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Anke Engelmann
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Jenseits der Zwischentöne
Jakob Gatz: In der Politik mit Asperger-Syndrom
Von Anke Engelmann
Im Gespräch schaut Jakob Gatz seinem Gegenüber nicht in die Augen, sondern blickt nach oben. Er kennt sich aus mit Geologie, mit Solarenergie, mit Umweltfragen, und verliert sich manchmal in Details. Jakob Gatz, geboren 2002 in einer Kleinstadt in Thüringen, Wirtschaftsfachwirt in Ausbildung, Mitglied der Grünen Jugend (GJ) und der Grünen Partei, lebt mit dem Asperger-Syndrom.
Menschen mit dieser leichten Form des Autismus wirken auf andere oft sonderbar. Auch wenn das Syndrom unterschiedlich ausgeprägt sein kann: Meist bereiten ihnen ungewohnte Situationen, große Menschengruppen und starke Sinneseindrücke Stress. Sie häufen umfangreiches Wissen zu Spezialthemen an. Ihnen fehlt das Gespür für Zwischentöne, zum Beispiel erkennen sie nicht, wenn ihr Gesprächspartner nicht mehr zuhört. Bestenfalls gelten sie als stur wie die Klimaaktivistin Greta Thunberg, schlimmstenfalls als kalt und unsozial wie der Tech-Milliardär Elon Musk. Er habe eine andere Form als Greta Thunberg, betont Gatz.
Im Gespräch mit Gatz fallen Begriffe und Themen auf, die Gatz wichtig sind. Vielleicht, weil sie Punkte markieren, die mit starken Emotionen in seiner Biografie verhaftet sind. »Verunglimpfen« ist so ein Wort, »elitär« ein anderes.
»Elitär« und »verunglimpfen«
Gern hätte Gatz nach der Realschule einen Beruf gelernt, doch er machte das Abitur und begann ein Studium, weil einige Familienmitglieder ihn mit ihrem »elitären Gehabe« unter Druck setzten. Bis heute bedauert Gatz, dass er so spät ins Berufsleben einsteigen konnte. Bis heute fühlt er sich Menschen verbunden, die keinen akademischen Hintergrund haben.
»Verunglimpfen«, kombiniert mit Wörtern wie »Feindbild«, »pauschal«, »Ausgrenzung« verweist auf eigene, schmerzhafte Erfahrungen. Als Gatz in der fünften Klasse von der Grundschule in die Regelschule wechselte, wurde er gemobbt, verspottet, verprügelt und ausgegrenzt. Ein Trauma, das bis heute brennt.
Die Verhältnisse waren nicht einfach: Ein Vater, den Gatz als »Lebemann« bezeichnet und der, nach der Trennung von Jakobs Mutter, am Alkohol starb. Ein Stiefvater, der oft das große Wort führte und alles ganz genau wusste. Eine Verwandtschaft, die ihn gegen Mutter und Großmutter aufbringen wollte. Die Mutter betreibt ein Autohaus, bei ihr und der Großmutter fand er Stabilität und Bestätigung. Manchmal zu viel, räumt er ein. »Weil meine Mutter und meine Großmutter mich immer sehr gelobt haben, habe ich mich lange für besonders schlau gehalten.«
Hintergrund und politischer Einfluss
In die Kindheit und Pubertät des heute 23-Jährigen fielen die ersten innenpolitischen Verwerfungen, die bis heute die Gesellschaft spalten: ab 2010 das erste Buch von Thilo Sarrazin und die Debatten darum, 2013 die Gründung der AfD, 2014 von PEGIDA, 2015/16 die sogenannte Flüchtlingskrise. Gatz’ Stiefvater hatte eine klare Haltung: Sarrazin sagt etwas Unliebsames – prompt wird er aus der SPD rausgeekelt. Begriffe wie »Lügenpresse«, »Kanaken«, »Hottentotten« wurden unkritisch benutzt. Das prägte den Jungen.
Als Jugendlicher habe auch er mit der AfD sympathisiert, gesteht Jakob Gatz. Er orientierte sich am Stiefvater, fand das Rebellische und den Widerstand cool. Für ihn schwamm diese Partei gegen den Strom, »eine Art Stinkefinger in Richtung etablierter Politik und Presse.« Dass schon die junge AfD deutlich rechts war, tat Gatz damit ab, dass sie sich erst noch sortieren müsse. Er glaubte der Propaganda, dass die AfD ausgegrenzt und stigmatisiert werde.
Mit den rechtsextremen Ausschreitungen 2018 in Chemnitz änderte sich das. Zwei Geflüchtete hatten bei einem Stadtfest den Chemnitzer Daniel S. mit einem Messer getötet sowie zwei Menschen schwer verletzt. Das löste eine Welle rechter Gewalt aus. Aggressive Neonazis machten Jagd auf Personen mit anderer Hautfarbe, griffen linke Gegendemonstranten an, Journalisten, Polizisten sowie ein jüdisches Restaurant.
