Literarische Bildung: Das Wie, das Warum und das Trotzdem

Person

Anke Engelmann

Ort

Erfurt

Thema

Veranstaltungsrückblicke

Autor

Anke Engelmann

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Von Anke Engelmann

 

Der Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat lud am 11. Okto­ber 2024 zum 5. Fach­tag ins Erfur­ter Kul­tur: Haus Dacheröden

Kusch­lige Selbst­be­stä­ti­gung einer klei­nen und pri­vi­le­gier­ten Elite? Oder not­wen­dige Debatte in einem gra­vie­ren­den gesell­schaft­li­chen Wan­del? Nach Uto­pie und Wirk­lich­keit der lite­ra­ri­schen Bil­dung fragte der fünfte Thü­rin­ger Fach­tag Lite­ra­tur, den der Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat am 11. Okto­ber 2024 aus­ge­rich­tet und den die Thü­rin­ger Staats­kanz­lei geför­dert hatte. Das Thema lockte zahl­rei­che Inter­es­sierte ins Erfur­ter Kul­tur: Haus Dacheröden: Schrei­bende, Leh­rende und Ler­nende aus Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten und Biblio­the­ken, aus der Ver­wal­tung und der Poli­tik. Alle einte die Nähe zum und die Freude am Buch und dem gedruck­ten Wort.

Wie ent­steht lite­ra­ri­sche Bil­dung? Wel­che Fak­to­ren begüns­ti­gen, wel­che hem­men die Freude am Lesen? Gibt es »gutes« und »schlech­tes Lesen«? Fres­sen die moder­nen Medien unsere schöne Lese­tra­di­tion und machen die Buch­kul­tur kaputt? Und wenn ja – was wird dann aus der Gesell­schaft? Zwei Refe­ren­ten und eine Refe­ren­tin beleuch­te­ten das Thema: die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Chris­tof Hamann und Cor­ne­lia Rose­b­rock sowie der Ger­ma­nist und Phi­lo­soph Jan Phil­ipp Reem­tsma. Am Nach­mit­tag run­dete eine Podi­ums­dis­kus­sion den Tag ab. Für Debat­ten stand aus­rei­chend Zeit zur Ver­fü­gung und die Anwe­sen­den ergrif­fen gern das Wort, um eigene Erfah­run­gen und Wer­tun­gen ein­zu­brin­gen. Die Jour­na­lis­tin Blanka Weber mode­rierte die Veranstaltung.

Zur Begrü­ßung bedankte sich Jörg Diet­rich, Vor­sit­zen­der des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes, beim Noch-Kul­tur­mi­nis­ter Ben­ja­min-Imma­nuel Hoff für die gute Zusam­men­ar­beit. In den ver­gan­ge­nen Legis­la­tur­pe­ri­oden habe die Lan­des­re­gie­rung die Rah­men­be­din­gun­gen für die Kul­tur im Frei­staat ent­schei­dend ver­bes­sert, so Dietrich.

»Die Zusam­men­ar­beit war mir eine Ehre und ein Ver­gnü­gen«, erwi­derte Hoff. In sei­nem Gruß­wort plä­dierte er für mehr Zuver­sicht, auch und gerade in Bezug auf das Lesen. Denn gerade jetzt, nach jah­re­lan­gen apo­ka­lyp­ti­schen Nach­rich­ten zum Lese­ver­hal­ten, erlebe man eine Renais­sance des Lesens, führte der geschäfts­füh­rende Minis­ter für Kul­tur, Bun­des- und Euro­pa­an­ge­le­gen­hei­ten und Chef der Staats­kanz­lei aus. Aller­dings in einer neuen Form: als Teil einer über­grei­fen­den Medi­en­kom­pe­tenz. Damit müsse man arbei­ten, auch wenn es nicht die sei, »die wir uns wün­schen«. Diese Lese­kom­pe­tenz müsse mit lite­ra­ri­scher Kom­pe­tenz ver­knüpft werden.

