei­nen Paprikaschoten.

Sie war ein­fach los­ge­trampt, die Unruhe hatte sie weg­ge­trie­ben, in den letz­ten freien Tagen, bevor die Thea­ter­pause zu Ende ging. Zu Hause hocken, wo doch Nemo jeden Tag die Aus­reise bekom­men könnte – und dann wäre er weg. Auf ewig uner­reich­bar. Erneut wallte Trauer auf, als läge Nemo im Ster­ben. Der Weg von Ost- nach West­ber­lin maß län­ger als nach Wla­di­wos­tok. Auch wenn man von der Ost­seite der Stadt aus die Häu­ser der Gro­pi­us­stadt sehen und sich viel­leicht sogar von einem Hoch­haus in der Leip­zi­ger Straße aus über die Mauer zuwin­ken konnte.

Aber wer in den Wes­ten aus­reiste, ging in eine andere Welt und musste sich dort ein­fü­gen. Man traf sich in Prag, doch man ver­stand sich nicht mehr, die Zurück­ge­blie­be­nen und die Aus­ge­reis­ten, die oft mit Ver­ach­tung auf die Zonen­ba­bys blick­ten. Man nahm ihnen das nicht übel, sie muss­ten sich abgren­zen und durf­ten nicht zurück­bli­cken, schon gar nicht mit Trauer.

Aber er hatte nie gefragt, ob sie mit­kom­men wollte.

Hanna ruckte an ihrem Ruck­sack. Wei­ter! Rechts und links rag­ten Häu­ser in rat­ti­gem Grau­braun wie Zähne im Mund einer ket­ten­rau­chen­den Alten. Die Löcher im Putz, Karies, Ein­schuss­lö­cher? Von 1945? Hanna zog die Schul­tern hoch. Rat­tat­tat­tatta, gleich würde ein Maschi­nen­ge­wehr los­rat­tern. Split­ter wür­den sprit­zen. In den Kel­lern zit­ter­ten Frauen und drück­ten ihre Kin­der an sich, oben rann­ten rus­si­sche Sol­da­ten mit gezo­ge­ner MPi, bell­ten kurze, unver­ständ­li­che Kom­man­dos, lie­fer­ten sich Schuss­wech­sel mit den letz­ten Nazis. Ein paar Schritte wei­ter öff­nete sich die Fas­sa­den­front. Eine Bombe musste die Vor­der­häu­ser weg­ra­diert haben. Am fens­ter­lo­sen Gie­bel eines Sei­ten­flü­gels wucherte eine Garage wie eine Zyste. Die Alte zeigte ihr zahn­lü­cki­ges Maul. Rattattatta!

»Hanna?«

»Pi… Peer? Lissy? Mensch, was macht ihr denn hier!« Sie umarm­ten sich.

»Wir woh­nen hier. Und du? Willst du jeman­den besu­chen?« Peer deu­tete auf ihren Rucksack.

Hanna nickte. »Ich wollte zu Nemo. Wo ist denn die Lychi 61?«

Lissy deu­tete auf das Hin­ter­haus gegen­über: »Hier.«

»Wir woh­nen auch da«, sagte Peer.

»Aber Nemo ist unter­wegs.« Lissy sah sie mit­lei­dig an. »Er kommt erst mor­gen zurück.«

»Typisch Nemo«, sagte Peer. »Wenns ernst wird, taucht er ab.«

»Mist! Kann ich viel­leicht bei euch pennen?«

»Klar. Komm mit.«

Wie sich alles im Kreis drehte! Wer wen kannte, wer mit wem zusam­men­kam, wel­che Lebens­wel­ten sich berühr­ten, für kurze Zeit ver­schmol­zen, sich lös­ten und neu sor­tier­ten. Pickel-Peer, der seine Pickel längst ver­lo­ren hatte und sogar rich­tig gut aus­sah. Und Lissy, die Bas­se­rin, die jetzt lange Haare trug. Die pass­ten gut zusam­men, die beiden.

In der Woh­nung stan­den kaum Möbel. »Das ist unser Ate­lier«, Peer öff­nete eine Tür, »hier kannst du pen­nen«. Auf einer Staf­fe­lei ein halb fer­ti­ges Gemälde in Rot und Blau, abs­trakt. Sanft. Bil­der lehn­ten an den Wän­den. »Ich weiß noch, die Bein­lich, die pein­li­che Ziege«, Hanna spitzte die Lip­pen: »›Künst­ler!‹ Hast du die alle gemalt?« Peer nickte. »Mein Bru­der malt auch«, sagte Hanna. »ziem­lich düs­tere Sachen. Völ­lig ver­rückt. Auf einem Schach­brett tan­zen sku­rile Figu­ren. Und ein Frau­en­schen­kel, aus dem tropft Blut.«

Hanna sah sich um. Auf einer Zeich­nung erkannte sie Lissy. »Ist nichts Beson­de­res«, sagte Peer. Seine Wan­gen schim­mer­ten rosa. Er schloss die Tür, bevor Hanna »Wow!« sagen konnte.