Auch die AfD veranstaltete mit PEGIDA, »Pro Chemnitz« und anderen Rechten einen sogenannten Trauermarsch. Aus der Demo heraus attackierten Neonazis Gegendemonstranten und verletzten elf Personen. »Das war für mich der entscheidende Wendepunkt.« Dass die Rechten den Mord an Daniel S. für ihre Zwecke instrumentalisierten, habe ihn entsetzt, sagt Jakob. Dass sie pauschal alle Geflüchteten unter Generalverdacht stellten, »schockierte mich und widerte mich an«. Vor allem habe ihn verstört, dass große Teile der bürgerlichen Mitte die Gewalt begrüßten. Heute schäme er sich für seine damalige Offenheit der AfD gegenüber. Andererseits: Er weiß, wie Leute »emotional ticken«, die mit der AfD sympathisieren. Aus seiner Erfahrung heraus setzt er sich dafür ein, die ernst zu nehmen, die eine andere Meinung vertreten. »Wir dürfen nicht belehren und bevormunden. Das treibt die Menschen erst recht zur AfD.
Klimakatastrophe
Jakob Gatz gehört zu der Generation, die mit voller Wucht die Folgen der Klimakatastrophe zu spüren bekommen. Für seine Altersgruppe ist klar, dass nicht doch noch alles irgendwie gut wird. Durch seine intensive Beschäftigung mit Geologie waren Gatz die Gefahren des Klimawandels schon früh bewusst. Er zögerte, sich zu engagieren – aus Rücksicht auf die Familie, denn die Verbrenner im Autohaus seiner Mutter, deren Verkauf ihm eine durchaus privilegierte Kindheit verschafft hatte, gelten als Klimakiller Nummer eins. Bis heute ein großer Konflikt für ihn.
2018 häuften sich die Ereignisse: Eine außergewöhnliche Dürre begann, hielt drei Jahre an und schadete Wäldern, Flüssen und dem Boden in einem nie gekannten Ausmaß. Der Energiekonzern RWE wollte den Hambacher Forst abholzen, dieser wurde von Aktivisten besetzt. Die Bewegung »Fridays For Future« (FFF) entstand und wuchs. Im Januar 2019 fiel Jakob Greta Thunberg beim Weltwirtschaftsforum auf. Ob ihn faszinierte, dass auch sie Asperger hat? Er sei tief beeindruckt gewesen von ihrem Mut, sich den Mächtigen in den Weg zu stellen, sagt er.
Außerdem habe ihn die »Schulschwänzer-Keule« aufgebracht, mit der die Öffentlichkeit überwiegend auf FFF reagiert habe. Man habe sich nicht inhaltlich mit der Bewegung auseinandergesetzt, sondern sie diffamiert. Und dass ausgerecht die AfD, die sich immer als Partei darstellte, die von allen »in die rechte Ecke geschoben wird«, am lautesten in dieses Horn stieß, habe ihn endgültig abgestoßen.
Verantwortung
2019 sprach Jakob Gatz bei einer FFF-Demo in Gotha die Organisatoren an. Was sich so einfach anhört, ist für einen mit Asperger-Syndrom ein riesiger Schritt. Von da an ist er dabei. Die ersten Orga-Treffen seien eine große Hürde gewesen, Gruppen von unbekannten Menschen jagen ihm Angst ein. Doch er überwand sie: fuhr zum FFF-Sommerkongress – »ein Wahnsinnserlebnis!« –, übernahm Verantwortung in der Ortsgruppe, organisierte Demos und hielt zwei Monate später seine erste Rede bei einem Klimastreik in seiner Heimatstadt. Jakob gehörte nun zu einer schlagkräftigen Bewegung, war von Gleichaltrigen umgeben, die dasselbe Ziel hatten wie er. Er wurde Delegierter für die Landesebene von FFF und erlebte, was auch Greta Thunberg beschrieben hat: »Viele in der Klimabewegung sind auf gute Weise sehr speziell, ganz anders als die Norm. Es ist wunderbar, dass wir diesen Raum gefunden haben, wo wir wir selbst sein können.«
2020 wurde Jakob Gatz volljährig und trat, kurz bevor Corona das öffentliche Leben lahmlegte, in die Grüne Partei und die Grüne Jugend ein. Immer besser lernte er, mit den Ängsten umzugehen, die vom Asperger-Syndrom herrühren. Vor der Landtagswahl 2024 beteiligte er sich sogar am Haustürwahlkampf – »eine krasse Herausforderung und Überwindung. Du weißt nicht, wie die Leute drauf sind, auf die du triffst.« Er will etwas verändern, zählt sich zu den Realos, setzt auf Deeskalation, nicht auf Spaltung.
Immer noch unbequem
Inzwischen haben ihn die Mechanismen der Parteipolitik eingeholt. Immer wieder stößt er an, weil er darauf beharrt, niemanden auszugrenzen – auch wenn eine politische Meinung nicht gefällt. »Man darf nicht alle AfD-Wähler pauschal als rechts abstempeln«, fordert er. Ihm geht es um die Sache und darum, die Grüne Partei für eine breite Basis zu öffnen. Das hat ihm einigen Zuspruch, aber auch einen schlechten Ruf und mehrere Shitstorms eingetragen.