Hoff sieht dafür auch Bedarf: Viele Jugend­li­che klag­ten über einen Data-Over­flow und näh­men gern die Mög­lich­kei­ten des Rück­zugs an, die Bücher bie­ten könn­ten. »Wir müs­sen die Zukunft neu sehen«, for­derte Hoff: nicht als Trich­ter, der sich in Rich­tung Zukunft ver­enge, son­dern als umge­kehr­ten Trich­ter, der sich für unzäh­lige neue Mög­lich­kei­ten und Wege öffne. »Ich wün­sche uns Zuver­sicht«, schloss er.

Üben und Scheitern

»Ich bin zuver­sicht­lich«, begann Pro­fes­sor Chris­tof Hamann, der an der Uni­ver­si­tät Köln Theo­rie und Pra­xis des pro­fes­sio­nel­len lite­ra­ri­schen Schrei­bens unter­rich­tet, zudem selbst Schrift­stel­ler ist und die Lite­ra­tur­zei­tung »die horen« mit her­aus­gibt. In sei­nem Vor­trag, der sich auf seine Erfah­run­gen als Leh­ren­der stützt, kon­zen­trierte sich Hamann auf zwei Schwer­punkte: das Üben und das Schei­tern. Spä­tes­tens seit Michel Fou­cault habe das Üben den Bei­geschmack von Drill und Dres­sur. Doch Übung kann auch Selbst­er­mäch­ti­gung sein. Wie­der­ho­lung schafft Gewohn­hei­ten. Tech­ni­ken wer­den ver­in­ner­licht. Sein Vor­schlag an die Stu­die­ren­den: So lange üben wie nötig – und dann das Geübte hin­ter sich lassen.

Auch das Schei­tern gehöre zum Schrei­ben. Jedes Schei­tern gebiert ein wei­te­res Schei­tern, ein Pro­zess, der offen und gesetz­los ver­läuft. Ein Schreib­pro­zess sei nie zu Ende, das müsse man ler­nen, am eige­nen Leib üben und erfah­ren, betont er und zitiert Samuel Beckett und Lau­ren Groff, Charles Pépin, Mar­cel Proust und Hans Magnus Enzens­ber­ger. Ein Schei­tern ein­zu­ge­ste­hen, ver­än­dert die Dyna­mik in einem Pro­duk­ti­ons­pro­zess, ver­zö­gert, ver­lang­samt und ver­langt ein Über­ar­bei­ten, wie­der und wie­der. Seine Auf­gabe als Leh­ren­der: nach der Kri­tik die Revi­sion ein­zu­for­dern und neue Mög­lich­kei­ten aufzuzeigen.

Über den schma­len Grat zwi­schen Auf­ge­ben und Wei­ter­ma­chen sprach Hamann nicht. Was zeich­net einen guten Autor aus? Dass er bereit und in der Lage ist, alles in Frage zu stel­len und neu zu betrach­ten. Dazu gehört die Bereit­wil­lig­keit, sich selbst zu redi­gie­ren, so Hamann. Das Kür­zen fällt gerade Schreib­an­fän­gern schwer. Auch das übt er mit sei­nen Studierenden.

»Wann kann man einen Text los­las­sen? Wann ist er fer­tig?«, so eine drin­gende Frage aus dem Publi­kum. Hamann emp­fahl den Blick von außen: »Zum Schrei­ben gehört das Gelesenwerden«.

Tja, die Lesekompetenz …

Doch wer frisst sich heute noch durch »ana­loge« Papier­schwar­ten? Bevor­zugt die im Medi­en­wech­sel sozia­li­sierte Genera­tion nicht die digi­ta­len Mini-Por­tio­nen der Social- Media-Kanäle? Cor­ne­lia Rose­b­rock ging auf die Bedin­gun­gen ein, in der die Freude an Lite­ra­tur ent­steht. Die Pro­fes­so­rin, die bis 2023 an der Johann Wolf­gang-Goe­the-Uni­ver­si­tät in Frank­furt a.M. neuere deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft mit den Schwer­punk­ten Lese­so­zia­li­sa­tion und Lite­ra­tur­di­dak­tik gelehrt hatte, sprach über »Lite­ra­ri­sche Sozia­li­sa­tion zwi­schen Tech­no­kra­tie und Social Media: das Unzeit­ge­mäße des Literaturunterrichts«.