»Und ihr? Seit wann seid ihr zusammen?«

»Och. Schon eine Weile.«

 

Sie saßen in der Küche, schlürf­ten Krü­mel­kaf­fee und aßen Senf­brot. Peer erzählte vom Zusam­men­le­ben im Haus. Die Lychi 61 hatte auf der Abriss­liste gestan­den. Nach und nach hat­ten sich in den Woh­nun­gen, die frei­ge­zo­gen wur­den, neue Bewoh­ner ein­ge­nis­tet. Inzwi­schen war das ganze Haus besetzt.

»Und die KWV macht kei­nen Stress?«

»Nö. Wir haben Miet­ver­träge. Die sind doch froh, wenn hier nichts leersteht.«

»Kenn’ ich hier noch Leute?«, fragte Hanna. »Außer Nemo?«

»Keine Ahnung. Übers Wochen­ende sind halt viele weg­ge­fah­ren.« Nemo sei zu einer Mugge in Hoywoi.

»Hoywoi?«

»Kennst du nicht? Hoyerswerda.«

Hanna über­legte kurz, aber Hoyers­werda lag zu weit weg, als dass sie noch hin­ge­lan­gen könnte.

»Spielst du nicht mehr in der Band?«, fragte sie Lissy. Die winkte ab. »Nee. War mir zu blöd. Scheiß Macho-Typen.«

»Wir wol­len nach­her ins Café Nord und danach zu einer Unter­grund-Lesung. Willst du mitkommen?«

 

Aus dem Café Nord wurde nichts und fast hät­ten sie über Krü­mel­kaf­fee, Senf­brot und Erin­ne­run­gen auch die Lesung ver­passt. Sie hetz­ten durch die Stra­ßen. In Hanna krib­belte Auf­re­gung. »Hier ist es«, sagte Lissy schließ­lich. Im Vor­bei­ge­hen mus­terte Hanna jedes der drei Autos vorm Haus, ob darin Män­ner mit scheuß­li­chen Bril­len und einem Richt­mi­kro­fon saßen. Nichts.

Die Woh­nung lag im ers­ten Stock, die Tür stand offen, Stim­men dran­gen her­aus und der Geruch nach Ziga­ret­ten. »Kommt rein«, sagte eine Frau mit glat­ten, lan­gen Haa­ren, »in der Küche ste­hen Getränke und Gläser.«

»Hat’s schon angefangen?«

»Geht gleich los.«

Im Zim­mer ballte sich der Tabak­rauch in dich­ten Wol­ken. Men­schen hock­ten auf Sofas, Stüh­len und Matrat­zen. Sie rede­ten und rauch­ten. Hanna blickte sich um, aber sie kannte nie­man­den. Kein Tisch, kein Tep­pich, kein Regal, kein Schrank. In der Mitte des Rau­mes stand ein Noten­stän­der auf den lackier­ten Die­len. Davor lag ein schwar­zer Instrumentenkoffer.

Sie stell­ten eine Fla­sche Wein auf den Boden, Hanna schob sich neben zwei Män­ner auf das alte Sofa, Lissy setzte sich auf die Lehne und Peer auf das Fens­ter­brett dicht am Sofa. Noch ein­mal beugte sich Hanna nach vorn und gab die Tüte mit den Papri­ka­scho­ten zu dem Rotwein.

Der Typ neben Hanna zün­dete sich eine Pfeife an. An der gegen­über­lie­gen­den Wand brach ein Stuhl zusam­men, der dar­auf Sit­zende fluchte halb­laut, »Vor­hang: fällt«, kom­men­tierte Hanna. Nie­mand reagierte.

Ein Schwarz­ge­klei­de­ter trat ins Zim­mer. Umständ­lich öff­nete er den Instru­men­ten­kof­fer und nahm ein Saxo­phon her­aus. Das Mur­meln ver­ebbte. Er leckte sich die Lip­pen, setzte das Instru­ment an, als wäre es eine Bier­fla­sche und blies hin­ein, sanft und lie­be­voll. Das Sax reagierte mit einem lang anhal­ten­den Furz­ge­räusch. Hanna lachte und sah zu Peer. Der drehte sich gleich­mü­tig eine Ziga­rette. Der Schwarze setzte noch ein­mal an. Eine Furz­ka­no­nade, eine Fla­tu­lenz aus flat­tern­den Luft­bla­sen, dräng­ten sich eine nach der ande­ren wie aus einer engen, elas­ti­schen Öffnung.

