Joachim Zelter – »Der Ministerpräsident«

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Dietmar Jacobsen

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Dietmar Jacoben

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Diet­mar Jacobsen
 
Poli­tik hat kein Zuhause
Joa­chim Zel­ters scharf­sin­nige Satire „Der Minis­ter­prä­si­dent“ fragt nach Moral und Anstand hin­ter den Kulis­sen der Macht

 

Am Neu­jahrs­tag 2009 um 14.45 Uhr gerät die Welt des dama­li­gen Thü­rin­ger Minis­ter­prä­si­den­ten Die­ter Alt­haus aus den Fugen. Der 51-Jäh­rige, der auch die­sen Jah­res­wech­sel wie­der im Ski­ur­laub in der Stei­er­mark fei­ert, kol­li­diert bei einer Abfahrt mit einer slo­wa­ki­schen Urlau­be­rin. Nur weil er einen Helm trägt, über­lebt er mit einem Schä­del-Hirn-Trauma und diver­sen Brü­chen. Die Slo­wa­kin stirbt auf dem Trans­port ins Kran­ken­haus. Ein gericht­li­ches Gut­ach­ten gibt Alt­haus die Schuld. Die öster­rei­chi­sche Jus­tiz nimmt Ermitt­lun­gen wegen fahr­läs­si­ger Tötung auf. Als der Poli­ti­ker Tage spä­ter aus dem Koma geholt und zur wei­te­ren Behand­lung nach Jena gebracht wird, hat er keine Erin­ne­run­gen mehr an den Unfall. Ein Schuld­ein­ge­ständ­nis ohne Gegen­dar­stel­lung soll die juris­ti­sche Beschäf­ti­gung mit dem  Fall beschleu­ni­gen. Denn ein paar Monate spä­ter sind in Thü­rin­gen Land­tags­wah­len. Und die will er gewin­nen. Allein dar­aus wird nichts.

Ein knap­pes Jahr spä­ter legte der 1962 gebo­rene Schrift­stel­ler Joa­chim Zel­ter den Roman „Der Minis­ter­prä­si­dent“ vor. Auch sein Titel­held ver­un­fallt, wenn auch nicht auf der Ski­piste. Auch er lan­det im Koma. Auch er erwacht dar­aus, frei­lich als ein ande­rer. Auch ihm ste­hen Wah­len bevor, für die ihn seine engs­ten Bera­ter wie­der fit machen wollen.

Aber natür­lich geht es in Zel­ters Roman nicht vor­der­grün­dig um den Ski-Unfall des Thü­rin­ger Minis­ter­prä­si­den­ten. Auch wenn gewisse Par­al­le­len nicht von der Hand zu wei­sen sind und der Autor mehr als ein­mal durch­bli­cken ließ, dass die Ereig­nisse vom 1. Januar 2009 ihn durch­aus zu sei­ner klei­nen Polit­sa­tire inspi­rier­ten. Aber ein „Alt­haus-Roman“? Viel­leicht gar noch „auf Tat­sa­chen beru­hend“? Das wäre denn doch nicht genug für einen ambi­tio­nier­ten, gleich­wohl deutsch­land­weit noch immer zu wenig bekann­ten Autor.

Der Minis­ter­prä­si­dent erin­nert des­halb nur an den aktu­el­len Fall eines in die Bre­douille gera­te­nen Spit­zen­po­li­ti­kers. Ansons­ten darf man die­ses Buch wohl über weite Stre­cken als sati­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der zuneh­mend hin­ter media­len Insze­nie­run­gen ver­schwin­den­den­den „Echt­heit“ des Mühens der poli­ti­schen Kaste unse­rer Tage ver­ste­hen. Und in die­ser Funk­tion ist es tat­säch­lich ein klei­nes, auch sprach­lich bemer­kens­wer­tes Juwel – wenn schon nicht ganz aus‑, so doch zumin­dest wun­der­voll weitergedacht.

Was ist pas­siert? Der Minis­ter­prä­si­dent eines deut­schen Bun­des­lan­des – geo­gra­fisch Modell stand wohl Zel­ters baden-würt­tem­ber­gi­sche Hei­mat – hat einen Auto­un­fall gehabt. Nach zehn­tä­gi­gem Koma erwacht er wie­der in der Kli­nik Hei­li­gen­berg im Hoch­schwarz­wald. Erin­nern kann er sich an das Gesche­hene nur teil­weise. Sein Name – Dr. Claus Urspring – kommt ihm vor wie aus einem Traum. Seine Frau ist ihm fremd, sein Leben in der Rück­schau nicht mehr als ein Laby­rinth. Haupt­säch­lich scheint der Mann aus Lücken zu bestehen: „Namens­lü­cken, Freun­des­lü­cken, Fami­li­en­lü­cken, Berufs­lü­cken, Land­schafts­lü­cken, Erin­ne­rungs­lü­cken, Wortlücken“.

