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Thema
Ulf Annel
Dichters Wort an Dichters Ort / Thüringer Literaturrat e.V.
Mein liebster Thüringer Ort ist der Balkon im ersten Stock der Strandstraße 54 in Graal-Müritz. Wie, das liegt direkt an der Ostsee, und die Ostseewellen lecken nie nicht und nimmer an den Ufern des Bundeslandes Thüringen? Wo ist das Problem? Heimat – vor allem die dichterische – ist da, wo man gerade ist, und sich wohlfühlt. Denn etwas Literarisches zu erschaffen, hat bei mir immer auch mit Wohlfühlen zu tun. Selbst wenn ich böseste Texte schreibe, harte Satire, freches Kabarett – ich selbst, ich, der Autor, muss mich wohl fühlen. Mit Rotznase oder mit kalten Füßen oder mit Trauer im Herzen oder Hunger im Bauch ist die Buchstaben-Produktion gestört und stockt.
Aber da oben auf dem Balkon im ersten Stock der Strandstraße 54 in Graal-Müritz, da kommt fast immer Freude auf. Einen ganzen Sommer lang galt die Freude dem Thüringer und sonstigen Wald. Ich bitte um etwas Geduld bis zur Erklärung.
Zunächst etwas zur Freude. Diese beginnt schon, wenn ich vor meinem Tiefthaler Zuhause, das elf Monate des Jahres mein Schreibort ist, in mein kleines Rotes steige und weiß: Es geht nach Norden. Anderes Licht, andere Luft, andere Leute. Das Wort Vorfreude fühlt sich bei mir vor Graal-Müritz oft viel vorfreudiger an als vor Weihnachten.
Und wenn das rote Auto auf dem Parkplatz neben dem Rhododendronbusch unter den Eichen, die hier die Strandstraße säumen, steht, wenn das Gepäck in den ersten Stock getragen ist und beim ersten Spaziergang beruhigt festgestellt werden konnte, dass die Ostsee noch da ist, dann ist meist auch Zeit für eine erste Tasse Rosengarten-Schwarztee auf dem Balkon in der Strandstraße 54.
Dort auf dem Balkon habe ich das Dichten wiederentdeckt. Meine schriftstellerische Laufbahn begann ich mit Gedichten, die vom Lyrikpapst der DDR-Poetenbewegung als zu sehr »U« eingestuft wurden. Für »E‑Kunst« sei ich nicht geeignet. Nicht nur deswegen geriet ich literarisch auf die schiefe Bahn, dorthin, wo man das Leben schief beguckt, um den Versuch zu machen, es gerade zu rücken – ins Kabarett. Aber auf dieser Bahn entstanden nur noch sehr selten Gedichte, wenn dann gedichtete Strophen zum Zwecke der Vertonung als Lied, Song, Chanson.
Wenn ich mich im Laufe der elf Monate, die ich zumeist in Thüringen bin, meinen liebsten Thüringer Ort benennen müsste, ich käme in Verlegenheit. Mir kommen überall Ideen für Kabaretttexte: am Küchentisch, im Auto beim Radiohören, auf kurzen Spaziergängen. Kurze sind ausreichend – ich habe kein Wanderbedürfnis, ich bin noch nie gerne auf Berge gestiegen, ich muss nicht in den Wald gehen, eher muss ich ins Wasser. Im Wasser fällt mir aber gar nichts ein. Ich schwimme. Ich ziehe Bahnen. Ich zähle oft die Schwimmzüge pro Bahn. Das ist eine einsame Angelegenheit. Es kommt kein Gespräch zustande dort im Wasser. Gespräche jedoch inspirieren mich oft zum Schreiben, Gespräche mit lebendigen Menschen oder Gespräche mit Produkten von Menschen. Die Zeitung redet mit mir, und ich kriege Ideen für satirisches Texten.
Aber ich schreibe, wo ich bin. Wie gesagt: Wenn ich mich wohlfühle. Manchmal schreibe ich im Kopf und hoffe, dass es mir nicht entfällt. Aber da ich eigentlich immer ein, zwei Kulis einstecken habe, muss ich nur Papier suchen. Und schon schreibe ich.
In den elf Monaten in Thüringen gibt es angenehme Routinen und viel Abwechslung. Ich brauche Abwechslung. Ich mag es nicht, ein und dieselbe Sache tage- oder wochenlang zu betreiben. Und darum ist diese alljährliche Reise an die Ostsee gleichzeitig eine der angenehmen Routinen und die gewünschte Abwechslung.