Nach der Fami­lie, in der die »pri­märe lite­ra­ri­sche Initia­tion« erfolgt, sei die Schule die ent­schei­dende Instanz der lite­ra­ri­schen Sozia­li­sa­tion, betonte Rose­b­rock. Dort jedoch habe sich ein funk­tio­nal-tech­ni­scher Lese­be­griff eta­bliert; man will die Lese­ef­fekte mes­sen. Statt Lek­türe als Spiel von ratio­na­ler Lebens­be­wäl­ti­gung, Unter­hal­tung und Ganz­heits­er­fah­rung zu sehen, fokus­siert der Unter­richt auf die Lebens­be­wäl­ti­gung und auf eine Lese­kom­pe­tenz, die der Defi­ni­tion der OSZE ent­spricht: die Fähig­keit, »geschrie­bene Texte zu ver­ste­hen, zu nut­zen und über sie zu reflek­tie­ren, um eigene Ziele zu errei­chen, das eigene Wis­sen und Poten­zial wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und am gesell­schaft­li­chen Leben teilzunehmen«.

Dafür wer­den seit dem PISA-Schock Stra­te­gien ver­mit­telt wie Text­stel­len mar­kie­ren, wie­der­ho­len, ver­glei­chen, glie­dern, nach­schla­gen, zusam­men­fas­sen und von vorn­her­ein genug Zeit ein­pla­nen. Das Kon­zept ging auf – zumin­dest zum Teil. Seit 2018 sind die Kin­der, die unser Bil­dungs­sys­tem durch­lau­fen, Welt­spitze im Stra­te­gie­wis­sen. Und die Lese­kom­pe­tenz? »Gene­rell lässt sich (…) fest­hal­ten, dass die gro­ßen Hoff­nun­gen (…), die immer wie­der an die Stra­te­gie­in­struk­tion geknüpft wer­den, sich in der Rea­li­tät nicht erfül­len«, zitiert Rose­b­rock den Psy­cho­lo­gen Pro­fes­sor Wolf­gang Lenhard.

Doch wie wird aus einem Kind, das für Harry Pot­ter schwärmt, ein erwach­se­ner Leser? Nach dem Erwerb der Schrift­spra­che in der Schule folge eine Phase der »lust­vol­len Kin­der­lek­türe«. Wie die Raupe Nim­mer­satt arbei­tet es sich durch die Bücher­schränke der Eltern und Ver­wand­ten und der Schul- und Kin­der­bi­blio­the­ken. Aller­dings: Ein Drit­tel aller Kin­der komme nicht mehr in diese Viel­le­se­phase. Und in der Puber­tät springt ein wei­te­res Drit­tel der Viel­le­ser ab, so Rosebrock.

Wegen der moder­nen Medien? Seit 1998 habe sich der Anteil der Kin­der und Jugend­li­chen, die täg­lich oder mehr­mals pro Woche in gedruck­ten Büchern lesen, nicht signi­fi­kant geän­dert. Und auch heute wür­den lange Texte ten­den­zi­ell nicht am Bild­schirm rezi­piert, erläu­tert die Pro­fes­so­rin. Das »deep rea­ding« genannte Ein­tau­chen in den Text kommt am Bild­schirm nicht zustande. Und wann lernt eine Lese­rin diese Selbst­ver­sen­kung? In der Rau­pen­phase als Bücherfresser.

Wir brau­chen mehr Lite­ra­tur im Lite­ra­tur­un­ter­richt und in den Fächern, schloss Cor­ne­lia Rose­b­rock. Wir brau­chen gute Schul­bi­blio­the­ken. Und wir brau­chen einen Raum, in dem sich das Poten­zial von Lite­ra­tur ent­fal­ten kann – ohne dass stän­dig eine Mess­latte ange­legt wird.

