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Ort
Thema
Kathrin Groß-Striffler
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Als würden die imaginierten festen Tücher, in die ich mich den ganzen Morgen über durch die Arbeitsdisziplin auf beruhigende Weise eingewickelt gefühlt habe, zur Mittagszeit plötzlich gelockert, und ein verwirrtes Menschlein käme darunter zum Vorschein: unbehaust, verletzlich, nackt, das einen großen Schritt hinaus in die Welt machen muss und will. Noch lausche ich dem letzten Satz nach, dem letzten Wort, ob es denn das richtige ist, ob es mir sicherstellt, dass ich am Nachmittag werde fortfahren können, oder ob ich, den Kopf auf die Hände gestützt, von meinem Schreibtisch stumm und bockig auf den Wald starren muss, der sich hinter meinem Haus zum Fuchsturm hochzieht und den ich jetzt, die beiden Nachbarshunde neben mir, zu durchwandern beginne, fast jeden Tag wieder aufs Neue. Seit zehn Jahren lebe ich hier, ich stelle mir vor, wie meine Schritte schon einen eigenen schmalen Pfad in die Mitte jenes breiten Wegs getreten haben, den es seit langem gibt, den vielleicht die erste Fuchsturmgesellschaft im Jahr 1861 hat anlegen lassen, wer weiß, einen Wanderweg zum Bergfried hinauf, wo seit 1868 eine Gaststätte steht, in die ich nicht einkehren werde, für mich ist der Weg das Ziel, denn mit jedem Schritt lasse ich ein Stückchen mehr los, mit jedem Atemzug hebt sich mein Brustkorb heftiger, da es steil bergauf geht, spüre ich meinen Körper wieder, beginne ich zu hören, zu riechen, zu sehen, erleichtert, dass ich noch BIN jenseits der geistigen Arbeit. Nein, Weggefährten will ich keine, schon das ein oder andere Mal hat sich mir jemand anschließen wollen, du musst doch ausgehungert sein nach menschlichem Kontakt, doch so ist es nicht, mir reicht es erst einmal, von ferne einen anderen Wanderer zu sehen, bin ich doch den ganzen Vormittag meinen Figuren nahe gewesen, das ist genug. Die Hunde allerdings: die sind mir willkommene Begleiter, der große, schwarze und der kleine, weiße, wie der Boden zu vibrieren beginnt, wenn sie hechelnd an mir vorbeirennen! Es ist, als höre man ganz leise den Herzschlag der Erde, ein feines Pochen aus dem Innern im Rhythmus ihrer trappelnden Pfoten. Spechte bearbeiten morsche Bäume mit ihren spitzen langen Schnäbeln, so schnell, so hart, dass man sich fragen muss, wie der kleine Schädel das aushält; kommen wir ihnen zu nahe, fliegen sie mit gellendem Lachen davon. Ich kenne die Stelle, wo im Frühling der erste Seidelbast blüht, lila vor dem Dunkelgrün der ihn umgebenden Eiben, ich weiß, wo manchmal Steine den steilen Abhang herunterkommen und ich mich vorsehen muss. Es hat etwas Religiöses, das sich Auflösen im Hier und Jetzt, es ist die andere Seite der Medaille: früh das Leben in einer fiktiven Welt mit dem dazugehörenden Größenwahn, mittags die Demut, nur ein winziger Teil des großen Ganzen zu sein, ein Tag ist unvollständig, wenn nicht beides zu Wort kommt. Es ist still auf dem Weg hinauf, die Stadt ist nahe, und das ist gut so, aber man hört sie nicht. Ich besitze kein Handy. Ich höre, wie der große schwarze Hund Gras frisst, den Halm ruckend abrupft und darauf herumkaut, wie er schluckt. Ich lehne mich an einen Baumstamm. Ich habe keine Ahnung mehr, worüber ich noch vor einer Stunde nachgedacht, was ich geschrieben habe, auf leisen Sohlen hat es sich davongemacht und mich zurückgelassen wie ein leeres Gefäß, so leer, dass ich es schon fast wieder mit der Angst zu tun bekomme: was, wenn es NIE MEHR voll wird? Wenn ich die Sprache verliere? Und mit der Sprache mein Ich?
