Peter Wensierski – »Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk«

Person

Dietmar Jacobsen

Ort

Jena

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum. Literarisches Journal für Thüringen, 2/2023.

Diet­mar Jacobsen

Der Fall Mat­thias Domaschk

 

Wie ein Kri­mi­nal­ro­man liest sich Peter Wen­sier­skis Rekon­struk­tion der letz­ten Tage des am 12. April 1981 in der MfS-Unter­su­chungs­haft­an­stalt Gera unter bis heute noch unge­klär­ten Umstän­den ums Leben gekom­me­nen Mat­thias Domaschk. Domaschk, 1967 in Gör­litz gebo­ren, lebte ab Dezem­ber 1970 in Jena. Dort geriet er bereits Mitte der 1970er Jahre in den Fokus jener staat­li­chen Organe, die damit beauf­tragt waren, den auto­ri­tä­ren Macht­ap­pa­rat der DDR um jeden Preis zu stützen. Als er sich zusam­men mit sei­nem Freund Peter Rösch am Frei­tag, dem 10. April 1981, mit dem Schnell­zug D 506 zu einer Geburts­tags­feier nach Ber­lin auf­machte, schrill­ten bei den Jenaer Staats­si­cher­heits­be­am­ten die Alarm­glo­cken. Denn zur glei­chen Zeit berei­tete man in Ber­lin die Absi­che­rung des vom 11. bis zum 16. April statt­fin­den­den 10. Par­tei­tags der SED gegen even­tu­elle Stör­ma­nö­ver aus den Rei­hen der Oppo­si­tion vor.

Jena-Para­dies voll­zieht mit gro­ßer Genau­ig­keit nach, was zwi­schen Frei­tag, dem 10. April 1981, und Sonn­tag, dem 12. April 1981, geschah. Als Leser sitzt man mit den bei­den Jugend­li­chen im Zug, spürt die sich stei­gernde Beun­ru­hi­gung in der Kreis­dienst­stelle Jena des MfS – schließ­lich will dort nie­mand vor den Genos­sen in Gera und Ber­lin als Ange­hö­ri­ger einer Abtei­lung daste­hen, die sich von der Oppo­si­tion auf der Nase her­um­tan­zen lässt –, erlebt, wie Rösch und Domaschk am Bahn­hof Jüterbog von der Trans­port­po­li­zei aus dem Zug geholt und nach vie­lem Hin und Her mit einem Bar­kas B1000 der Deut­schen Volks­po­li­zei am Abend des 11. April schließ­lich von Jüterbog in die MfS-Unter­su­chungs­haft­an­stalt Gera überführt wer­den. Es ist der Ort, an dem Mat­thias Domaschk nach einem Ver­hör gegen 14 Uhr am Tag danach erhängt auf­ge­fun­den wer­den wird.

Wen­sier­ski hat für sein Buch mit mehr als 160 Zeit­zeu­gen – dar­un­ter 30 ehe­ma­li­gen MfS-Mit­ar­bei­tern – gespro­chen und ca. 60.000 Sei­ten Akten­ma­te­rial in meh­re­ren Archi­ven durch­ge­se­hen und aus­ge­wer­tet. Ent­stan­den ist ein roman­haft ange­leg­ter Bericht über die letz­ten drei Tage im Leben eines noch nicht ganz vier­und­zwan­zig­jäh­ri­gen Men­schen, der auf der Suche nach sich selbst und einer lebens­wer­ten Alter­na­tive zum streng regle­men­tier­ten Dasein jedes Ein­zel­nen in einer Dik­ta­tur war. Indem der 1954 gebo­rene Autor, der seit 1979 als Jour­na­list und Doku­men­tar­fil­mer – u.a. für das ARD-Maga­zin Kon­traste und den Spie­gel – aus der DDR berich­tete, auch Domaschks Umfeld in seine Recher­chen mit ein­be­zieht, öff­net er den Blick auf eine ganze Genera­tion von unan­ge­pass­ten Jugendlichen.

Geschickt ver­steht es der Autor, in seine minu­tiös auf­ge­ar­bei­tete Chro­no­lo­gie jener drei Tage Rückblenden ein­zu­bauen, in denen die Leser mehr erfah­ren über die Jenaer Oppo­si­ti­ons­be­we­gung, ihre Ver­net­zung mit Kir­chen­krei­sen, der Musik­szene und links­ak­ti­vis­ti­schen Grup­pie­run­gen aus der Bun­des­re­pu­blik. Wie radi­kal von Sei­ten des Staa­tes mit Men­schen umge­gan­gen wer­den konnte, die auf der Suche nach Frei­heit und neuen Wer­ten waren, machen vor allem jene Sei­ten deut­lich, auf denen der bru­tale Poli­zei­ein­satz gegen junge Frauen und Män­ner bei einer Ver­lo­bungs­feier in der Jenaer Szene am 18. Januar 1975 geschil­dert wird. Nicht zuletzt gilt Wen­sier­skis Inter­essse aber auch all jenen, die sich an der Auf­recht­erhal­tung jenes sich „sozia­lis­tisch“ nen­nen­den Sta­tus quo betei­lig­ten, einem Per­so­nen­kreis, der weit über die Ange­hö­ri­gen des Unterdrückungsapparates der Staats­si­cher­heit hin­aus­ging. Denn ohne den Rückhalt bei staat­li­chen Insti­tu­tio­nen, Ver­wal­tun­gen, Schu­len, Poli­zei, Armee und gesell­schaft­li­chen Ver­bän­den aller Art wäre die Stasi „eigent­lich macht­los gewe­sen“, hat Peter Wen­sier­ski in einem Inter­view, in dem er seine Recher­che­ar­beit schil­derte, betont.

Mit dem Tod von Mat­thias Domaschk lässt der Autor seine Geschichte nicht enden. Denn Die Tage danach und Die Jahre danach, wie die letz­ten bei­den Buch­teile überschrieben sind, haben es eben­falls ver­dient, in Erin­ne­rung geru­fen zu wer­den. Weil gerade der Fall Domaschk die Wider­stands- und Pro­test­be­we­gung in Jena noch stär­ker und radi­ka­ler wer­den ließ als zuvor. Und auch die Erin­ne­rung an einen, des­sen Urne man has­tig unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit im Grab der älte­ren Schwes­ter bei­setzte, stirbt nicht. Lie­der erin­nern an ihn, Trau­er­an­zei­gen erschei­nen in ört­li­chen Zei­tun­gen am ers­ten Jah­res­tag sei­nes Todes, eine Gedenk­skulp­tur des Bild­hau­ers Michael Blum­ha­gen steht vier Tage auf dem Johan­nis­fried­hof, bis sie von der Stasi ent­fernt wird.

Peter Wen­sier­ski hat sei­nem Buch ein infor­ma­ti­ves Nach­wort sowie ein Abkürzungsverzeichnis und ein Ver­zeich­nis der Vor- und Spitz­na­men jener Jenaer oppo­si­tio­nel­len Män­ner und Frauen bei­gege­ben, die in sei­nem Bericht auf­tre­ten. Auf mehr als 30 Sei­ten doku­men­tiert er das kurze Leben des Mat­thias Domaschk mit über 50 Foto­gra­fien. Sie zei­gen Domaschk mit einem meist erns­ten, gele­gent­lich etwas ver­schmitzt wir­ken­den Gesicht, offen und wiss­be­gie­rig, aber immer ohne Arg.

 

  • Peter Wen­sier­ski Jena-Para­dies. Die letzte Reise des Mat­thias Domaschk. Ch. Links Ver­lag Ber­lin 2023, 365 S., geb., 25 EUR.
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