Hanna lachte erneut. Erneut blieb sie die Ein­zige. Der Pfei­fen­mann legte ihr mah­nend eine Hand aufs Bein und ließ sie lie­gen. Hanna rutschte ein Stück zur Seite. Sie wusste, wie ihr Nach­bar aus­sah: nicht mehr jung. Die lan­gen Haare zum Zopf gefasst, dünn und sträh­nig. Gleich­mü­tig paffte er, die Hand auf ihrem Knie, in der Pfeife gur­gelte Speichel.

Das Saxo­phon furzte jetzt hem­mungs­los. Es knat­terte, pupste, kof­ferte, ließ einen fah­ren, schwang sich Ton für Ton in die Höhe, quiekte wie ein Schwein auf der Schlacht­bank und machte schließ­lich einer Stimme Platz. »bei­schlaf tötungs­de­likt ich … häng dich auf in der … stra­ßen­bahn kein … fei­er­abend zele­briert im … nirgendwo …«

Der Dich­ter stand bar­fuß, eine alte Anzug­hose umschlot­terte ihn, den mage­ren Ober­kör­per hatte er wie im Gegen­wind nach vorn geneigt, der Kopf kahl gescho­ren, die geschlos­se­nen Augen von Rin­gen dun­kel umran­det. Tief und beschwö­rend seine Stimme, über­ra­schend laut gegen das Saxo­phon, das jetzt nur noch hauchte. Wie Bil­lard­ku­geln fie­len die Wör­ter aus sei­nem Mund, eines nach dem ande­ren, mit Schnapp­at­mung trieb er sie in den Raum, wo sie roll­ten, kol­li­dier­ten, sich mit neuer Ener­gie auf­lu­den. Hanna wusste: Er schrieb sie alle klein.

»friss meine fleisch– … mar­ken huren­hund im … mus­kel­schwund liegt … das … morgenrot«

Der Dich­ter pen­delte den Ober­kör­per wie in Ekstase. Jetzt tau­melte er direkt auf Hanna zu. Sie beugte sich nach unten und ret­tete die Tüte mit den Paprika. Eine Schote war her­aus­ge­fal­len. Hanna streckte den Arm, tas­tete auf dem Boden. Ihre Hand umschloss Glat­tes, Fes­tes, etwas berührte sie an der Stirn. Vor ihr auf dem Och­sen­blut­rot die weiß-grauen Vier­tel­monde der Zehen­nä­gel, dar­über der Mot­ten­ge­ruch der Dich­ter­hose. Sie schob den Ober­kör­per nach hin­ten, rich­tete sich auf und sah dem Dich­ter direkt ins Gesicht. Seine Augen leuch­te­ten aus­drucks­los wie  Aqua­ma­rine. Jetzt wen­dete er sich ab. Erleich­tert nahm Hanna die Schote und biss hinein.

Schärfe explo­dierte in ihrem Mund. Trä­nen schos­sen in die Augen.

»im mau­er­blüm­chen der … spalt­pe­nis wuchert treibt die … zukunft ins loch die … genossen …«

Hanna schnappte nach Luft. Sie spürte, wie die Trä­nen über ihr Gesicht lie­fen und zog vor­sich­tig den Rotz in der Nase hoch. Der Pfei­fen­mann rückte ab. Der Dich­ter drehte den Kopf und sah sie durch­drin­gend an. Hanna deu­tete auf die Paprika, hechelte und wedelte erläu­ternd mit der Hand vor dem Mund, doch der Dich­ter hatte sich schon abge­wen­det. Seine Wort­kas­ka­den klick­ten und kul­ler­ten, lau­ter quiekste das Saxo­phon, Hanna nahm Lissy, die sich gerade einen Wein ein­goss, die Fla­sche aus der Hand, setzte sie an, trank einen gro­ßen Schluck und bewegte die Flüs­sig­keit im Mund.

Ein fata­ler Feh­ler. Sie hatte Alko­hol auf ein Feuer gegos­sen. Statt zu ver­glim­men, loderte der Paprika­b­rand erneut auf, stär­ker als zuvor. Trä­nen trief­ten aus den Augen und Rotz aus der Nase. Kein Taschen­tuch in Han­nas Hosen­ta­sche. Der Mund brannte, das Nass tropfte, Wör­ter pras­sel­ten, Asso­zia­ti­ons­ket­ten umschäum­ten sie und immer noch kein Taschen­tuch. Sie sprang auf und rannte hin­aus, am Dich­ter vor­bei, riss die Türen auf, fand das Klo und schnäuzte die letz­ten zwei Meter des stein­har­ten Toi­let­ten­pa­piers nass.

Den Rest des Abends stand Hanna im Flur und blickte in den Raum, der sich immer stär­ker mit Ziga­ret­ten­rauch zuzog.

»Und? Hats dir gefal­len?«, fragte Lissy auf dem Nachhauseweg.

Hatte es ihr gefal­len? Hanna nickte zögernd.

»Warst echt bewegt«, Peer grinste. »Hast die janze Zeit geflennt.«

»Das war die Paprika! Die war sauscharf. Echt!«

»Ja klar. Paprika.«

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