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Jens-F. Dwars
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum, Heft 1/2024.
Jens‑F. Dwars
Fluchtpunkte der Fantasie
Brecht hielt Erkennen für etwas, das Genuss bereiten sollte, höchsten sogar. Freilich muss es dann auch in einer Art und Weise geschehen, die man genießen kann. Es muss Spaß machen, unterhaltsam sein statt belehrend, aufbauend statt einschüchternd.
Dass auch Literaturwissenschaft all dies vermag, beweist das neue Buch von Gerhard R. Kaiser, bis 2008 Professor an der Jenaer Universität. Er sichtet nicht platt die realen Ortschaften, an denen Autoren ihre literarischen Texte verfasst haben, sondern sucht in eben diesen Texten nach den imaginären Orten, an denen sie ihr Schreiben im Werk verorten. So entsteht eine Literaturgeschichte des inneren Lebens, eine Landkarte literarischer Ursprungslandschaften, Fanatsiegebäude aus Träumen und Alpträumen.
Rousseau verortet sich auf einer Robinsoninsel, Jean Paul in einem Stubennest, Flaubert als Einsiedler in der Wüste, Nietzsche auf Eiseshöhen, Hofmannsthal im verborgenen Winkel unter der Haustreppe, Walser in einem Zimmer mit Schimmelwänden, Proust im Elfenbeinturm, Kafka im tiefsten Keller, Bernhard in der Sterbekammer, Brecht in einem Haus mit vier Türen, durch die er jederzeit fliehen kann.
Das ist klug und anregend, bringt jedoch dort weniger neue Einsichten, wo die imaginären allzu sehr den gelebten Orten gleichen, wie bei Baudelaire, der in Dichtung und Leben Mansarden über den Dächern von Paris liebte.
Das Fazit des Buches könnte lauten: Schriftsteller brauchen die Abschottung vom Leben, je dichter, desto besser ihre Texte. Aber droht da nicht eine Tautologie, beweist der Verfasser nicht, was er voraussetzt? Einen bestimmten Typus von Autoren. Gibt es nicht auch andere, die in Caféhäusern schreiben oder an anderen Orten des brodelnden Lebens? Real und imaginär?
Und etwas stört doch beim Lesen: die Texte französischer Autoren werden im Fließtext seitenlang zitiert und in Fußnoten übersetzt. Hätten Sie das auch bei Russen oder Chinesen getan, Herr Professor?
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