Von Zwe­cken und von Nutzen

»Lite­ra­ri­sche Bil­dung dient kei­nem Zweck – oder: Wo die Reihe der Zwe­cke auf­hört, liegt das Glück«, hatte Pro­fes­sor Jan Phil­ipp Reem­tsma sei­nen Vor­trag genannt. Die Anwe­sen­den freu­ten sich auf den bekann­ten Kul­tur­theo­re­ti­ker und gro­ßen Den­ker, ein Gleich­ge­sinn­ter und Ver­bün­de­ter, der das gedruckte Wort hoch­hielt und inter­es­sante Anre­gun­gen und zum Den­ken pro­vo­zie­rende Hap­pen ser­vie­ren würde, glaubte man.

Ser­vie­ren? Nein. Pro­vo­zie­rend? In der Tat. Wie hoch Reem­tsma das gedruckte Wort hielt, zeigte sich im ers­ten Teil sei­nes Vor­tra­ges. Akri­bisch zer­pflückte er den Ein­la­dungs­text zum Fach­tag und ging hart mit den Orga­ni­sa­to­ren der Ver­an­stal­tung ins Gericht. Ety­mo­lo­gisch ist ein Zweck auch der Nagel im Zen­trum einer Ziel­scheibe – und Reem­tsma zielte gut. Die Zuhö­ren­den erstarr­ten. Ein in der Eile der Vor­be­rei­tun­gen rasch hin­ge­wor­fe­ner und flüch­tig gele­se­ner Fly­er­text – und man fühlte sich mit­er­tappt in Mei­nun­gen und Vor­ur­tei­len, die man aus den Tie­fen einer DDR-Bil­dung in blin­den Fle­cken mit sich her­um­ge­tra­gen und nicht nach­re­cher­chiert hatte.

Die Idee, dass das Lesen von Lite­ra­tur einen Zweck habe, sei eine sehr moderne und hilf­lose Idee, fuhr Reem­tsma mit sei­nem Thema fort. Lite­ra­tur (und Thea­ter) könn­ten keine poli­ti­sche Mei­nung ver­mit­teln und keine poli­ti­sche Hal­tung ver­än­dern, son­dern allen­falls bestä­ti­gen. »Wer ande­rer Mei­nung ist, ärgert sich und geht«, sagte er. Manch­mal aller­dings, räumte er ein, könne die rich­tige Geschichte zur rich­ti­gen Zeit »eine Latenz transferieren«.

Kunst und Lite­ra­tur soll­ten als soziale Tat­sa­chen ver­stan­den wer­den, nicht als Zweck­set­zun­gen und Nut­zen. Was zur Lehre taugt, ent­puppt sich als »unter­kom­plex« und lite­ra­risch min­der­wer­tig. Kom­ple­xi­tät bestimmt eine Lite­ra­tur, die unmög­lich auf Bot­schaf­ten zu redu­zie­ren sei.

Doch was genau ist ein Zweck: Der Nut­zen? Ein Ziel? Eine Absicht? Der Sinn von allem? Beginnt nicht jeder künst­le­ri­sche Pro­zess mit einer kon­kre­ten Inten­tion? Und wächst dar­aus nicht die Moti­va­tion, in einen lan­gen Pro­zess ein­zu­stei­gen, des­sen Aus­gang und finan­zi­el­ler Ertrag in den meis­ten Fäl­len unge­wiss bleibt? Oder liegt der Zweck, also der Nut­zen, im Auge des Betrach­ters und wird dem Kunst­werk von außen als Auf­gabe zuge­wie­sen? Kurz ver­wies Reem­tsma auf Imma­nuel Kant und meinte wohl des­sen Defi­ni­tion vom Zweck als objek­ti­vem Bestim­mungs­grund eines Objekts und zugleich dem Grund sei­ner Wirklichkeit.

