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Andreas Seifert
Thüringer Literaturrat e.V.
Ebenfalls ortsbildprägend ist eine steil aufsteigende Muschelkalkhöhe im Norden Vachdorfs mit Aussichtspunkt: der Krayen. Dorthin gelangt man in etwa 15 Minuten nach Querung von Werrabrücke und Bahndamm, indem man der Straße Richtung Marisfeld bis etwa auf Plateauhöhe folgt, dann links abbiegt. Der Steilhang zwischen Aussichtspunkt und Bahnhof war für Walter Werner als Kind und Jugendlichen ein beliebter Aufenthaltsort.
Ich befand mich wie so oft an trockenen, warmen Tagen in der Steilwand unseres Bahnhofs, dem ich auf den Bahnsteig und auf das Dach schaute, vorsichtig in meinen Bewegungen, damit sich keine Steine lösten und ihm auf die Ziegel sprangen. Von meinem Hochsitz aus machte ich ungewöhnliche Orts- und Flurbegehungen. Nur die Augen arbeiteten, während die Füße ruhten. Heimatkunde im Rundblick. Mit meinem Rücken lehnte ich am moosfeuchten Grat des Thüringer Waldes, und mein ausgestreckter Arm streifte den blauen Schleier der basaltenen Rhönberge. Von dort oben wagte ich den Einstieg in die Dachböden der unter mir liegenden Häuser, um sie nach musealen Gesichtspunkten, dem Fundus alter Schriften, Stiche und Gefäße und Werkzeuge zu entrümpeln. Höhe verhalf zur Übersicht, vergrößerte und weitete den Horizont, auch die persönlichen Freiheiten nahmen zu. Die Landschaft hatte Perspektive, nur die Menschen darin wurden mitunter zu Gefangenen, unter meinem Hochsitz wirkten sie wie Spielzeuge, wie Marionetten, die von Schnürchen aus einem Hof in den anderen und über die Straße gezogen wurden. Sie hatten Mausgesichter, wenn sie um den Gasthof bogen, und hatten nur die Möglichkeit, zwischen zwei weiteren Höfen, dem Bahnhof und dem Friedhof, ihren Spielraum zu durchmessen. (…)
Ich beobachtete, wie in der Ferne der Mittagszug auf die Station zurollte und nach mehreren wolkigen Dampfstößen am Bahnhof hielt. (…) An jenem Tag sprang ein Mann in Wehrmachtsuniform aus dem Zug, knöchelhohe Schuhe an den Füßen, kurze Stoffgamaschen darüber. Er und der Zugführer, ein Schaffner und unser Stationsvorsteher zerrten einen leblosen Körper in olivfarbiger Uniform, dem das Schuhwerk ausgezogen und das Gesicht mit Fußlappen zugedeckt war, aus einem Sonderabteil. Sie hatten es eilig und legten den Leblosen zwischen Gasleuchten, Ölkannen und Signallampen im Nebengebäude des Bahnhofs nieder. Und bevor noch der verstörte Bahnhofsvorsteher ins gegenüberliegende Grundstück eines Kraftwagenbesitzers lief, um sich eine Zeltbahn auszuborgen und über den Toten zu werfen, wurde schon im Dorfe nach dem Polizeidiener gerufen und erzählt, ein französischer Kriegsgefangener habe auf dem Weg zur Überführung in die Irrenanstalt den ihn begleitenden Posten angefallen, worauf ihn der Soldat aus Notwehr mit dem Gewehrkolben erschlagen hätte. Der Tod trug nun Uniform.
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