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Kathrin Schmidt
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Mein liebster Platz in Thüringen ist der Waltershäuser Burgberg, gekrönt vom Schloss Tenneberg. Als Kind fand ich an seinen Hängen Ammoniten. Nicht solche der übergroßen Sorte, nur kleine, unscheinbare. Mit meinem Schulfreund Siegfried Wagner ging ich auf Trophäenjagd, die uns schließlich dazu brachte, regelrechte Ausgrabungen zu unternehmen, die allerdings dort, wo das möglich war, im über dem Muschelkalk aufgelagerten Erdreich, meist nur bunte Glasscherben oder verrostete Metallstücke hervorbrachten. Wir erdichteten den Funden gloriose Vergangenheiten, Siggi sprach sie gar den Germanen zu, die auf dem Burgberg einen Thingplatz unterhalten haben sollen. Das Netz gibt darüber heutzutage nichts her, aber ich erinnere mich, es gelesen zu haben als Kind. Ich sehe das Heftchen noch vor mir, es entstammte einer alten, in Sütterlin gedruckten Reihe von Heimatheften, die mein Vater besaß. Siegfried und ich waren ganz versunken in unser Tun und nicht von dieser Welt, wenn wir buddelten. In einem fingerlangen Porzellanpüppchen sah ich das Jesuskind und wähnte mich in Bethlehem. Ein rostiger Nagel stammte vom Jesuskreuz. Religion begeisterte mich, ich hatte eine gläubige Urgroßmutter, mit der ich ein Zimmer unserer zu kleinen Wohnung teilte. Ihr sonntäglicher Kirchgang führte sie hinter unser Haus, wo im Garten ein hölzerner Gemeindesaal mit Altarkreuz und Harmonium stand, Überbleibsel des früheren Mädchenpensionats, in dem wir nun lebten. Mein Vater hatte mir so etwas Rückschrittliches wie Christenlehre verboten. In Absprache zwischen Urgroßmutter und Pfarrer wurden in der wärmeren Jahreszeit während der Christenlehre- und Bibelstunden die Kirchenfenster geöffnet, die, uneinsehbar von unserer Wohnung, auf unsere Gemüsebeete zeigten. Dort hockte ich dann, zwischen Erdbeeren und Lauch, und hörte zu, war fasziniert von den Geschichten. Diese Gedankenflüge setzte ich auf dem Burgberg fort und entfernte mich so vom Alltag, der Schule, der Sportgemeinschaft, dem Klavierunterricht. Dieses Gefühl, abseits von aller Welt zu sein, ist es, das mich noch heute immer wieder überkommt, wenn ich den Aufstieg zum Schloss Tenneberg genommen habe. Entweder von der Stadt aus, vorbei an Kemenate und verfallendem Zeughaus, oder auf der anderen Seite des Bergsporns über die Kräuterwiese und den anschließenden Hangweg. Links vom Eingang des Schlosses steht noch heute eine Bank, von der aus man bei gutem Wetter ganz nah am Inselsberg ist, der höchsten Erhebung des Thüringer Waldes. Ein Blick, der sich mir eingebrannt hat und immer hervortraut, wenn ich auf die Flucht gehen möchte. Als sogar schon recht großes Kind kniff ich die Augen so lange zusammen, bis ich in den Türmen auf dem Inselsberg, dem alten Richtfunkturm von 1939, dem neueren Funkturm, übergeben 1957, und der alles überragenden Sendeantenne aus den frühen Siebzigern, drei Kreuze sah, an denen Jesus und seine beiden Leidensgefährten vor sich hin starben. Der Zustand, in den diese Phantasien mich hineinmanövrierten, hielt länger an als mein Verweilen auf dem Burgberg, so dass meine Eltern mehr als einmal sehr besorgt waren um einen Gemütszustand. Immerhin verriet ich ihnen ja nichts…