Den anwe­sen­den Prak­ti­kern blieb bei der Unschärfe des Begriffs die eigene Deu­tung frei­ge­stellt. Die einen reagier­ten begeis­tert, vor allem, wenn sie im Lite­ra­tur­be­trieb mit einem stän­di­gen Nut­zen­kal­kül kon­fron­tiert wer­den. »Für mich war das die abso­lute Befrei­ung«, sagte eine Schrift­stel­le­rin in der Pause. »Lite­ra­tur hat kei­nen Zweck – aber jeder soll sein Ver­gnü­gen fin­den.« Andere fühl­ten sich vor den Kopf gesto­ßen. Woher in einer per­ma­nent pre­kä­ren Situa­tion die täg­li­che Kraft fürs Schrei­ben, die Begeis­te­rung fürs Unter­rich­ten neh­men, wenn ja alles doch kei­nen Sinn macht?

Denn, so Reem­tsma am Ende sei­nes Vor­trags: Lite­ra­ri­sche Bil­dung sei eine eli­täre Ange­le­gen­heit. Sie sich anzu­eig­nen, stelle ein Pri­vi­leg dar, das nur einer Min­der­heit zuteil­werde. Die­ses Pri­vi­leg sei nicht zu fei­ern, son­dern zur Kennt­nis zu neh­men. Reem­tsma sprach von »auf­ge­reg­ter Grup­pen­ein­heit«, die einen »Welt­zu­gang simu­liert« um das »Echo der gemein­sa­men Stim­men zu ver­stär­ken, damit sie sich gebor­gen fühlen.«

Die Zuhö­rer reagier­ten zunächst ver­hal­ten-freund­lich. Man bedankte sich für die Anre­gun­gen. Unbe­dingt werde man die Ring­pa­ra­bel in Les­sings »Nathan«, auf die Reem­tsma ein­ge­gan­gen war, noch ein­mal lesen. Nur lang­sam regte sich Wider­spruch, den Reem­tsma ele­gant parierte. Was wäre eine Welt ohne Kunst? »Ich fürchte, der Unter­schied wäre kaum zu mer­ken.« Wie ver­än­dern sich Ein­stel­lun­gen? »Irgend­wie.« Was gibt uns beruf­li­che Gewiss­hei­ten? »Es gibt keine Gewiss­heit. Ob Sie zuver­sicht­lich sind oder nicht, ist voll­kom­men belanglos.«

Ange­hende Deutsch­leh­rer wol­len wis­sen, warum sie unter­rich­ten, for­derte Iris Wink­ler schließ­lich. Wink­ler ist an der Uni­ver­si­tät Jena Pro­fes­so­rin für Fach­di­dak­tik Deutsch. Das »Warum« des Lite­ra­tur­un­ter­rich­tes in der Insti­tu­tion Schule sollte nicht darin bestehen, zu sagen, »das ist für etwas ande­res gut«, erwi­derte Reem­tsma. Schul­un­ter­richt schaffe keine lite­ra­ri­sche Bil­dung. Viel­mehr biete diese eine bestimmte kul­tu­relle Erschlie­ßung der Wirk­lich­keit. Lite­ra­tur öffne einen kul­tu­rel­len Raum, der es ermög­licht, unsere Welt zu verstehen.

In der Pause wur­den die Debat­ten fort­ge­führt: beim Essen, beim Fri­sche-Luft-Schnap­pen und beim Rau­chen, in den Flu­ren und auf der Toi­lette. Reem­tsma hatte pola­ri­siert und mit einem Knall Hoff­nun­gen und Zuver­sich­ten ent­zau­bert. Kein Gedanke daran, in Lar­moy­anz zu ver­sin­ken, in Kla­gen über die ach-so-lite­ra­tur­feind­li­che Zeit auszubrechen.