Mein liebster Thüringer Ort ist also vier Wochen im Jahr der Balkon im ersten Stock dort in der Graal-Müritzer Strandstraße. Da habe ich Abstand zur Heimat. Das ist gut. Der Blick weitet sich. Das Hirn macht manchmal mit. Dort muss ich nichts, denn es ist Urlaubszeit. Ich darf. Wobei ich anmerken muss, dass mein Leben Urlaub ist. Nicht im Sinne von Dauerfaulenzen und Am-Strand-Rumliegen, sondern im Sinne meines derzeitigen Lebensmottos, das ich bei einem chinesischen Philosophen fand: Suche dir einen Beruf, den du liebst, und du musst dein Leben lang nicht arbeiten.
Ein wunderbarer Zustand, meistens so leben zu können. Ich gehe eigentlich nie zur Arbeit, ich gehe zum Vergnügen. Mir ist auch der Wochentag egal, wann ich diesem Vergnügen nachgehen darf. Eigentlich habe ich immer Wochenende. Dann ist vielleicht erklärlich, warum ich an der Ostsee abends ab und an eine Kabarettvorstellung spiele. Es macht ja Spaß und Geld gibt es auch noch dafür. Für Abwechslung ist gesorgt zwischen Auftrittsorten, Strand und Balkon.
Auf dem Balkon dichte ich. Dort bin ich Dichter, dort darf ich’s sein. Das Leben verschnauft und erlaubt das Dichten. Dort entstand zum Beispiel Folgendes:
Alte Männer ähneln Bäumen,
weil ja Blätter so wie Haare
ihren Platz da oben räumen.
Aber ähnlich nur, nicht gleich. Bewahre!
Weil im Frühjahr – auch mit Gießen –
keine neuen Haare sprießen.
So etwas fällt mir ein, wenn ich ernsthaft über einen Auftrag nachdenke. In einem Jahr hieß der (Eigen-)Auftrag, Gedichte über den Wald zu schreiben. Wald ist wichtig für Kinder, immer öfter gehen die Kinder immer weniger in den Wald. Der Thüringer Wald stand vor meinem geistigen Auge. Die rothaarige Bibliothekarin der Bäderbibliothek in der Fritz-Reuter-Straße hatte mich mit populärwissenschaftlichen Büchern eingedeckt. Diese und etwas wikipedia verhalfen einem unwissenden Stadtkind wie mir zu einer Menge überraschenden Wald-Wissens, über den Wald an sich und besonders den Thüringer. Die Thüringer Informationen flossen später in meine „Gebrauchsanweisung für Thüringen“ (unter anderem die, dass der Thüringer Wald eine Telefonnummer hat), aber ansonsten floss es nur so aus dem Stift.
Waldpflanzentiermenschen
Adlerfarn, Bärlauch, Scharbockskraut.
Tierisches auch aus dem Lerchensporn schaut.
Der Waldmeister risse sich gerne los
und striche übers Frauenhaarmoos.
Die hohen Eichen vor dem Balkon nickten zustimmend. Ein geradezu majestätisches Nicken.
Bäume sind Könige.
Jeder trägt eine Krone.
Jeden Mittwoch um 10 Uhr treffen sich sommers im Graal-Müritzer Rhododendron-Park die Lyrikfreundinnen und nicht wenige ‑freunde. Bis die große Überschwemmung einige Bäume aus dem Untergrund weichte, traf man sich an der Lyrik-Buche. Die musste aus Sicherheitsgründen auch weichen. Aber getroffen wird sich trotzdem. Man lauscht Gedichten vielerlei Art, von gerade so Artgerechtem bis Artifiziellem. Das erdet literarisch, weil alles im Alltag der Vorlesenden wurzelt: Liebe zu Texten berühmter Dichter bis hin zum Selbstgemachten. Überraschungen und Entdeckungen inbegriffen. Und wenn etwas von Theodor Storm vorgelesen wird oder von Reiner Kunze, von Hanns Cibulka oder anderen Thüringer Autoren, dann trage ich immer etwas Thüringisches Wissen bei oder ziehe Gedichte aus der »Thüringer Anthologie« hervor. Oft lese ich auch Eigenes. Den folgenden Zweizeiler habe ich noch nicht vorgelesen. Alles hat seine Zeit. Und seinen Ort.
Der Tod kann sehr poetisch sein,
ereilt einen Freund Hein im Hain.
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