Heute kann ich kaum noch fliehen. Tägliche Nachrichten haben körperliche Erregungsmuster zur Folge, aus denen schlecht auszubrechen ist. Unmöglich, die Schwere der Ereignisse gegeneinander aufzurechnen. (Irgendetwas aber rechnet doch immer, heimlich, im Hintergrund, und kommt zu dubiosen Ergebnissen, die nicht auszusprechen sind.) Dass die Boko Haram in Nigeria 300 Mädchen als weibliches Frischfleisch entführt, steht neben dem Erdbeben von Kathmandu, still, starr, aushärtend mit den Tagen, Wochen und Monaten, die darüber und auch über mich hingehen, ich werde älter und älter, der Lebensweg von versteinerten Nachrichtenblöcken gesäumt, die den Blick nicht so einfach freigeben in die Landschaft. Was mir sehr nahegeht, sieht man mir an, denke ich und suche im Spiegel nach hautfarbenen Tattoos, die besonders hervortreten müssen, wenn mich die Sommersonne bräunt… Menschen vergangener Jahrhunderte wussten nicht, was auf der anderen Seite der Erde geschah. Womöglich war die Zahl ihrer Synapsenverbindungen im Hirn geringer, ich denke aber eher, dass sie genug zu tun hatten, sich in ihren kleineren Welten zurechtzufinden und Dinge zu lernen, die heute selbstverständlich sind, nicht mehr gebahnt werden müssen. Das ist der Fortschritt, aus dem ich manchmal einen Rückschritt wagen möchte…
Während meiner seltener gewordenen Besuche zu Hause (ja, ich sage immer noch „zu Hause“) steht stets ein Besuch von Schloss Tenneberg an. Ich setze mich vor dem Eingang an alter Stelle auf die erneuerte Bank, manchmal habe ich sogar das Laptop dabei, und schaue hinüber zum Thüringer Wald. Inzwischen habe ich andere Gebirge gesehen. Die Alpen, von unten und von oben, das bulgarische Balkangebirge, das Dinarische Gebirge in Kroatien, Karakorum, Himalaja und Tienschan, den Dsungarischen Alatau an der kasachisch-chinesischen Grenze, den Kaukasus, die Sierra Madre nahe dem mexikanischen Guadalajara, das Anaga- und das Teno-Gebirge mit dem verbindenden Pico del Teide auf Teneriffa oder den türkischen Taurus. Mit einem deutschen Mittelgebirge nicht zu vergleichen? Ich habe immer verglichen, und der Thüringer Wald schnitt nicht gerade schlecht ab. Den sanften, elegischen Schwung, über und über grün, fand ich nirgendwo wieder. (Ich weiß ja: Andere Gebirge, anderes Kaliber…) Gern hätte ich selbst einen sanften, elegischen Schwung, aber ich bin im Leben betriebsam und ausdauernd emsig. Hier muss ich das nicht sein. Seltsam, wie alles abfällt. Als gäbe es in diesen Breiten keine Hektik, schließe ich irgendwann die Augen, werde ganz leicht, erhebe mich schließlich und kreise in den Lüften über der Stadt höchstem Punkt. Als mein Vater vor einigen Jahren einmal sagte, er habe einen Rotfußfalken dort oben gesehen, konnte ich nicht anders, als leise „das war doch ich…“ zu unken. Er verstand es im ersten Anlauf nicht, was mir die Gelegenheit gab, es zu einem „das gibt´s doch nicht!“ abzuwandeln, aber ich wurde über und über rot dabei.
Als ich das letzte Mal kreiste, Ende März 2015, sah ich bis nach Eisenach hinüber. Die gute Nachricht: Ich kam schnell wieder zu mir. Die schlechte: Die Nachrichten standen auf einmal haushoch, ganz nah lagen Böhnhardt und Mundlos tot in ihrem Wohnmobil. Für länger kein Entkommen. Nirgends. Ich lebe damit. Dennoch: Dass ich überhaupt aufsteigen konnte, machte die Magie dieses Ortes.
Ich werde es wieder probieren.
Abb. 1: Ansichtskarte, um 1920 / Abb. 2: Ansichtskarte, um 1945.
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