Allein die Zeit eilt. Bald schon ste­hen Land­tags­wah­len auf der Tages­ord­nung und Ursprings Par­tei­freunde wol­len ver­hin­dern, dass sich ihr Spit­zen­kan­di­dat bei sei­nen Ver­an­stal­tun­gen als ver­gess­li­cher Trot­tel erweist. Zu stark ist die Oppo­si­tion um den elo­quen­ten Oskar Saar (!) und auch in den eige­nen Rei­hen mel­den Kon­kur­ren­ten ihre Ambi­tio­nen an. Des­halb ver­sucht man hin­ter den Mau­ern des „trau­ma­to­lo­gi­schen Schwer­punkt­kran­ken­hau­ses der Maxi­mal­ver­sor­gung“ alles, um den pro­mi­nen­ten Pati­en­ten wie­der auf Kurs zu bekom­men. Fliegt Sprach- und andere Trai­ner ein, fälscht Inter­views und bos­selt an Home­sto­rys, die auf den „mensch­li­chen Aspekt“ eines mit sei­ner Ver­gan­gen­heit rin­gen­den Man­nes abhe­ben. Denn es geht schließ­lich nicht nur um das wei­tere Schick­sal einer beschä­dig­ten Vor­zei­ge­fi­gur, son­dern auch um die Zukunft jener, die Tag und Nacht am Öffent­lich­keits­bild die­ser Figur arbeiten.

Nur haben der Unfall und die mit ihm ver­bun­dene Teilamne­sie Urspring eben ver­än­dert. Nichts nimmt der Mann plötz­lich mehr als gege­ben hin. Alles hin­ter­fragt er in bei­nahe schon kind­li­cher Manier. Weit weg sind die Phra­sen, die er immer gedro­schen hat wie ein Poli­tik-Auto­mat. Len­ken lässt er sich kaum noch. Über Nacht scheint eine andere Per­sön­lich­keit von ihm Besitz ergrif­fen zu haben – eine, die stets zuerst das „Warum“ inter­es­siert, ehe sie han­delt oder spricht. Die nicht mehr Rol­len spielt, son­dern auf Authen­ti­zi­tät bedacht ist. Und die sich nach und nach von den Fäden befreit, an denen sie bis vor den Unfall wie eine Mario­nette zap­pelte. Anders aus­ge­drückt: Lese­rin­nen und Leser erle­ben – sich dabei wun­der­bar amü­sie­rend – die Mensch­wer­dung eines Voll­blut­po­li­ti­kers, etwas vom Poli­tik­be­trieb ganz und gar nicht Vor­ge­se­he­nes. Aber auch ein klei­nes Wun­der, das sich frei­lich für all die, die bis­her leich­tes Spiel mit dem Mann hat­ten, eher als Hin­der­nis für des­sen wei­tere Ver­mark­tung herausstellt.

Im Buch ist es der rund um die Uhr für sei­nen Chef zustän­dige Bera­ter Julius März, dem die neuen Sei­ten des alten Minis­ter­prä­si­den­ten zuneh­mend um den Schlaf brin­gen. Als die  heim­li­che Haupt­fi­gur des Romans, ein Königs­ma­cher, des­sen Ein und Alles Umfra­ge­werte dar­stel­len, lässt er seit Jahr und Tag genau jene Reden für Urspring schrei­ben, mit denen der nir­gendwo anecken kann: „Nichts­sa­gende Reden. Feh­ler­ver­mei­dungs­re­den. Aus­sa­ge­ver­wei­ge­rungs­re­den. Beknie­ungs­re­den. Reden ohne irgend­ei­nen erkenn­ba­ren Gedanken.“

Nun aber muss er um sei­nen lukra­ti­ven Pos­ten fürch­ten und erle­ben, wie sich der Nach­plap­pe­rer von einst ein ganz neues Voka­bu­lar erar­bei­tet. Sogar Ursprings Dia­lekt, so über­aus nütz­lich, wenn es darum ging, ihn als einen aus der Mitte des Vol­kes zu prä­sen­tie­ren, ist über Nacht ver­schwun­den. Statt Mund­art spricht der Mann plötz­lich Tacheles.

Poli­tik als bis in den all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch hin­ein gere­gel­ter Zir­kus, als Zau­ber­kunst­stück, mit des­sen Hilfe man aus einem Nichts ein Etwas macht, als Auf­schmin­ken alles Äußer­li­chen, um über die feh­lende Sub­stanz hin­weg­zu­täu­schen – Zel­ter hat einen klu­gen Roman geschrie­ben, der in die Abgründe der Macht hin­ein­leuch­tet. Dort sehen die in den Medien glän­zen­den Gestal­ten dann ziem­lich blass aus.

Umso schö­ner, wenn einer von ihnen mal den Auf­stand probt. Den seine Hin­ter­män­ner letz­ten Endes, nur weil er nach sei­nem Unfall unvor­teil­haft ein Bein nach­zieht, auf einem Renn­rad unter die Wäh­ler schi­cken. Bis er eines Tages ein­fach wei­ter­fährt. Und fährt und fährt und fährt. Doch Zel­ter lässt ihn nicht ent­kom­men hin­ter die sie­ben Berge und viel­leicht in ein neues Leben. Schließ­lich hat er mit Der Minis­ter­prä­si­dent eine Satire vor­ge­habt und nicht das Mär­chen vom Hans im Glück auf­po­lie­ren wol­len. Der kri­ti­sche Blick des Buches auf jene, die inzwi­schen in noch mehr Talk­shows, auf noch mehr Kanä­len und mit noch mehr Bera­tern im Hin­ter­grund Poli­tik machen, lässt es jeden­falls auch in unse­ren Tagen noch aus­ge­spro­chen aktu­ell und lesens­wert erscheinen.

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