Den Bergfried und insbesondere die Weihestätte lasse ich links liegen, ich werde mich nicht einreihen in die Menge derjenigen, die den letzten Rest der alten Burg besingen, Burgen dienen der Verteidigung, Burgen setzen einen Feind voraus, einen bösen Fremden, dabei ist doch das Gegenteil Grund meines Schreibens: sich in andere einfühlen, auch das Abwegigste begreifen, verstehen – wo bleibt da der Feind? Dicht unterhalb des Turms der Blick in die Weite: die Hügelwellen des Thüringer Waldes, die Stadt dort unten, die mir Heimat geworden ist, die jagenden Wolken darüber oder tiefhängendes Grau oder lichtes Blau oder, an manchen Herbsttagen, Nebel, der das Dorf Ziegenhain verhüllt, aus dem dann manchmal geisterhaft und traurig der Ruf eines Esels aufsteigt. Hier dringen auch die Geräusche der Stadt zu mir herauf, Verkehrslärm, eine Säge, ein Martinshorn, ein undefinierbares Rauschen und Raunen. Ich bin ein unbeschriebenes Blatt, ganz leicht, könnte davonfliegen mit dem Wind, könnte irgendwo zu Boden kreiseln, an einem ganz anderen Ort – aber halt: hier ist mir doch wohl, hier mag ich doch sein! Hier wanderten Goethe und Knebel, sicher sahen auch sie auf die damals noch kleine Stadt hinunter im Jahr 1793, keine Industrie gab es, aber viele Studenten, Geistesgrößen, Literaten … Im Sommer knacken die Kiefern in der Sonne, wenn es heiß ist, man wähnt sich fast schon in mediterranen Gefilden. Seltsam, dass hier oben mein Geist in die Ferne schweifen will, wo das Gute doch so nahe liegt, Jena, der Endpunkt meiner langen Reise. Glaube ich. Aber man weiß ja nie. Ich spüre eine Hundeschnauze unter meiner Hand. Weiter! Käme mir jetzt ein Wanderer entgegen, ich plauderte gerne mit ihm, vielleicht würden wir den häufig gestellten Fragen, warum der Fuchsturm Fuchsturm heißt, noch eine eigene Antwort hinzufügen … Füchse habe ich in den zehn Jahren nie gesehen. Junge Studenten hingegen viele. Wie dem auch sei. Vielleicht würde er mir aus seinem Leben erzählen, aus der DDR, wie es war damals, ich würde im Kopf Notizen machen, nicht nur über das Gesagte, auch über jene Geste, mit der er sich am großen Ohrläppchen zupft, wie er die Hand in der Hosentasche behält, wie er mit der anderen weit ausholend hinüber zeigt auf das Schottwerk, wie er spricht, mit jenem mir inzwischen vertrauten Dialekt, der mir wesentlich lieber ist als der fränkische, mit dem ich aufgewachsen bin. Ein gutes Zeichen.
Und dann der Abstieg. Jetzt nehme ich den bewaldeten Hang in seiner Gänze wahr, was mir nicht möglich ist beim beschwerlichen Aufstieg, die dicht gereihten mächtigen Buchen mit der glatten hellen Rinde, deren Blätter im Frühling lindgrün sind und eine Weile noch, bis in den Mai hinein, einzeln erkennbar; die wenigen Fichten dazwischen, das Fahlweiß der Birken. Ich atme den ätzenden Geruch der Sickergrube, die gelegentlich überläuft, ein stinkendes Bächlein rinnt dann den Hang hinab. Kaum vorstellbar, dass sich hier früher das Meer in seinem Bett wälzte, der helle Muschelkalk kündet davon. Ich begegne einem alten Mann mit seinem Hund, er will mir die Schlehenwiese zeigen, wo er vor vierzig Jahren mit den Skiern ins Tal gebrettert ist. Wir klettern über ein paar Wurzeln. Eine Waldwiese, still, leicht abschüssig, öffnet sich wie eine Schneise, darunter die ersten Datschen, und drüben der Gipfel des Bergs, den Schiller besang. Andächtig stehen wir und schauen. Der Alte lächelt. Orchideen gibt es hier, sagt er. Und jetzt fällt mir der Satz ein, mit dem ich weitermachen werde, der sich an das fügt, was ich am Morgen geschrieben habe, als hätte es diesen Spaziergang gebraucht, den Hausberg hinauf, den Hausberg hinunter, der jeden Tag ein anderer ist, je nach Jahreszeit, Wetter, und Licht. Ich merke gar nicht, dass der Alte weitergelaufen ist. Ich habe diese Wiese noch nie gesehen, dabei liegt sie nur einen Steinwurf neben dem Hauptweg, sie wird über kurz oder lang eine Rolle in einer Geschichte spielen, genauso wie der Alte und sein Hund. Und am Abend, wenn ich nach getaner Arbeit auf der Terrasse sitze und zum Fuchsturm hoch schaue, werde ich an den bösen Riesen denken und seinen aus dem steinernen Grab emporgewachsenen kleinen Finger, den er über die Stadt streckt. Damit ihn nur keiner übersieht. Damit man aufmerkt. Nichts für selbstverständlich nimmt.
Morgen erstürme ich wieder den Gipfel – so viel ist sicher.
Abb. 1, 2: Fotos: Jens Kirsten.
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