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Jens-Fietje Dwars
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum 1/22.
Jens‑F. Dwars
Zu Gast beim letzten Romantiker
Das »Atelier« von Gerhard Altenbourg
Er war und ist wohl noch immer der berühmteste Unbekannte unter den Malern und Zeichnern des 20. Jahrhunderts: Gerhard Ströch, der sich seit Mitte der 1950er Jahre Altenbourg nannte. Selbst in der Stadt, deren Namen er in französierender Form übernahm, werden Sie kaum einem Passanten begegnen, der Ihnen Auskunft über den einstigen Mitbürger geben könnte. Auch nicht in Erfurt, der Hauptstadt seines »Hügelgaus« Thüringen. Nicht in der Kunststadt Dresden, noch weniger in Berlin und erst recht nicht in Paris, London oder New York. Dass sich im dortigen MoMa seit 1961 die große Altenbourg-Zeichnung Garten an der Spinnbahn (1956) befindet, wird zwar gern als Zeichen seiner internationalen Anerkennung in Aufsätzen und Büchern über den Künstler beschworen, ist aber schlicht nur der Geschäftstüchtigkeit des Westberliner Galeristen Rudolf Springer zu verdanken.
Die Arbeiten des späten Altenbourg sucht man vergeblich in den großen Museen und Galerien der Welt. Das spricht nicht gegen die Qualität seiner Blätter, ist vielmehr ein beredtes Zeugnis für die Blindheit des um sich selbst kreisenden Kunstbetriebes. Für kurze Zeit geriet Altenbourgs eigenartige Bildwelt, die mit nichts in der DDR zu vergleichen war, im Herbst 89 in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und vielleicht stünde er heute im »Ranking« genannten Ausverkauf der Künste neben dem meistbezahlten Maler, der wohl doch nicht zufällig aus dem Osten stammt, wo es noch »um etwas ging«, wo man um Inhalte rang und nicht nur gefällige Formen für den Markt schuf. Doch Altenbourg starb im Dezember des Wende-Jahres an den Folgen eines Autounfalls und blieb ein Geheimtipp für Kunstliebhaber in Ost und West.
Nur am Rande sei erwähnt, dass der Palmbaum ihm 2014, zu seinem 25. Todestag, ein Heft gewidmet hat. Wer eine Einführung in Leben und Werk des Außenseiters sucht, der greife zu dem Heft, das auch dem Dichter Altenbourg gewidmet war. Nicht nur die Titel seiner Blätter sind reinste Lyrik, er selbst verstand sich anfangs als Schriftsteller und schrieb zeitlebens Gedichte, von denen 2019 eine Auswahl im Wallstein-Verlag erschienen ist: Wald minotaurisch (Vgl. Palmbaum 2/19).
Anneliese Ströch, die Schwester des Künstlers, hat dessen Nachlass bis zu ihrem Tod 2013 gehütet und vor allem ihr gemeinsames Wohnhaus im Braugartenweg 11 in dem Zustand bewahrt, in dem der Bruder es ihr übergab: als ein Gesamtkunstwerk. Die von ihr 2002 gegründete Stiftung Gerhard Altenbourg wird in den nächsten Jahren das Haus sanieren und den dazu gehörigen Garten rekonstruieren. Beides klingt einfacher als getan, denn beides spiegelt, ja vergegenständlicht, verkörpert die Eigenart des Künstlers auf eindrückliche, berührende, auch erschreckende Weise.
Eine Ahnung von dem, was es da zu erhalten und zu erschließen gilt, gibt ein Buch, das soeben mit Hilfe der 2018 gegründeten Gerhard Altenbourg Gesellschaft herausgegeben wurde: Ein Engel im Atelier. Zu Gast bei Gerhard Altenbourg. Der Autor Dieter Blume, 1994 bis 2018 Professor für Kunstgeschichte in Jena, beschreibt darin ein Zimmer des Hauses, das Altenbourg in Briefen sein »Atelier« nannte, obgleich er darin nie gearbeitet hat. Weder Staffelei noch Schreibtisch finden sich hier, denn es war sein Empfangsraum für Gäste.
Überzeugend und detailliert, geradezu mustergültig, erschließt der Kunsthistoriker den Raum als Bühne, auf der Altenbourg sich selbst, sein Selbstverständnis als Künstler, inszeniert hat. Alle Wände, auch Teile der Decke, sind bemalt. Da ist zunächst die Stirnwand, die der Eintretende zuerst erblickt. Geradeaus ein Eckfenster, links davon sieht man noch heute eine abstrakte Figur, die Blume treffend als Engel deutet. Er zitiert Briefe, die Altenbourg 1957, in der Entstehungszeit des Raumes, an Karl-Heinz Janda schrieb, vergleicht die Zeichnung mit den Engeln von Paul Klee und zitiert ein Buch von Hans Arp, das er in der Bibliothek des Künstlers fand: Unsern täglichen Traum (Zürich 1955). Da ist von einem »regenbogenfarbigen Engel« die Rede, als Essenz des Menschlichen, von pfauenfarbigen Räumen, in deren Tiefe hinabtauche, wer sich von den Fesseln der Vernunft befreie. Und bei René Char findet der Dechiffrierer einen Satz, den Altenbourg später, 1972 in einem Brief an Max Uhlig, wie eine Losung zitiert: »Das Einverständnis mit dem Engel, unsere dringendste Sorge.«
So rekonstruiert Blume den Engel als die Lichtgestalt, die Muse, die ihm durchs Fenster »zufliegt«, die den Künstler als »Engel der Unverfügbarkeit« begleitet, ihn ermutigt, seinen eigenen Weg zu gehen, in ein Licht hinein, in dem sich Innen und Außen berühren, einen Schwebezustand, in dem die festen Konturen der Dinge sich auflösen, die Wirklichkeit durchsichtig wird. Oder, wie es bei Novalis heißt: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.« An Novalis denkt Blume nicht, aber auch bei Altenbourg geht der Weg »nach innen«, um das Äußere zu erfassen, um es transparent zu machen: So wird die Erde auf seinen Landschaftszeichnungen durchsichtig bis in die Wurzelgründe.
