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Walther von der Vogelweide / Christoph Schmitz-Scholemann
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 29.10.2016.
Mir hat Herr Gerhart Atze
mein Pferd erschossen zu Eisenach.
Ich zog sogleich vor das Gericht,
Und wer da saß, ihr glaubt es nicht:
Ein Mann aus dem Regierungsamt,
in dessen Dienst – Herr Atze stand.
Drei Goldmark war das Pferd wohl teuer.
Was nun geschah, war ungeheuer,
hört, wie sich der Herr Atze wand,
als es ans Zahlen ging. Er hob die Hand
und sagte, dass meine liebe Mähre
verwandt mit einem Pferde wäre,
das ihm den Finger einstmals ab
gebissen hat. Ich schwör bei meiner Ehre,
dass die angeblich verwandten
Pferde sich nicht mal kannten.
Doch steh ich ohne Zeugen.
So muss das Recht sich beugen.
aus: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche, herausgegeben von Thomas Bein, Berlin/Boston 2013., aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Christoph Schmitz-Scholemann.
Mit diesem fast 800 Jahre alten Gedicht hat Walther von der Vogelweide die Tradition der Justizkritik in der deutschen Lyrik begründet. Der Fall ist schnell erzählt: Bei seinem Aufenthalt am Hof des Landgrafen Hermann II. in Eisenach wird das Pferd des Dichters erschossen, und zwar von einem gewissen Gerhart Atze, einem Hofbeamten, dessen Existenz übrigens urkundlich nachgewiesen ist. Walter verklagt Atze auf Schadensersatz. Als die Gerichtsverhandlung beginnt, staunt Walter nicht schlecht. Denn zu Gericht sitzt ein Vorgesetzter des Herrn Atze, vielleicht Minister, vielleicht sogar der Landgraf selbst. – jedenfalls steckt der Richter mit Atze offenkundig unter einer Decke. Die Befürchtung, es werde unter diesen Umständen nicht zu einem neutralen Urteil kommen, bewahrheitet sich auf beinahe surreale Weise: Gerhard Atze verteidigt sich gegen die evident gerechte Schadensersatzforderung des Dichters mit einem, wie wir hoffen wollen, auch nach damaligem Recht lachhaften Argument: Das getötete Pferd sei verwandt gewesen mit einem anderen Pferd, und dieses andere Pferd habe ihm, Atze, irgendwann einmal den Finger abgebissen. Nun werden in Prozessen nicht selten haarsträubend unsinnige Einwände gegen berechtigte Forderungen vorgebracht. Das Besondere hier ist, dass der Richter sich, in geheuchelter Neutralität, auf diesen Unsinn einlässt und von Walter verlangt, den Gegenbeweis anzutreten. Walter soll eine, wie es die Juristen nennen, negative Tatsache beweisen, nämlich dass sein totes Pferd nicht verwandt ist mit jenem anderen Pferd, von dem er nichts weiß außer, dass von ihm behauptet wird, es habe Atze den Finger abgebissen.
Ob der Fall sich wirklich so zugetragen hat, wissen wir natürlich nicht. Vielleicht hatte der Dichter sich über den Landgrafen oder den Beamten Atze geärgert und wollte ihnen eins auswischen. Wie auch immer: Wer sich in hohen Ämtern Parteilichkeit und Eigennutz zuschulden kommen lässt, sollte wissen, dass dies seinen Ruf über Jahrhunderte hinweg beschädigen kann. Auch wenn er kurzfristig am längeren Hebel sitzt – ob zu Eisenach, zu Erfurt oder anderswo.
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