Zumal es ihm schwerfällt, seine Sprache anzupassen. Vor allem in der GJ, wo identitätspolitische Themen eine große Rolle spielen – und wo einige, die laut sind und Einfluss haben, Feindbilder aufbauen. Wo die Sprache als Spiegel gilt – aber nur unklare Vorstellungen darüber existieren, was sie wirklich zeigt. Wahrscheinlich würde Jakob Gatz ohne seine Asperger-Prägung weniger auffallen. Dann fiele es ihm leichter, sich auf die Erwartungen seiner Gesprächspartner einzustellen. Doch für Lippenbekenntnisse fehlt ihm die Geschmeidigkeit.
Begriffe, die im Unterbewussten schlummern, weil Bezugspersonen in der Kindheit sie scheinbar normal benutzten, werden nicht automatisch gelöscht, wenn sich der Mensch verändert. Sie müssen jeder einzeln ins Bewusstsein gelangen, bewertet und aussortiert werden. Das ist ein langer Prozess.
Nicht alles muss man teilen, manches bleibt kritisch. Zum Beispiel Jakobs Sympathie für den ehemaligen Tübinger Bürgermeister Boris Palmer, einen früheren Grünen. Palmer geriet wegen seiner Äußerungen und seiner Haltung zur Migration in die Kritik. Für viele ist Palmer ein Zündler, der provoziert und mit rassistischen Klischees kokettiert. Für Jakob Gatz spricht Palmer mit seiner Sprache Menschen jenseits der inneren Zirkel an. Ein bisschen Bewunderung schwingt mit, wenn er über Palmer spricht, auch wenn er, anders als Palmer, »das N‑Wort nicht benutzen würde«.
Die »woke« Sprache, von akademisch-abgehobenen Eliten ausgedacht, habe nichts mit dem echten Leben zu tun: Dass diese Kritik von rechts in Teilen nicht unberechtigt ist, macht es um so schwerer. Woran kann man sich orientieren? Was ist richtig in dieser Debatte? Und was ist, wenn die richtigen Einwände von der falschen Seite kommen?
Jakob stören Schubladen, Sprachvorgaben und Feindbilder – auch die, hinter denen eine gute Absicht steht. Empathie ist ihm wichtig, gerade weil es ihm wegen des Asperger-Syndroms schwerfällt, sich in andere hineinzuversetzen. Er ist genau, dabei ehrlich bis zur Schmerzgrenze. Taktieren liegt ihm fern. Warum verschweigen, dass die Umweltpolitik der letzten rot-grünen Bundesregierung viele aufgebracht hat? Oder dass Menschen, die Angst vor einem sozialen Abstieg haben, sich von den vermeintlichen Privilegien derer bedroht fühlen, die in der Hackordnung weit unter ihnen stehen?
Eine Brandmauer soll die Ausbreitung eines Flächenbrandes verhindern. Doch längst schwelen Glutnester diesseits der Mauer, bestimmt in der öffentlichen Debatte die AfD Ton und Themen, haben sich Parteien ihre Sprache angeeignet. Und manche Gegenreflexe von links sind gleichermaßen undifferenziert und stark emotional.
»Etwas zu wollen, ist das eine«, sagt Jakob Gatz, »aber man muss die Leute auch mitnehmen.« Eine demokratische und pluralistische Gesellschaft muss Widersprüche akzeptieren. Wer ihren Prinzipien folgt, muss aushalten können, dass andere Menschen andere Meinungen haben. Man darf nicht aufhören, miteinander zu reden, davon ist Jakob Gatz überzeugt. Die Sorgen der Menschen ernst nehmen – und stets, auch wenns unangenehm wird, Menschlichkeit und Demokratie verteidigen.
Was müsste sich ändern in seiner Partei oder bei FFF? »Die Strukturen müssen offener werden«, erwidert Jakob sofort. »Neue Mitglieder sollen das Gefühl haben: Du kannst etwas bewegen.« Dann lacht er und sagt: »Meine Mutter fragt mich ständig: ›Willst du dich wirklich in dieser Partei weiter engagieren? Du erreichst doch sowieso nichts!‹«.
Das sieht Jakob Gatz anders. Zurzeit ist er dabei, in der GJ eine bundesweite Vernetzung für Azubis und Menschen mit Berufsausbildung aufzubauen. So will er der AfD, die für sich in Anspruch nimmt, auf Bodenständigkeit, Handwerk und praktische Erfahrung zu setzen, den Wind aus den Segeln nehmen.
Der Text erscheint als Teil 3 der Reihe »Mittendrin – literarische Perspektiven auf unsere Gesellschaft«, die der Thüringer Literaturrat e.V. 2025 mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen durchführt.
Der Thüringer Literaturrat dankt der Thüringischen Landeszeitung für den Abdruck der Reihe.
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