An die Lichtseite grenzt im »Atelier« rechterhand eine Schattenseite: eine Wand, die in Grau- und Blautönen gehalten ist. Blume entdeckt darauf ein in Ocker und Weiß gestricheltes Phallus-Symbol, ein erotisch aufgeladenes Gipsrelief und die zarte Umrisszeichnung eines Paares. Zwei Pole geben sich zu erkennen: die »Lichtseite des Geistigen« und die Schattenseite des Trieblebens, dazwischen, darinnen eingespannt Altenbourg als »ein hochreflektierter Künstler« (S. 29), der seine Gäste auf dieser Bühne, in einem begehbaren Bild empfängt.
Die Besucher sahen während der Gespräche auf die der Schattenseite gegenüberliegende Wand, an der ein Triptychon ihre Aufmerksamkeit fesselte: drei Zeichnungen hingen nebeneinander, eingefaßt von einem breiten Goldrahmen. Auf den ersten Blick erscheinen nur Schemen aus frei geschwungenen Linien, mit Tusche, Aquarellfarben und Kreiden auf Papier gezeichnet, spontan, dynamisch, skizzenhaft hingewofen und mit rot überhöht. Im Nähertreten erst gewahrt das Auge Mikrostrukturen: feine und feinste Striche, Punkte, sorgsam, mit unendlicher Geduld und geradezu wahnhafter Präzision aufgetragen in der Altenbourgschen Tüpfeltechnik, die sich auch auf der Wandmalerei ringsum wiederfindet. Mikro und Makro durchdringen einander, eine Welt aus schier unendlich kleinen Welten breitet sich aus: eine gezeichnete Universalpoesie.
Wenn wir nun die Titel der drei Zeichnungen erfahren, sehen wir sie auch, als verdichte sich der Sinn zur sinnlichen Realität: links sitzt Eva, von Adam »erkannt«, als lockendes Gegenüber wahrgenommen, rechts hockt Herakles, die antike Verkörperung des Helden, hier fast unheldisch zerfließend, ein fragiles Gebilde dissonanter Kräfte, und in der Mitte der barmherzige Samariter, genauer gesagt: ein schattenhaft Bedürftiger, der sich auf den Helfenden stützt.
Blume deutet das Triptychon als Einheit der drei Grundthemen des Künstlers: Sinnlichkeit und Tatendrang, und dazwischen die verbindende Nächstenliebe – ein »humanistisches Programmbild« (S. 41). Und das Ganze des Raumes als »ein einzigartiges Dokument seiner künstlerischen Selbstfindung«. Nirgendwo sonst komme man Altenbourg so nah. Und an keinem zweiten Ort sei der intellektuelle Aufbruch der fünfziger Jahre, im Westen Informel, Auflösung der Form genannt, so »betretbar« (S. 60)wie hier.
Das alles klingt logisch und schlüssig, klug und lehrreich. Allein: wer die beigefügten Fotos der Wände genauer besieht, den beschleicht ein mulmiges Gefühl. Ist das nicht ein bißchen zu viel des Guten? Wirkt dieser Raum nicht arg überladen, in der Vielfalt der demonstrativ auf- und ausgestellten Formen geradezu stillos, manches gar nahe am – Kitsch?
Als ich mit Horst Hussel, in seiner Jugend ein Freund Gerhard Ströchs, im Frühjahr 2017 auf dieser Bühne stand, da verschlug es uns die Sprache. Das ist ja grauenvoll, suchte der 83jährige nach Worten, als wir eine Treppe empor stiegen, in das eigentliche Atelier: eine kleine, doch lichtdurchflutete Arbeitsstube mit einem Schreibtisch auf dem noch die Federn und Pinsel lagen, mit denen Altenbourg seine Zauberwelten erschuf, zarte Schichten auftragend, sich immer wieder unterbrechend, die halb fertigen Blätter vor sich auf eine Wäscheleine heftend, von der er sie nach Tagen, Wochen abnahm, wenn ihm das Begonnene fortsetzbar schien, wenn die reifende Form nach Vollendung rief.
Ja, sagte Hussel, von dem jahrelang ein kleines Bild in diesem Atelier hing, hier erkenn ich ihn wieder. Auch im Treppenaufgang gab es diesen Moment der Wiederbegegnung, wo er den Meister einst fotografiert hatte, vor einer sparsam bemalten, mit Farbe nur angehauchten Wand. Was war mit ihm geschehen, dass er dieses falsche »Atelier« so maßlos füllen musste, als treibe ihn ein horror vacui, als wolle er noch die letzte Steckdose, den letzten freien Zentimeter eines Tür- und Fensterrahmens mit winzigen Tüpfelpunkten übersäen, als sei er ein Gefangener, der die Wände seines Kerkers bemalt …?
Was sind die gelebten Gründe und Abgründe der Kunst? Wollen wir sie wirklich wissen, sie erfahren …?
(9.530 Z.)
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