Reem­tsma hatte ans Licht geho­ben, was in der Bran­che längst ein alter Hut ist, doch im All­tag bei­sei­te­ge­scho­ben wer­den muss: dass momen­tan ein Medi­en­wech­sel unsere Welt tief­grei­fend ver­än­dert. Die Lite­ra­tur­leute kön­nen nur ver­su­chen, ihr Boot see­tüch­tig zu machen. Und sich gut fest­hal­ten, damit auf der ande­ren Seite der Nia­ga­ra­fälle viele unter­schied­li­che Stim­men ein Wis­sen über lite­ra­ri­sche Tra­di­tio­nen, über Chan­cen und Gren­zen des ana­lo­gen Buch­druck-Zeit­al­ters in die Zukunft tra­gen. Ist es denn ver­werf­lich, nicht sofort alles über Bord zu wer­fen? Wer gegen den Main­stream schwimmt, kann nicht gebrau­chen, dass man ihm die Nutz­lo­sig­keit sei­nes Tuns vor Augen hält.

Lite­ra­ri­sche Geselligkeit

Die Podi­ums­dis­kus­sion brachte einen neuen Ton. Neben der Mode­ra­to­rin Blanka Weber und Hamann, Rose­b­rock und Reem­tsma saß die Thea­ter­ma­che­rin Kara McK­ech­nie im Podium, die seit 2022 Dra­ma­tur­gin an der Oper Leip­zig und zudem Autorin und Über­set­ze­rin ist. Sie schil­derte, wie ein Stoff in die Oper kommt: Lang­sam, denn eine Insti­tu­tion bewegt sich schwer­fäl­lig wie ein Oze­an­damp­fer. Bis zu zwei­ein­halb Jahre dauere es, bis ein Stück in Pro­ben­nähe kommt. Zudem erstreckt sich die Aus­wahl zwi­schen dem über­schau­ba­ren Kanon der Opern, die gespielt wer­den, und dem Erwar­tungs­ho­ri­zont des Publi­kums. Die freie Szene kann schnel­ler reagie­ren – »das bedau­ern wir oft«, sagte McKechnie.

Das Thema Medi­en­wech­sel und Künst­li­che Intel­li­genz (KI) bestimmte schnell erneut die Debatte. »Kommt uns das ver­ste­hende Lesen abhan­den?«, fragte Blanka Weber. Eine Pro­gnose sei nicht abzu­ge­ben und die eigene Phan­ta­sie begrenzt, lau­te­ten die Antworten.

»Gewon­nen haben wir immer­hin, dass die junge Genera­tion über eine hohe Eng­lisch-Kom­pe­tenz ver­fügt«, warf Reem­tsma ein. Und dass mit Hilfe der KI sehr schnell und ohne Wör­ter­bü­cher über­setzt wer­den könne. Bei jeder neuen Tech­no­lo­gie reg­ten sich Wider­stände. Auch bei der Ein­füh­rung der Eisen­bahn habe man vor den kul­tu­rel­len und gesund­heit­li­chen Fol­gen für die Men­schen gewarnt.

Beim Bau der Eisen­bahn stell­ten sich die Res­sour­cen als Pro­blem her­aus – das ist heute nicht anders. Was nie­mand sagte: Die neuen Medien regiert, wer den Zugriff auf die sel­te­nen Erden hat, aus denen die Chips bestehen, auf die Infra­struk­tur und auf die Ener­gie, mit denen die Ser­ver betrie­ben wer­den. Damit bleibt auch die Nut­zung der digi­ta­len Medien das Pri­vi­leg einer Elite.

Und das Resü­mee des Tages? Jan Phil­ipp Reem­tsma über­legte. »Offen sein, die eigene Hal­tung zu über­prü­fen«, sagte er schließ­lich. »Und ernst neh­men, was man tut – sonst kann man’s gleich las­sen.« »Für die Gesell­schaft mag Lite­ra­tur nicht wich­tig sein. Für mich schon«, ergänzte Chris­tof Hamann. Cor­ne­lia Rose­b­rock wünschte sich mehr lite­ra­ri­sche Gesel­lig­keit. »Wir müs­sen neue For­men des lite­ra­ri­schen Bei­sam­men­seins ent­wi­ckeln« – der Fach­tag sei ein schö­ner Anlass. »Das Tun ist das, was uns am Leben hält«, been­dete Kara McK­ech­nie. Und gab damit den Zuhö­rern und Teil­neh­mern ein »Trotz­dem« auf den Weg – und Zuversicht.

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