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Ulrike Müller
Alle Rechte liegen bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Ulrike Müller
Zweimal lesen!
Dieser kompakte Erzählband kreist – in den Worten des Autors – um „ein kleines Land, das sich mit drei großen Buchstaben trotzig in der Welt zu behaupten suchte“, um die Geschichte(n), den Verbleib und Neubeginn seiner Bewohnerinnen und Bewohner nach dem Ende der DDR. In den Geschichten aus der alten Welt (Teil 1) und der neuen Welt (Teil 2) –„erfunden und erlebt zugleich“ – geht es um die Spannungsbezüge von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Klischee, erzählt mit den dichterischen Mitteln von Fiktion und „phantastischer Genauigkeit“ (Franz Fühmann), haftend an der Erinnerung, in die die Gegenwart hineingezogen wird – und umgekehrt.
Es wäre überaus schade, diese Texte nur ein einziges Mal zu lesen: Denn dann könnte sich der Eindruck verfestigen, die Helden der Arbeit seien unter dem Druck des Identitätsverlusts zu Helden des Scheiterns prädestiniert; ihre Haltungen, Handlungen und deren Resultate erschienen allein als absurd, tragisch, nichtig – in ihrer Aussichtslosigkeit fast so grausam wie in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz. Dabei wirken diese Menschen zugleich als Identifikationsfiguren für das verloren gegangene WIR: So war unser Leben. War es wirklich so? In dem geschilderten Männer- alltag mit seinen groben Arbeits‑, schmuddeligen Erpressungs‑, öden Feierabend-Szenen zwischen Befehlen, Gehorchen, Angst, Grausamkeit, Gleichgültigkeit, Selbstbetrug, verzweifelter Egozentrik kommen die Hoffnung auf Glück oder der scheinbar bescheidene Wunsch „dass die Menschen in Frieden leben“ erst einmal gnadenlos unter die Räder. Provokation des Autors? Realität? Hatten und hätten Frauen, Kinder, Gäste, Außenstehende andere, positivere Erinnerungen und Perspektiven? Immerhin holt der Autor in dieses endzeitliche Vakuum eine Akteurin zur Rettung der Wahrheit hinein: die Frau, die nicht lügen kann. In ihrer ethischen Position und Weltferne ein wenig an Schillers „Johanna“ erinnernd und wie diese am Ende unterliegend, setzt sie mit ihren utopischen Funken still und beharrlich immerhin den historischen Scheiter=Haufen in Brand.
Die verlässlichste Konstante auf dem experimentellen Terrain dieser Erzählungen ist die kraftvolle, bildreiche, und auch immer wieder nachdenkliche Sprache des Erzählers Jens-Fietje Dwars, mit der er auch die Brücken zwischen alter und neuer Welt baut. Das Festhalten, Loslassen, Verweigern, Scheitern, Ausprobieren lässt er in gewohnten und neuen Wortfeldern zwischen Dialektik und VEB Montagebau, Coolness und Automatikuhr mit Pulsmessung zirkulieren. In der neuen Welt agieren die Menschen nicht weniger grausam, bedürfen nicht minder der Erlösung. Doch treibt die Auseinandersetzung mit den veränderten Lebensper- spektiven, treiben neue Chancen, ihre Handlungen voran: So streifen in einer Geschichte zwei Frauen die besitzanzeigenden Fremd- und Selbstbilder als „Traumfrauen“ ihrer Partner ab und öffnen mit tänzerischer Leichtigkeit Räume für einen neuen Lebens- und Liebesversuch. In einer anderen Geschichte lässt sich der Ich-Erzähler, ein menschenscheuer, an sich zweifelnder Schriftsteller, von einem jungen Mann widerstrebend in ein Gespräch ziehen; der erinnert ein wenig an Dostojewskis Romangestalt Der Idiot (ohne dessen Tragik). In dieser mystischen Kaffeehausbegegnung trifft der Autor am Ende überraschend auf Gott, der doch im Kommunismus verloren gegangen war. – Bei mehrfachem Lesen werden die handgeschnitzten Protagonisten der alten Welt, ungeachtet ihrer äußerlichen Erfolglosigkeit mit ihren Eigenheiten, Lebensumständen, Grenzen und (vereitelten) Möglichkeiten als Menschen immer interessanter. „Abschiede, sagt der Brigadier, seien nicht ihre Stärke“, und bringt mit diesem einfachen Satz die Identitätsproblematik einer ganzen Generation auf den Punkt. Ein Kontinuum aber bleibt beiden Welten erhalten (erste und letzte Erzählung im Buch): der unsichtbare Raum unter dem Boden der Tatsachen, Flucht- und Aufenthaltsort des schreibenden Narren, des Kindes, des unbelehrbaren Glücks- und Wahrheitssuchers. Dort hockt er selig zwischen den Abfallprodukten der Geschichte und dem Nach=Denken über sie und sich, zwischen dem Wunsch zu verschwinden und dem standzuhalten, „wartend auf die Strömung, die uns erlöst.“
Jens‑F. Dwars, Wie ich den Kommunismus verlor. Erzählungen, Weiße Reihe, Bd. 25, quartus-Verlag Bucha 2024, 178 S., br., 18 EUR
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