Jens-Fietje Dwars – »Wie ich den Kommunismus verlor«

Personen

Jens-Fietje Dwars

Ulrike Müller

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrike Müller

Alle Rechte liegen bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Ulrike Mül­ler

Zwei­mal lesen!

 

Die­ser kom­pakte Erzähl­band kreist – in den Wor­ten des Autors – um „ein klei­nes Land, das sich mit drei gro­ßen Buch­sta­ben trot­zig in der Welt zu behaup­ten suchte“, um die Geschichte(n), den Ver­bleib und Neu­be­ginn sei­ner Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner nach dem Ende der DDR. In den Geschich­ten aus der alten Welt (Teil 1) und der neuen Welt (Teil 2) –„erfun­den und erlebt zugleich“ – geht es um die Span­nungs­be­züge von Wahr­heit und Lüge, Wirk­lich­keit und Kli­schee, erzählt mit den dich­te­ri­schen Mit­teln von Fik­tion und „phan­tas­ti­scher Genau­ig­keit“ (Franz Füh­mann), haf­tend an der Erin­ne­rung, in die die Gegen­wart hin­ein­ge­zo­gen wird – und umgekehrt.

Es wäre über­aus schade, diese Texte nur ein ein­zi­ges Mal zu lesen: Denn dann könnte sich der Ein­druck ver­fes­ti­gen, die Hel­den der Arbeit seien unter dem Druck des Iden­ti­täts­ver­lusts zu Hel­den des Schei­terns prä­de­sti­niert; ihre Hal­tun­gen, Hand­lun­gen und deren Resul­tate erschie­nen allein als absurd, tra­gisch, nich­tig – in ihrer Aus­sichts­lo­sig­keit fast so grau­sam wie in Kaf­kas Para­bel Vor dem Gesetz. Dabei wir­ken diese Men­schen zugleich als Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren für das ver­lo­ren gegan­gene WIR: So war unser Leben. War es wirk­lich so? In dem geschil­der­ten Män­ner- all­tag mit sei­nen gro­ben Arbeits‑, schmud­de­li­gen Erpressungs‑, öden Fei­er­abend-Sze­nen zwi­schen Befeh­len, Gehor­chen, Angst, Grau­sam­keit, Gleich­gül­tig­keit, Selbst­be­trug, ver­zwei­fel­ter Ego­zen­trik kom­men die Hoff­nung auf Glück oder der schein­bar beschei­dene Wunsch „dass die Men­schen in Frie­den leben“ erst ein­mal gna­den­los unter die Räder. Pro­vo­ka­tion des Autors? Rea­li­tät? Hat­ten und hät­ten Frauen, Kin­der, Gäste, Außen­ste­hende andere, posi­ti­vere Erin­ne­run­gen und Per­spek­ti­ven? Immer­hin holt der Autor in die­ses end­zeit­li­che Vakuum eine Akteu­rin zur Ret­tung der Wahr­heit hin­ein: die Frau, die nicht lügen kann. In ihrer ethi­schen Posi­tion und Welt­ferne ein wenig an Schil­lers „Johanna“ erin­nernd und wie diese am Ende unter­lie­gend, setzt sie mit ihren uto­pi­schen Fun­ken still und beharr­lich immer­hin den his­to­ri­schen Scheiter=Haufen in Brand.

Die ver­läss­lichste Kon­stante auf dem expe­ri­men­tel­len Ter­rain die­ser Erzäh­lun­gen ist die kraft­volle, bild­rei­che, und auch immer wie­der nach­denk­li­che Spra­che des Erzäh­lers Jens-Fietje Dwars, mit der er auch die Brü­cken zwi­schen alter und neuer Welt baut. Das Fest­hal­ten, Los­las­sen, Ver­wei­gern, Schei­tern, Aus­pro­bie­ren lässt er in gewohn­ten und neuen Wort­fel­dern zwi­schen Dia­lek­tik und VEB Mon­ta­ge­bau, Cool­ness und Auto­ma­tik­uhr mit Puls­mes­sung zir­ku­lie­ren. In der neuen Welt agie­ren die Men­schen nicht weni­ger grau­sam, bedür­fen nicht min­der der Erlö­sung. Doch treibt die Aus­ein­an­der­set­zung mit den ver­än­der­ten Lebens­per- spek­ti­ven, trei­ben neue Chan­cen, ihre Hand­lun­gen voran: So strei­fen in einer Geschichte zwei Frauen die besitz­an­zei­gen­den Fremd- und Selbst­bil­der als „Traum­frauen“ ihrer Part­ner ab und öff­nen mit tän­ze­ri­scher Leich­tig­keit Räume für einen neuen Lebens- und Lie­bes­ver­such. In einer ande­ren Geschichte lässt sich der Ich-Erzäh­ler, ein men­schen­scheuer, an sich zwei­feln­der Schrift­stel­ler, von einem jun­gen Mann wider­stre­bend in ein Gespräch zie­hen; der erin­nert ein wenig an Dos­to­jew­skis Roman­ge­stalt Der Idiot (ohne des­sen Tra­gik). In die­ser mys­ti­schen Kaf­fee­haus­be­geg­nung trifft der Autor am Ende über­ra­schend auf Gott, der doch im Kom­mu­nis­mus ver­lo­ren gegan­gen war. – Bei mehr­fa­chem Lesen wer­den die hand­ge­schnitz­ten Prot­ago­nis­ten der alten Welt, unge­ach­tet ihrer äußer­li­chen Erfolg­lo­sig­keit mit ihren Eigen­hei­ten, Lebens­um­stän­den, Gren­zen und (ver­ei­tel­ten) Mög­lich­kei­ten als Men­schen immer inter­es­san­ter. „Abschiede, sagt der Bri­ga­dier, seien nicht ihre Stärke“, und bringt mit die­sem ein­fa­chen Satz die Iden­ti­täts­pro­ble­ma­tik einer gan­zen Genera­tion auf den Punkt. Ein Kon­ti­nuum aber bleibt bei­den Wel­ten erhal­ten (erste und letzte Erzäh­lung im Buch): der unsicht­bare Raum unter dem Boden der Tat­sa­chen, Flucht- und Auf­ent­halts­ort des schrei­ben­den Nar­ren, des Kin­des, des unbe­lehr­ba­ren Glücks- und Wahr­heits­su­chers. Dort hockt er selig zwi­schen den Abfall­pro­duk­ten der Geschichte und dem Nach=Denken über sie und sich, zwi­schen dem Wunsch zu ver­schwin­den und dem stand­zu­hal­ten, „war­tend auf die Strö­mung, die uns erlöst.“

 

Jens‑F. Dwars, Wie ich den Kom­mu­nis­mus ver­lor. Erzäh­lun­gen, Weiße Reihe, Bd. 25, quar­tus-Ver­lag Bucha 2024,  178 S., br., 18 EUR

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